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Vom Talmud zur Frankfurter Schule

Eine Korrektur falscher Vorstellungen von Vivien Liska

Nun möchte ich das Thema „Jüdisches Denken: Vom Talmud zur Frankfurter Schule“ beim Wort nehmen und über das Talmudische Gesetz und dessen Unterscheidung zwischen Halacha und Aggadah sprechen und diese mit den Betrachtungen über das Gesetz bei Kafka von Walter Benjamin – dem „Urvater“ der Frankfurter Schule – in Zusammenhang bringen. Es geht mir darin wesentlich um die Korrektur der althergebrachten Vorstellung vom Judentum als strenge Religion des Gesetzes im Gegensatz zur paulinischen Auffassung des Christentums als Religion der Liebe. So möchte ich zeigen, dass eine grundlegende Struktur des Talmud in die Voraussetzungen der Frankfurter Schule eingegangen ist.
Ich gehe von einer überraschenden Feststellung Benjamins in Bezug auf Kafka aus:

In einem Brief vom 11. 8. 1934 schreibt Benjamin an Scholem: Das Werk der Thora nämlich ist – wenn wir uns an Kafkas Darstellung halten – vereitelt worden. In Notizen zur Vorbereitung dieses Briefs, so Scholem in einer Fußnote der von ihm erstellten Ausgabe ihres Briefwechsels fügt Benjamin hinzu: „Und alles, was einst von Moses geleistet wurde, wäre in unserem Weltzeitalter nachzuholen.“
In seinem großen Aufsatz über Kafka zum 10. Jahrestag seines Todes und in seinem Schema zu seinem Vortrag „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ kann eine Erklärung für diese Behauptung gefunden werden.

Benjamin beschreibt die Welt von Kafkas Romanen als eine Sumpfwelt der Vorzeit, einer Zeit vor den mosaischen Gesetzen. Es ist eine Welt, in der „alle Kreaturen ohne Scheidewände durcheinander wimmeln, in denen Macht willkürlich herrscht und in dem ein Übermaß an arbiträren, unbekannten Gesetzen gerade zu Gesetzlosigkeit führt. Dieser Welt hat die Thora, mit ihren schriftlichen und offenbarten Gesetzen, Einhalt geboten. An ihren Reinheits- und Speisegesetzen ist – ex negativo – diese Sumpfwelt noch zu erkennen. Diese Kafkaeske Welt nennt Benjamin prophetisch: sie sagt die heutige Zeit voraus – wir sind mit Benjamin in den 30er Jahren, in denen er als Jude ganz besonders die reine Willkürherrschaft am eigenen Leibe erfährt. Die Thora, die vereitelt wurde, wäre demnach eine Alternative zu dieser Herrschaft.

Drei Portraets

Eine andere Stelle aus Benjamins Kafka Essay macht auf die Bedingungen unter denen die Thora tatsächlich eine solche positive Alternative darstellen würde, aufmerksam.  Benjamin vergleicht Kafkas Schriften mit der Haggada, der narrativen Komponente des Talmuds, die in einem komplexen Verhältnis zur Halacha, zum normativen Gesetz steht. Die Haggada, so Benjamin, bewirkt eine Verzögerung (die, indem sie „in ausführlichsten Beschreibungen sich verweilt, aus Hoffnung und Angst, die halachische Order könnte ihr zustoßen.)  Gemeinsam ist der Aggadah und Kafka Erzählungen Benjamin zufolge dieses Zögern, das den normativen Aspekt der Halacha vom Vollzug abhält. In einer auffallenden Formulierung bestimmt Benjamin das Verhältnis von Halacha und Aggada in einem etwas anderen, aber verwandten Verhältnis: „Kafkas Dichtungen sind Gleichnisse. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie sich die Haggadah der Halacha zu Füßen legt. Wenn sie sich gekuscht haben, dann heben sie eine mächtige Pranke gegen sie“.

Im Bild der mächtigen Pranke vereint Benjamin das Bild des kreativen Lebens mit einer Geste, die bedrohlich der Halacha, dem normativen Gesetz Einhalt gebietet: Es gibt Dimensionen des menschlichen Lebens, so scheint diese Geste zu sagen, in die das Gesetz nicht eindringen soll. Es ist das singuläre, kreatürliche Leben des einzelnen Individuums mit seiner spezifischen Geschichte und seinen Eigenheiten, dem ein strikt normatives, allgemeines Gesetz nicht gerecht werden kann. Daher sind Halacha und Haggada zusammenzuhalten, in ihrer Gegensätzlichkeit und Komplementarität: während die Halacha Ordnung gewährleistet, steht die Aggadah für den menschlichen Bezug ein.

Scholem weist Benjamin zu Recht darauf hin, dass nicht nur die Kafkaeske, sondern die Aggadah – und daher der Talmud - überhaupt so beschaffen sind. Wichtig ist dabei, dass die mächtige Pranke das Gesetz keineswegs zerschmettert, sondern es eben nur in seine Grenzen verweist.
Dieses Bild steht im Gegensatz – und auch dies ist überraschend – zu Gershom Scholem, der Benjamins Lob der Halacha als Abwendung der vorweltlichen Sumpfwelt widerspricht und das Gesetz hingegen „das absolut Konkrete“ nennt, das unvollziehbar ist. Hiermit nähert sich Scholem – der Kafka einen häretischen, antinomischen Kabbalisten nennt – der Paulinischen Auffassung, dass das jüdische Gesetz abgeschafft werden soll, weil es die Sünde notwendigerweise hervorruft, da das Gesetz nicht erfüllbar ist.

Wo allerdings Scholem – wie Paulus –  irrt, ist die Vorstellung einer Erfüllbarkeit des Gesetzes – wie es auch heißt Christus habe das Gesetz ein für allemal erfüllt. Das talmudische Gesetz gerade in seiner Konstellation von Halacha und Haggada kann und soll jedoch nicht erfüllt werden. Ihm kann nachgelebt werden – wie es auch heißt Tzedek, Tzedek Tirdof, du sollst der Gerechtigkeit nachstreben. Dies impliziert gerade, dass sie ebenso wenig endgültig innzuhaben ist wie Kafkas Mann vom Lande in seiner berühmten Parabel durch die Tür des Gesetzes kann. Diese Unerfüllbarkeit auf dieser, der menschlichen Welt, ist im Haggadischen Element enthalten, das eben zuweilen auch das Normative der Halacha unterwandert. So spricht Moshe Halbertal von einem der möglichen Paradigmen der Aggadah: diese habe zuweilen eine  subversive Rolle, die der Halacha ihre grundlegenden Grenzen zeigt („pointing out the law’s substantive limitations.“) Diese eher als die antinomische Funktion der Aggadah hat auch Benjamin im Sinn.

Die Erfüllung liegt nicht im menschlichen Bereich, sie ist erst im Gottesreich zu haben. Für die kreativen Vielfalt des Lebens zahlt der Mensch allerdings den Preis der vorherrschenden Ungerechtigkeit, wie es in Bereshit Rabah 49.20 heißt: „Wenn es seine Welt ist, die Du willst, dann ist erfüllte Gerechtigkeit unmöglich; und wenn Du erfüllte Gerechtigkeit willst, dann ist eine Welt nicht zu haben. (Talmud, Bereshit Rabba 49:20). Diese tief im Talmudischen angelegte Weisheit ist auch eine Prämisse Kafkas, Benjamins und nicht zuletzt der Frankfurter Schule: Das Unvollzogene, das Unvollkommene, das Fragmentarische und der Mangel weisen dialektisch auf die Notwendigkeit einer kommenden – sei’s messianischen, sei’s utopischen, sei’s transzendentalen Zukunft hin.

Diese Gerechtigkeit anzustreben  – im gleichzeitigen Bewusstsein, dass das Erfüllte eine Illusion, bzw. Ideologie oder falsches Bewusstsein ist,  liegt dem Talmud wie der Frankfurter Schule zugrunde. Ebenso wie die Gewissheit, dass das, was ist, wie es bei Adorno heißt – „auch anders sein könnte als so“. 

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