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Vergangenheit in der Gegenwart

Nachfahren von Schoah-Überlebenden betrachten das Leben ihrer Eltern und lassen damit tief in ihr eigenes blicken: Elkan Spiller und Michel Bergmann

Zum Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2009 übergab das Präsidium des Internationalen Lagerkomitees dem damaligen Bundestagspräsidenten in Berlin ein Manifest, in dem es unter anderen hieß: „Es schmerzt und empört uns sehr, heute feststellen zu müssen: Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt.“ Wie mit dem Vermächtnis der Holocaust-Überlebenden mehr und mehr umgesprungen wird, da kann einem schon angst und bange werden. Und da meine ich nicht all das, was einem dieser Tage ins Auge springt: antijüdische Schmierereien, Übergriffe auf offener Straße, zu denen sich Ewiggestrige, aber auch junge Rechtsradikale und Salafisten in seltener Einigkeit berufen fühlen. Mir bereiten Verharmloser, Ignoranten, die Besserwisser und gutmenschelnden Nutznießer kein geringeres Unbehagen. Ob es selbsternannte Künstler sind, die Stolpersteine vor ehemalige letzte Wohnadressen platzieren, unterschiedslos, ob damit an deportierte, ermordete Juden erinnert wird oder an deren knapp mit dem Leben davon gekommene Verwandten. Oder jemand in einer KZ-Gedenkstätte Gras sammelt, um daraus einen Grasmantel in Erinnerung an die einstige Häftlingskluft zu weben. Ob es hirnrissige Phantasien in pseudodokumentarischen Spielfilmen über Mengele oder Ferdinand Marian im Gewissenskonflikt wegen seiner Rolle in dem NS-Propaganda-Machwerk Jud Süß ist, dem man eine Frau mit jüdischem Hintergrund andichtet, weshalb sie mitsamt dem gemeinsamen Töchterchen auf Nimmerwiedersehen im KZ verschwindet. Man könnte die elende Liste ewig weiterführen. Nicht umsonst haben die Herausgeber der Dachauer Hefte, ­Wolfgang Benz und Barbara Distel, ihrem 25. und letzten Band im November 2009 den Titel Die Zukunft der Erinnerung gegeben. Und gleich im ersten Beitrag eine heikle Frage angeschnitten über „das erwartete Verstummens der Zeitzeugen“.

Was wird geschehen, wenn sie zu wenige und zu schwach sind, um Einhalt zu gebieten? Es wird neue, andere Erinnerungsformen geben, viele werden schwächeln, viele werden dem Anspruch nicht gerecht sein. Und ab und zu wird es Ausnahmen geben, die zeigen, wie Erinnerungskultur zeitgemäß und angemessen, einfühlsam und erhellend sein kann.

Ich hatte in letzter Zeit das Glück, zwei rühmliche Ausnahmen kennen zu lernen, einen Film und ein Buch, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Und doch eines gemeinsam haben, ihr Gespür für Humor, auch angesichts der traurigsten Tatsachen. Beide Schöpfer sind jüdisch – was ihnen einen wertvollen Insiderblick verschafft –, beide verstehen etwas von Dramaturgie da sie darin reiche Berufserfahrung besitzen.

Mein Schwärmen gilt ­Elkan Spiller, 1963 in Köln geboren, und Michel Bergmann, 1945 in einem Schweizer Internierungslager geboren. Spiller, der sein Studium in Berlin mit einer Arbeit über Antisemitismus in der TV-Informationsvermittlung abschloss, arbeitete als freier Autor für die ARD und die Deutsche Welle, lebte in New York, Tel Aviv und San Francisco. 2009 erntete er für seinen Kurzfilm Mama, L’chaim! auf über fünfzig Filmfestivals eine enorme Resonanz, gewann sogar den 1. Preis des Internationalen Kurzfilmwettbewerbs des Holocaust-Museums in Los Angeles. Den Stoff hatte er in nächster Nähe gefunden, in der Geschichte, wie sein sechzehn Jahre älterer Cousin Chaim Lubelski mit seinen Eltern umging, in ein jüdisches Altersheim in Belgien umzog, um der verwitweten Mutter Nechama nahe zu sein. Sieben Jahre begleitete Filmemacher Elkan ­Spiller seine Tante, die mit bitterem Humor über ihre Zeit im zum KZ Groß-Rosen gehörigen Außenlager Peterswaldau spricht, singt und hadert, und ihren Sohn. Im Vordergrund steht nicht der Holocaust, sondern der Alltag, in den immer wieder die Erinnerungen der Mutter an ihre verlorene Jugend in Sosnowicz, ihr vergebliches Ringen um eine gute Zukunft für ihre Kinder hineinschwingen. Was den Eltern widerfuhr, geht an den Kindern nicht spurlos vorbei. Ganz im Gegenteil: die Tochter stirbt viel zu früh, der Sohn Chaim, ein Schachgenie, ein talmid chacham, gottesfürchtiger Tramp wie abgebrannter Ex-Millionär, lebt als Einsiedler und nonkonformistischer Philantrop, der nichts auf gesellschaftliche Normen gibt, aber das Wort „Zedaka“, Nächstenliebe, ernst nimmt bis zur Selbstaufgabe. Er erträgt das Leben nur im Haschisch-Dauer-Nebel. Spiller durfte dem Sohn seiner Tante so nah wie kaum einer kommen. Beredetes, eigenwillig erzähltes, manchmal urkomisches Beispiel, wie die Traumata der Eltern in der zweiten Generation weiterwirken. Vor allem an Lotti, die vor ihrer Mutter starb, eine Katastrophe, die Sohn Chaim bis zum Schluss vor ihr zu verbergen wusste.

Idealismus liegt in der Familie. Für seinen Dokumentarfilm L’Chaim! – Auf das Leben, 93 berührende Minuten lang und diesen Sommer auf dem Münchner Filmfest hochgelobt, hat ­Elkan Spiller alles auf eine Karte gesetzt, alles, was ihm sein Vater hinterließ. Es bleibt ihm zu wünschen, dass ein Filmverleih sein zeitgeschichtliches Kleinod entdeckt und für ein breites Kinopublikum zugänglich macht.

Ein ganz anderes Kleinod ist die soeben im Arche Verlag erschiene Erzählung Alles was war von Michel Bergmann. Das Buch mit geschmackvollem rotem Einband ist nur 125 Seiten schmal, aber es hat mehr Gewicht als manche vielhundertseitige Familiensaga. Der Ich-Erzähler setzt sich auf ein Mäuerchen gegenüber seinem ehemaligen Zuhause und hängt Erinnerungen nach. Auf einmal wird die Haustür geöffnet, ein zehnjähriger Junge rennt los: „Ins Leben. Es ist sein Tag! Wie jeder Tag sein Tag ist.“ Mit wenigen Worten wird eine kindliche Unbeschwertheit skizziert, die für den Moment berechtigt ist, doch man ahnt die Illusion dahinter. Denn dem Autor ist mit dieser im wahrsten Sinne zauberhaften Episode der Zeitsprung in die eigene Kindheit geglückt. Immer wieder wird er sich im Laufe von 13 Kapiteln mit so trefflichen Überschriften wie Risches (Judenhaß), Kasches (Fragen) und Schlamassel der Geschichte seiner Eltern nähern, dem viel zu frühen Tod des Vaters, seinen ersten Sporen bei einer Zeitung und seiner Begegnung mit dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den Auschwitz-Prozess in den 60er Jahren ins Rollen, aber sein eigenes Leben als heimgekehrter jüdischer Emigrant und Außenseiter nicht auf die Rolle brachte. Wie viel Worte ich brauche, um eigentlich nur eines zu signalisieren, das ist das schönste, heiterste, traurigste, reichste Buch, das ich in diesem Jahr bislang in der Hand hatte. Nicht mal vor dem Holocaust- und Post-Holocaust-Thema muss man sich fürchten. Wie gut man von Bergmann durch diese Lebensgeschichte geführt und getröstet wird: „Er wird im Leben Umwege gehen, wird sich in Abenteuer stürzen, wird lieben und geliebt werden (…) Es wird ein gutes Leben sein, trotz vieler Rückschläge und Schmerzen. Und trotz des dramatischsten Verlustes.“ Doch lesen Sie unbedingt selbst, was es damit auf sich hat.

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