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Palästinaflagge mitten in Tel Aviv

Wieder demonstrierten zehntausende Israelis gegen das neue Nationalstaatsgesetz. Vor allem Israels Araber fühlen sich diskriminiert. Die Regierung sieht sich von der Demonstration bestätigt und gestärkt. Denn sie zeigt wie tief die Opposition gespalten ist.
Diesen Anblick hat es wohl noch nie gegeben: Auf der Ibn Gvirol Straße, der wichtigsten Hauptstraße Tel Avivs, flatterten Samstagabend zig Palästinenserflaggen über den Köpfen zehntausender Demonstranten. Die Massen skandierten „Gleichheit!“ und ­„Demokratie“, oder mit „Bibi geh nach Hause!“, forderten sie Premierminister Benjamin Netanjahu mit seinem Spitznamen zum Rücktritt auf. Unter die Sprechchöre mischten sich allerdings auch militante Slogans palästinensischer Nationalisten.
„Mit unserer Seele und unserem Blut werden wir Palästina befreien!“, hieß es im wirtschaftlichen und kulturellen Herzen des modernen Israel, oder „Millionen Märtyrer marschieren gen Jerusalem!“
Eine Woche nachdem die drusische Minderheit eine Demonstration in Tel Aviv abhielt, hatte diesmal die Führung der israelischen Araber zum Protest aufgerufen. Wie bei den Drusen war ein großer Teil der laut Schätzungen 30.000 Teilnehmer israelische Juden. Anlass für den Massenprotest ist das neue Nationalstaatsgesetz, das Netanjahus Regierung am 19. Juli 2018 verabschiedete. Seither herrscht in Israel Aufruhr. Araber, breite Teile der linken Opposition und selbst Anhänger Netanjahus monieren, das Gesetz sei zu hastig durchgeboxt worden und bahne gesetzlich sanktionierter Diskriminierung auf ethnischer oder religiöser Basis den Weg. Sie bemängeln vor allem den fehlenden Bezug zu demokratischen Grundwerten. Doch im Gegensatz zur Veranstaltung der Drusen, die staatstreu sind, gelang es der arabischen Führung erneut nicht, den israelischen Mainstream für sich zu gewinnen. Die wichtigsten jüdischen Oppositionspolitiker blieben der Demonstration fern, auch prominente Ex-Generäle, Geheimdienstler, Künstler und Intellektuelle, die andere Proteste lauthals unterstützt hatten. Sie wollten nicht mit einer Demonstration assoziiert werden, die Israels jüdischen Staatscharakter teilweise infrage stellte. Das Hissen der Flagge der palästinensischen Feinde mitten in Tel Aviv spaltete Netanjahus Opposition und lieferte dem Premier Argumente, um kritische Wähler von seiner Gesetzesinitiative zu überzeugen.
Wohl kaum etwas weckt hier heftigere Emotionen als die palästinensische Flagge. Den Israelis als Symbol der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO bekannt, die für zahlreiche Attentate verantwortlich war, war sie lange verboten. Dass israelische Staatsbürger sie nun in Tel Aviv hochhalten, nährt die Angst, die arabische Minderheit, die 20 Prozent der Bevölkerung stellt, agiere als fünfte Kolonne, um den jüdischen Staat zu unterwandern und letztlich abzuschaffen.
Netanjahu schlug genau in diese Kerbe: „Gestern sahen wir PLO-Flaggen mitten in Tel Aviv. Viele Demonstranten wollen Israel als jüdischen Staat abschaffen“, so der Premier.
Viele ­Teilnehmer verneinten das, doch einige schienen ­Netanjahus Vorwurf zu bestätigen: „Wir hatten hier noch nie die gleichen Rechte. Ich fühle mich fremd in meinem eigenen Land, dabei ist das unser Land“, sagt Amal Amad, eine 47 Jahre alte gläubige Muslima aus dem Dorf Scheich Duma in Nordisrael. Zwar bekennt sie sich zur Zwei-Staaten Lösung und beteuert, sie wolle „den Staat der Juden nicht abschaffen“. Doch nach den Details gefragt, stellt sich heraus, dass diese Mutter von vier Kindern dem Staat Israel nicht viel Platz „im Land meiner Väter“ einräumt: Tel Aviv müsse Teil eines Palästinenserstaates werden, ebenso Haifa und ein Großteil des Landes. „Vielleicht können die Israelis in Westjerusalem bleiben“, meint sie.
Im Vergleich dazu klang Abbas Mansur, stellvertretender Vorsitzender der Islamischen Bewegung in Israel, gemäßigt: „Wir Araber leben auch hier“, sagt er. Er demonstriere „für Gleichheit, nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch den Völkern. Wir Palästinenser haben kollektive Rechte, die nicht geachtet werden.“ Kollektiven Ansprüchen schiebt das Nationalstaatsgesetz indes einen Riegel vor. „Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist in Israel ausschließlich dem jüdischen Volk vorbehalten“, heißt es in Absatz 1. Mansur fordert aber „religiöse und kulturelle Autonomie“. Die werde durch Absatz 4 des Gesetzes verletzt, der den Status des Arabischen von einer offiziellen Landessprache zu einer Sprache mit nicht näher spezifiziertem „Sonderstatus“ degradiert.
Die großen Parteien der „zionistischen Opposition“ gehen zu solchen Forderungen auf Distanz. Sie müssen sich ohnehin der steten Vorwürfe Netanjahus und seiner Parteigenossen erwehren, sie machten mit Israels Feinden gemeinsame Sache.
Einzig die Vorsitzende der linken Meretz Partei Tamaer Zandberg solidarisierte sich mit dem Protest: „Wovor habt ihr Angst?“, twitterte sie. „Da sind Fahnen oder Schilder, mit denen ihr nicht einverstanden seid? Das ist doch kein Grund, unser Lager zu spalten!“ Amos ­Schocken, Herausgeber der renommierten regierungskritischen Tageszeitung Haaretz, war der einzige jüdische Redner auf der Demonstration, obschon ein großer Teil der Teilnehmer jüdische Israelis waren. Schocken warnte vor einer „schleichenden Kampagne“ einer „nationalistischen Regierung“, die die arabische Minderheit aus dem Alltag verdrängen wolle. „Sie wollen uns aus diesem Land verdrängen, und dieses Gesetz ist nur der Anfang“, argwöhnte auch Adam Hussni, ein 18 Jahre alter Hotelangestellter aus Umm el Fahm.
Derweil deutet sich an, dass das Nationalstaatsgesetz, dem viele bislang nur „eine nutzlose Symbolwirkung“ zuschrieben, durchaus auch konkrete praktische Folgen haben könnte. Harel Arnon, ein Rechtsanwalt der ein anderes Gesetz der Regierung vor dem ­Höchsten Gerichtshof verteidigt, sagte, er wolle den wohl am härtesten debattierten ­Absatz 7 in ­einem entscheidenden Rechtsstreit von internationaler Bedeutung anwenden. Dabei geht es um das „Regulierungsgesetz“, das vergangenes Jahr verabschiedet wurde. Es soll im Nachhinein Siedlungen legalisieren, die im besetzten Westjordanland widerrechtlich auf palästinensischem Privatgrundbesitz errichtet wurden. Es sieht allerdings Entschädigung für zwangsenteignete Palästinenser vor. Das Gesetz soll rund 4.000 Häuser von Siedlern retten, die vom Abriss bedroht sind. Der Rechtsberater der Regierung weigerte sich, das problematische Gesetz vor Gericht zu verteidigen. Arnon sagte nun, er werde sich im anstehenden Prozess auf Absatz 7 des ­Nationalstaatsgesetzes berufen. Der erklärt „die Ansiedlung von Juden zu einem nationalen Wert“ und verpflichtet die Regierung, diese „zu fördern und zu ermutigen“. Indem es das israelische Siedlungsprojekt auch außerhalb der Landesgrenzen zur legalen Pflicht der Regierung erklärt, könnte das Nationalstaatsgesetz also auch schon bald den Konflikt mit den Palästinensern maßgeblich beeinflussen. 

 

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