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Linker Antisemitismus

In der Times vom 3. Februar 2018 las ich ein schockierendes Interview mit Claire Kober, Vorsitzende der Labour-Partei im Bezirk Haringey in London: „Der Grad des Antisemitismus, den ich in der Labour-Partei gesehen habe, ist erstaunlich. Eine Menge von Leuten denken ich sei jüdisch, obwohl ich es nicht bin.“ Ein jüdisches Labour-Mitglied des Bezirksrates wurde von einem aufgestellten Kandidaten von Momentum, einer linksextremen Fraktion der Partei, angepöbelt: „Du wirst – nach den Wahlen im Mai – mehr Zeit haben Geld zu zählen.“


Claire Kobers Versuche, diesen Mann zu disziplinieren oder auszuschließen wurden von den Linksextremisten verhindert. Während einer Sitzung des Bezirkrates schlug Kober vor, sich der international akzeptierten Definition von Antisemitismus anzuschließen. Viele Labour-Mitglieder versuchten ihre Rede mit Schreien und Geheul zu unterbrechen, denn, so Kober: „Antisemitismus wird in der Labour-Partei toleriert. Ich finde es unerklärlich, dass Ken Livingstone noch Mitglied ist.“ Das Interview in der Times zeigt, wie aktuell das erst Ende 2017 publizierte Buch Contemporary Left Antisemitism des britischen Soziologen David Hirsh, der an der Londoner Goldsmith University lehrt, ist.


Das erste Kapitel widmet er dem ehemaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, der den Juden vorwirft, einen, seiner Meinung nach, nicht existierenden Antisemitismus zu bekämpfen, um von Israels Verbrechen abzulenken. Diese Beschuldigung nannte Hirsh „Livingstone Formulation“. Wie alle Antisemiten, sieht sich auch Livingstone als Opfer der Juden, des „Zionismus“ oder gar der „Israel-Lobby“. Die Behauptung, dass Juden versuchen, die Kritik an Israel mit einer unehrlichen Beschuldigung zum Schweigen zu bringen, ist heute eine symptomatische Redewendung moderner Antisemiten.
Livingstone war schon in den frühen 1980er Jahren, als Herausgeber der linksextremen Zeitung Labour Herald bekennender radikaler „Antizionist“. Dieses Blatt wurde von der trotzkistischen Workers Revolutionary Party (WRP) herausgegeben, einer Partei, die wegen der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung jüngerer Mitglieder auseinanderbrach. Die WRP wurde von Gaddafi und anderen arabischen Diktatoren finanziert.


Livingstones Zeitung veröffentlichte eine Karikatur, die den israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin unter dem Titel „Endlösung“ in Naziuniform zeigte, stehend auf einen Haufen von Totenschädel und den rechten Arm zum Hitlergruß hebend.


2016 war Antizionismus längst im linken Mainstream angekommen. Doch als Ken Livingstone in einer BBC-Sendung ein Gleichheitszeichen zwischen Nationalsozialismus und Zionismus setzte und behauptete „Hitler was supporting Zionism… before he went mad“, erntete er Widerspruch. Der britische Labour-Abgeordnete John Mann beschuldigte Livingstone vor laufender Kamera, ein „ekelhafter Rassist“ und „Naziapologet“ zu sein.


Antisemitismus bedroht Juden, doch es zeigt hauptsächlich eine tiefere Krankheit in demokratischen Bewegungen, Institutionen und Kulturen auf. Die Untersuchung und Analyse des Antisemitismus ist in erster Linie ein Schlüssel, um zu verstehen, was demokratische Kultur bedroht. Linke Antisemiten bekennen sich nicht dazu, welche zu sein. Im Gegenteil: Sie versuchen das Phänomen zu verleugnen und verwenden dazu oft genug die „Livingstone Formulation“.


Im zweiten Kapitel seines Buches beschreibt Hirsh den unerwarteten Aufstieg von Jeremy Corbyns Fraktion 2015. Corbyn, ein Unterstützer von Hamas und Hizbollah, hatte auch Raed Salah, einen Propagandisten der Ritualmordlegende ins Parlament eingeladen und der auch für das iranische staatliche Press-TV arbeitete. Im dritten Kapitel seines Buches schildert David Hirsh, wie seit 2016 der Antisemitismus in Corbyns Labour-Partei in den Mainstream kam, indem er die von Corbyn beauftragte „Chakrabarti Inquiry into Antisemitism and other Racisms“ analysiert.


Außerdem setzt sich Hirsh mit der weltweiten Bewegung BDS, die in Großbritannien sehr aktiv ist, auseinander. Sie verleumdet den jüdischen Staat als „Apartheidstaat“und ruft zum wirtschaftlichen Boykott und zu Sanktionen gegen Israel auf. Ebenso wird der Antisemitismus in Gewerkschaften der an Universitäten Beschäftigten dokumentiert.


Denn besonders lehrreich ist die prinzipielle Auseinandersetzung mit linkem Antizionismus. Die Demokratie wird heute von verschiedenen Richtungen angegriffen, von Linksextremisten, von Antisemiten, von fremden- und islamfeindlichen Rechtsextremisten und von radikalen Islamisten, indem sie jede internationale Zusammenarbeit verdächtigen und das demokratische System verachten. Antisemitismus ist einer ihrer gemeinsamen Nenner. Wer diesen in irgendeiner Form toleriert, gefährdet die real existierende Demokratie.


Israel hat hunderttausenden Holocaustüberlebenden eine Heimat gegeben und Millionen Juden integriert. Wer diesen Staat boykottieren oder gar liquidieren will, ist Antisemit, hinter welcher Maske auch immer er sich versteckt. Wer allein den Juden einen eigenen Staat missgönnt, ist Antisemit, auch wenn er den Wunsch, Israel solle verschwinden, „als Jude“ propagiert.

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