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Erfolgreiches Autorenpaar

Er macht wieder von sich reden: einer der erfolgreichsten Autoren

der Niederlande, Filmemacher und wohl eine der spitzesten Federn

des deutschen Zeitungs-Feuilletons – Leon de Winter. Und auch international lieben ihn die Leser. „Hoffmans Hunger”, „Supertex”, „Malibu”, „Sokolovs Universum”, „Der Himmel über Hollywood” oder „Das Recht auf Rückkehr” sind nur einige seiner Werke.

Als Sohn orthodoxer niederländischer Juden, thematisiert de Winter in seinen Romanen, in Feuilletons und Essays die Verfolgung der Juden oder den Nahostkonflikt. De Winters Eltern haben den Nationalsozialismus im Versteck überlebt, alle anderen Familienmitglieder wurden ermordet. Wortgewaltig lässt er keine Gelegenheit aus, vom Westen ein stärkeres Bekenntnis zu Israel zu fordern. Er attackiert die Toleranz des Westens gegenüber rückständigen Tendenzen im Islam und die liberale Integrationspolitik der EU-Länder. In seinem neuesten Roman Ein gutes Herz, der Anfang September auf den Markt kam, geht es unter anderem um die Ermordung des holländischen Regisseurs Theo van Gogh durch einen Amsterdamer Marokkaner im Jahr 2008.

Der Schriftsteller mischt Fakten und Fiktion und tritt auch höchstpersönlich im Roman auf. „Genial, verspielt, boshaft und beunruhigend ist dieser Roman” – so verspricht es der Klappentext des Buches. Gemeinsam mit seiner Frau Jessica Durlacher, auch sie eine Bestseller-Autorin, auch sie ein Kind von Holocaust-Überlebenden, lebt Leon de Winter in einer kreativen Schriftstellerehe – abwechselnd in Kalifornien und in den Niederlanden. Derzeit leben sie mit ihren beiden Kindern Solomonica und Moos, einem Hund und einer Katze, in einem Landhaus in Bloemendaal vor den Toren Amsterdams. Nichts deutet jedenfalls darauf hin, dass die autobiographischen Bezüge seines neuesten Romans auf Tatsachen beruhen: Der Schriftsteller namens Leon de Winter, der in Ein gutes Herz eine Rolle spielt, wird nämlich von seiner Frau Jessica Durlacher verlassen und will sich mit einem Romanprojekt über seinen Lieblingsfeind van Gogh darüber hinwegtrösten. Wahr ist vielmehr, dass sich Leon de Winter und Jessica Durlacher gerade gemeinsam mit einem neuen Projekt befassen: mit einem Theaterstück, basierend auf dem Tagebuch von Anne Frank.

Das Stück, das unter dem Titel Anne im kommenden Frühjahr in Amsterdam uraufgeführt werden soll, ist übrigens die erste Bühnenadaption dieses Stoffs seit dem Jahr 1955. Unterstützt wird das Projekt von Otto Frank, dem Universalerben der Familie Frank und Rechteinhaber von Annes Tagebüchern. Durch das neue Stück von Leon de Winter und Jessica Durlacher, das die berühmte Geschichte mit neuen Fakten völlig neu interpretiert, soll die Erinnerung an das tragische Schicksal des jugendlichen Holocaust-Opfers auch für die neue Generation am Beginn des 21. Jahrhunderts packend – und mit neuer Bühnenmusik – aufbereitet werden. Um dies zu erreichen gehen Leon de Winter und Jessica Durlacher über den engen Raum des Dachbodens, in dem sich Anne Frank vor den Nazi-Schergen versteckt gehalten hatte, hinaus. Das Autoren-Team will Annes Gefühle, Träume und Ideen zum Leben erwecken und dazu auch erstmals ihr Leben vor und nach ihren Tagebuchnotizen auf die Bühne bringen.  Was die Auseinandersetzung mit diesem und ähnlichen historischen Stoffen für Leon de Winter persönlich bedeutet, wurde mir schon klar, als ich Leon de Winter vor rund zwanzig Jahren zum ersten Mal begegnete – im Jahr 1994 in Los Angeles.

Warum er so gerne in der Filmmetropole lebt und schreibt, kommentierte er damals so: „Ich muss ein Fremder sein irgendwo. Ich darf mich nur daheim fühlen in dem jeweiligen Roman, an dem ich arbeite.” Der Anlass für unsere Begegnung war ein ORF-Interview zu de Winters Roman Hoffmans Hunger, der dem damals 40-jährigen holländischen Autors zum literarischen Durchbruch im deutschsprachigen Raum verholfen hatte. Den ersten optischen Eindruck habe ich bis heute vor mir: ein rundes, offenes Gesicht. Schwarze Haare, buschige Augenbrauen, braune Augen. Sanfter, melancholischer Blick. Für das Interview vor laufender Kamera nahm de Winter rasch seine Brille nimmt ab. Sein Deutsch war – und ist bis heute – hervorragend. Der Autor erzählte über seine Eltern, die die Nazi-Zeit in verschiedenen Verstecken überlebt hatten. Mehrere Male waren wir verraten worden, konnten aber immer wieder in letzter Minute entkommen – unter anderem mit Hilfe katholischer Priester und Nonnen. Der 1954 geborene Autor dazu: „In meiner Familie war es nicht nötig, die Deutschen schlimmer darzustellen, als sie waren: Mein jüdischer Vater war der einzige Überlebende seiner Familie, meine jüdische Mutter und meine Tante waren die einzigen in ihrer Familie, die der Deportation entgangen waren.” Feindseligkeit gegenüber den Deutschen hatte der Junge daheim trotzdem nie erfahren: „Die Gewalt der Deutschen war eine gegebene Größe, doch niederländische Denunzianten und ihr verborgener Antisemitismus sorgten in den meisten Geschichten meiner Mutter, mit denen ich aufwuchs wie andere Kinder mit Grimms und Andersens Märchen, für die überraschende Wendung.”   

Wenige Wochen vor dem Interview im Jahr 1994 war Leons Mutter gestorben. Ihren Tod kommentierte de Winter damals nur mit der kurzen, tieftraurigen Bemerkung: „Für mich ist mit ihr ein jüdisches Jahrhundert gestorben. Ich hätte ihr viel mehr Fragen stellen sollen!“ Die Antworten auf die nicht gestellten Fragen an seine Mutter sucht und findet Leon de Winter durch die Recherchen für seine literarischen Werke – und in Gesprächen mit seiner Frau Jessica Durlacher, deren biographischer Hintergrund ein ähnlicher ist. Jessica ist die Tochter des Soziologen und Schriftstellers Gerhard Durlacher, der als einziger seiner Familie Auschwitz überlebt hat. Als Schriftsteller und Essayist wurde er zu einem wichtigen Zeitzeugen. Jessica Durlacher setzt dieses Thema fort und schreibt in ihren Romanen – wie Das Gewissen, Die Tochter und Der Sohn – immer wieder über das Leben von Familien, in denen die Eltern den Holocaust überlebt haben, und wie diese Erfahrung sie und ihre Kinder traumatisiert und prägt. Das neue Stück Anne ist übrigens die erste künstlerische Zusammenarbeit des prominenten Schriftstellerehepaars. Leon de Winter dazu: Wir möchten in diesem Stück Anne Frank so authentisch wie möglich zeigen. Sie hatte ein enormes Talent. Zur Zeit ihrer Tagebuchaufzeichnungen war sie gerade erst 15 Jahre alt geworden und trotz  dem war sie schon eine sehr reife Autorin. In unserem Stück drückt sie das so aus: „Ich habe mich ins Erwachsensein geschrieben.“ Unsere größte Sorge war, wir ihre Entwicklung entsprechend dramatisieren können. Jessica Durlacher fügt hinzu: In diesem Stück zeigen wir die ganze Dimension von Anne Frank – die Geschichte von einem Mädchen, das in kürzester Zeit zur reifen Frau wird, von einer talentierten Schriftstellerin, deren Stimme nicht zum Verstummen gebracht werden konnte. Sie wurde gezwungen, sich selbst zu verstehen und zu analysieren, was mit ihr geschah.

Annes Geschichte hat bis heute nichts an Gültigkeit und Wahrheit verloren und sie ist nach wie vor herzzerreißend. Für meinen Mann und mich war die Dramatisierung dieser Geschichte die größte Herausforderung unserer Karrieren – nicht nur weil Frances Goodrich und Albert Hackett schon in den 1950er Jahren eine herausragende Adaptierung geschrieben hatten, sondern weil unsere Familien ähnliche Schicksale erlitten hatten wie die Familie Frank.  Das neue Stück Anne von Leon de Winter und Jessica Durlacher soll kommendes Frühjahr in Amsterdam seine Uraufführung haben. Auf die Bühne gebracht wird es von Robin de Levita, einem erfolgreichen, mit mehreren Tonys ausgezeichneten amerikanischen Produzenten. Die Rechte für den Weltmarkt hat die S. Fischer Theater Agency. Der Roman Ein gutes Herz von Leon de Winter erschien Anfang September im Diogenes-Verlag. Leon de Winter wird als Gast von Buch Wien im November dieses Jahres nach Österreich kommen.                                       

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