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Dunkle Vergangenheit

Hitlers britische Verräter

In Großbritannien wird zu Recht betont, dass es eine Zeit gab, in der das Land allein gegen das Dritte Reich kämpfte. Allerdings gab es damals auch Briten, die bereit waren, ihre Heimat zu verraten. Erst heute, nach Öffnung verschiedener Archive, kann die Dimension des Verrats richtig eingeschätzt werden. Ein gemeinsamer Nenner der Verräter war ihr Antisemitismus und ihr Wunsch nach einem starken Führer.

Antisemitismus war im 20. Jahrhundert – insbesondere während der 1920er und 1930er-Jahre – auch in Großbritannien weit verbreitet. Die Protokolle der Weisen von Zion über die „jüdische Weltverschwörung“ wurden zwar von der konservativen Times bereits im Sommer 1921 als antisemitische Fälschung entlarvt, aber viele durch die Wirtschaftskrise unsicher gewordene Briten glaubten daran.
Bereits Anfang März 1933 forderte der konservative Abgeordnete Edward Doran im Parlament vom Home Secretary (Innenminister), „Maßnahmen zu ergreifen, um die Einreise ausländischer Juden aus Deutschland zu verhindern.“
Wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs berichtete Herbert von Dirksen, deutscher Botschafter in London, über die Bereitschaft der Briten zu kämpfen, um der Ungewissheit ein Ende zu machen. Er fände es tröstlich, dass viele glaubten „die Juden“ möchten das Land in einen Krieg mit Deutschland verwickeln. Tatsächlich ergab eine, im November 1939, durchgeführte Meinungsumfrage, dass 17 Prozent der Befragten glaubten, der Krieg werde „für die Juden geführt“. Während des Krieges jedoch wurden diejenigen, die das mit Post-it (Klebezettel) verbreiteten, von den Gerichten bestraft.
Wie in anderen europäischen Ländern fanden zuerst die italienischen Faschisten, später dann die deutschen Nationalsozialisten auch in Großbritannien eifrige Nachahmer. Bereits 1928 gründete der pensionierte Veterinär Arnold Leese die Imperial Fascist League (IFL). Leese hetzte, wie die meisten britischen Faschisten, gegen Juden, die er des Ritualmords an Christen beschuldigte.
Aus ganz anderem Holz war Sir Oswald Mosley geschnitzt. Er kam aus einer reichen und angesehenen Familie, war zuerst Parlamentsabgeordneter der Tories und dann von Labour, um 1932 die British Union of Fascists (BUF) zu gründen, eine immer antisemitischer werdende Partei mit 40.000 Anhängern. Sie erhielt regelmäßig Unterstützung vom faschistischen Italien – jährlich 60.000 Pfund, was heute ca. 3 Millionen Pfund entspricht.
Erst im Frühjahr 1934 begann die Beobachtung der BUF durch den britischen Geheimdienst MI5. Anlass waren gewalttätige Ausschreitungen bei einer Kundgebung von Sir Oswald Mosley in London gegen Antifaschisten und veranlassten auch den Zeitungsherausgeber Lord Rothermere seine Unterstützung für die Partei einzustellen. Bis zum Oktober 1935 sank die Anzahl der Mitglieder auf 5.000.
Sir Oswald Mosley – bei dessen Hochzeit mit der Tochter des britischen Außenministers Curzon hatten auch der König und die Königin teilgenommen – wollte aber auch von Juden finanzielle Unterstützung. So auch von Israel Sieff (Marks & Spencer), bei dem er zum Abendessen eingeladen worden war. Mosley betonte, dass „eine neue Bewegung jemanden zum Hassen brauche, in diesem Fall die Juden“ und er fügte hinzu: „Das gilt natürlich nicht für Juden wie Dich Israel.“ Sieff schmiss ihn sofort hinaus.
Die zweite Ehe mit Diana Mitford, einer Cousine von Churchill, ging Mosley in Anwesenheit von Hitler und Goebbels in Berlin ein.
Während des Krieges wurde das Ehepaar Mosley in Großbritannien interniert. Doch vielen anderen Verrätern, die zur Elite gehörten, wurde kein Haar gekrümmt. Zum Beispiel Generalmajor John Fuller, dessen Bücher und Schriften über die Panzerwaffe ihn berühmt machten. Fuller publizierte bereits 1935 in einer Londoner faschistischen Zeitschrift seine antisemitische Streitschrift Das Krebsgeschwür Europas, in der er auch Hitler lobte. Hitler lud diesen hochdekorierten Offizier zu seinem 50. Geburtstag nach Berlin ein. Am 27. März 1939 sprach Fuller in einer von der Nordic League veranstalteten Naziversammlung in London und beglückte die Zuhörer mit seinen Gedanken über „die hebräischen Mysterien“. Zuvor hatte Admiral Barry Domville von der Geheimgesellschaft The Link – deren Slogan war Perish Judah! (Judah krepiere!) – gefordert die Juden zu erschießen. Fuller wurde während des Krieges oft in der deutschen Presse zitiert, so z.B. im Völkischen Beobachter.
Im Januar 1940 erhielt MI5 den Bericht eines ihrer Informanten in der Britisch Union of Fascists (BUF) über eine aufwiegelnde Rede Fullers: „Wir wissen, dass unser Regierungssystem bis in den Kern verrottet ist. Was wir wollen ist eine blutige Revolution und ich bin bereit sofort eine zu starten.“ Obwohl das und andere geplante Verschwörungen gegen Juden den Behörden bekannt waren, wurden keinerlei Maßnahmen gegen die Verschwörer ergriffen. Allerdings wurde Fullers Protektor, Generalstabschef Ironside, im Juli 1940 abgelöst. Fuller selbst wurde nie behelligt.
Der Fall von Captain Archibald Henry Maule Ramsay war ein Musterbeispiel dafür, dass die Privilegien auch in Kriegszeiten mehr galten als Gleichheit vor dem Gesetz. Ramsay stammte aus einer bekannten schottischen Familie und wurde während des Ersten Weltkrieges schwer verwundet. Er ging eine vorteilhafte Ehe ein, lebte auf einem Schloss in Schottland und hatte ein Haus in London in South Kensington. Er ging in die Politik und wurde 1931 konservativer Abgeordneter. Beide Eheleute waren begeisterte Antisemiten, die an die Protokolle der Weisen von Zion glaubten. Ein Bericht vom 13. Februar 1939 dokumentiert, dass Ramsay in der Nordischen Liga „über den gemeinsamen Feind“ – nicht die Deutschen, die Italiener oder die Japaner – sondern „das Weltjudentum“ sprach: „Es mag für manche von Euch eine Offenbarung sein, aber es ist eine bewiesene Tatsache, dass die Irische Republikanische Armee von Moskau kontrolliert wird und mit jüdischem Gold finanziert ist… Ein Weltkrieg und das sehr bald ist der einzige Weg, um die zionistischen Ambitionen zu erfüllen.“
Ramsay war derartig überzeugt von seinen Wahnvorstellungen, dass er sich nicht scheute im Sommer 1939 im Carlton Club bei einem Getränk dem stellvertretenden Direktor von MI5, Oswald Harker, von einer „großen Verschwörung gegen die Nichtjuden der Welt“ zu berichten und zu erzählen, dass „die russische Revolution, die Revolution in Spanien und alle Revolutionen in der Welt von einer mysteriösen Organisation kontrolliert“ würden, deren Ziel es sei, „die Nichtjuden zu eliminieren.“
Harker wollte die Auslassungen Ramsays nicht weiter anhören und schlug seine Einladung zum Abendessen aus.
Andere MI5-Offiziere gingen aber daran, die Aktivitäten des Abgeordneten Ramsay genauer zu verfolgen. Er hatte viele tausende Post-it drucken lassen, um den kommenden Konflikt als einen „Krieg der Juden!“ zu denunzieren, und er hatte eine neue geheime Organisation The Rights Club als Ersatz für die Nordische Liga gegründet. Kandidaten wurden ersucht, ihre Bewerbung an sein Büro im Parlament zu senden. Wer akzeptiert wurde, musste Geheimhaltung schwören und erhielt ein Abzeichen: ein Adler, der eine Schlange tötet und in dem die Initialen P.J. (Perish Judah) eingraviert waren; ein von den Faschisten beliebtes Kürzel. Ziel des Klubs war „dieses Land von der jüdischen Herrschaft“ zu befreien und die verschiedenen faschistischen Organisationen zu koordinieren.
MI5 wurde besonders auf das Klubmitglied Anna Wolkoff aufmerksam, die Tochter des letzten zaristischen Flottenattachés an der russischen Botschaft. Sie hatte 1935 die britische Staatsbürgerschaft erhalten und bewirtschaftete eine russische Teestube in London, in der viele verdächtigte Personen verkehrten. Dort lernte Wolkoff den 29jährigen Verschlüsselungsfachmann der US-Botschaft, Tyler Kent, kennen, der tausende Geheimdokumente kopierte, darunter auch die Korrespondenz von Churchill mit Roosevelt, die er den Deutschen zukommen ließ. Dem britischen Geheimdienst MI5 wurde dies bekannt, weil er die Korrespondenz des deutschen Botschafters in Rom überwachte.
Tyler Kent hatte Anna Wolkoff und Archibald Henry Maule Ramsay auch einige höchst geheime Dokumente gezeigt. MI5 wusste seit April 1940, dass einer der russischen Freunde von Wolkoff diese Dokumente fotografierte. Nachdem MI5 die Zusage von den Amerikanern erhielt, die diplomatische Immunität von Kent aufzuheben, wurde die Tür zu seiner Wohnung aufgebrochen, und man entdeckte dort u.a. 1.920 Geheimdokumente, sowie eine Liste aller Mitglieder von The Rights Club in einem ledergebundenen Buch.
Am 5. November 1940 begann unter großer Geheimhaltung ein acht Tage lang andauernder Prozess im Old Bailey gegen Tyler Kent und Anna Wolkoff. Kent wurde wegen Geheimnisverrats zu sieben Jahren und Wolkoff zu zehn Jahren Kerker verurteilt. Der Richter hatte ihre „antijüdische Besessenheit“ als erschwerenden Umstand bezeichnet, denn „dieser Virus, der in ihr System eindrang, hat ihre geistige und moralische Substanz vernichtet.“
Doch als MI5 vorschlug auch Archibald Henry Maule Ramsay vor ein Gericht zu stellen, war das britische Innenministerium dazu nicht bereit. Er wurde lediglich interniert. Man hätte irgendwelche, weitere Maßnahmen gegen ihn erwartet. Doch Ramsay erhielt weiterhin sein Gehalt und nach seiner Entlassung aus der Internierungshaft, am 26. September 1944, saß er wieder im Parlament. Seinem faschistischen Mitverschwörer, Sir Domville, schrieb er: „Im Großen und Ganzen haben sich die MPs sehr nett zu mir verhalten und einige sogar mehr als das“.
Aufgrund der liberalen britischen Traditionen hatte MI5 sowohl mit der Internierung als auch mit der gerichtlichen Verurteilung von potentiellen Verrätern Probleme. Im März 1941 schlug Major Victor Rothschild vor, MI5 solle mehrere Offiziere freistellen, um sich als britische Agenten der Gestapo auszugeben und so den Nazifreunden vorzuspiegeln, sie würden ihre Informationen nach Berlin weiterleiten. Erstaunliche Sicherheitslücken und Versuche eine Verschwörung zu organisieren, wurden so bekannt und vereitelt.
Den Briten gelang es während des Zweiten Weltkrieges auch genaue Informationen über die in Deutschland befindlichen Verräter zu bekommen, wie z.B. über William Joyce, der sich freiwillig in Berlin der Nazipropaganda zur Verfügung stellten.
Joyce wurde als Kind irischer Eltern 1906 in New York geboren und kehrte als Kleinkind mit seinen Eltern zurück nach Großbritannien. Dort studierte er am Birbeck College und an der University of London. Er schloss sich sehr früh der British Union of Fascists an und fiel dort den Sicherheitsbehörden als Redner und Antisemit auf. Joyce wurde von Mosley zum Propagandachef gemacht, verlor aber 1937 seinen gut bezahlten Posten und gründete mit dem ehemaligen Labour-Abgeordneten, John Becket, die National Socialist League, der jedoch kein Erfolg beschieden war. Ein paar Tage vor Kriegsausbruch reiste William Joyce mit seiner Frau nach Berlin, wo er Angestellter des Propagandaministeriums wurde und bald sprach er in englischsprachigen Sendungen. Ende Januar 1940 hatte er sechs Millionen regelmäßige und 18 Millionen gelegentliche Hörer. Bald wurde Joyce wegen seiner schneidenden Stimme Lord Haw-Haw genannt. Er genoss es sehr, mitzuteilen, welche Verluste die Briten erleiden mussten, ebenso seine Verspottung von Churchill. Nur: So lange die Wehrmacht Erfolge hatte, konnte William Joyce den Briten Angst machen. Als die Invasionsbedrohung verschwand und die Alliierten einen Sieg nach dem anderen errangen, wurde er wieder zu der komischen Figur, als die er bereits vor dem Krieg von den meisten Briten wahrgenommen worden war.
William Joyce und seine Frau fielen in diesen Jahren durch gesteigerten Alkoholkonsum auf, mit dem sie versuchten, ihre Angst zu betäuben. 1945 flüchtete er aus Berlin und versteckte sich in Norddeutschland. Dort sprach er aber selbst britische Offiziere an und wurde verhaftet. Obwohl er 1940 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, wurde er in London zum Tod verurteilt: Er hatte den Fehler gemacht, noch einmal einen britischen Pass zu beantragen. So wurde er 1946 als britischer Staatsbürger gehängt.
Von anderem Kaliber war John Amery, der missratene Sohn des Ministers Leo Stennett Amery. Er war ein Freund des Kollaborateurs Jacques Doriot in Frankreich und im September 1942 war er nach Berlin gebracht worden, um behilflich zu sein. Denn Hitler wollte eine Vereinbarung mit den Westmächten, um eine zweite Front zu vermeiden. Darum wiederholte John Amery am 19. November 1942 in der englischsprachigen Sendung des deutschen Reichsrundfunks das bereits zwei Jahre zuvor gemachte Angebot: Die Briten sollen die Position der Deutschen in Europa für das deutsche Versprechen akzeptieren, sich nicht für das britische Weltreich zu interessieren. „Zwischen Ihnen und dem Frieden steht nur der Jude und sein Werkzeug, nämlich die bolschewistische und amerikanische Regierungen.“ Hitler beschrieb John Amery als den „weitaus besten Propagandisten für England, den wir haben“.
Im April 1945 wurde John Amery von italienischen Partisanen gefangen genommen. Im Flugzeug nach London erklärte er dem begleitenden Scotland Yard-Offizier: „Alles was ich tat – alles – hat den Interessen meines Landes genützt.“ Das Londoner Gericht konnte er nicht davon überzeugen. Alle Bemühungen seiner einflussreichen Familie, ihn zu retten, scheiterten. Einen Monat nach William Joyce wurde auch er gehängt.

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