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Bibis geheimes Erfolgsrezept

Unzählige Skandale und mehrere Ermittlungen mögen Israels Premierminister bedrohen, doch aus Sicht seiner Anhänger kann er trotzdem nichts falsch machen. Nur eine Sache würden sie ihm nicht verzeihen. Wie bleibt „König Bibi“ an der Macht?

Auf den ersten Blick wirkt es hier idyllisch, als blieben alle Differenzen, die Israels Gesellschaft spalten, außen vor. Im Suk Mahane Jehuda, dem großen Markt West-Jerusalems, arbeiten Juden und Araber an Obstständen eifrig Seite an Seite. Ultra-orthodoxe Juden stehen in schwarzen Kaftanen brav neben spärlich bekleideten Damen Schlange, um ofenfrisches Brot zu erstehen. Europäischstämmige aschkenasische Juden feilschen keck mit Misrahim, Juden, deren Eltern aus arabischen Staaten einwanderten, um Feigen und Gewürze. Und abends, auf dem Weg zu den schicken Bars, die die engen Gassen des Suks säumen, reiben die Reichen der Stadt ihre Schultern mit jenen der Sozialhilfeempfänger, die kurz vor Ladenschluss zwischen welkenden Dillbündeln und Äpfeln zweiter Wahl nach Schnäppchen suchen.
Doch die Vielfalt trügt. Politisch gesehen ist Suk Mahane Jehuda eine Monokultur. Das Herz der israelischen Hauptstadt befindet sich fest im Griff einer Partei. Die Händler, die Israels Medien stets als „Vox Populi“ zitieren, wählen geschlossen seit Jahrzehnten den Likud. Und nur ein Politiker wird hier jederzeit mit Jubelrufen empfangen: „Bibi ist der König Israels“, sagt der Gemüsehändler Itzik Schlomo, indem er dabei einen Kosenamen Benjamin Netanjahus nutzt.
Wie kein anderer Politiker dominiert ­Netanjahu Israels öffentliches Leben seit 20 Jahren. Der Ex-Elitesoldat, für dramatische Rhetorik und perfektes Englisch bekannt, amtiert zum vierten Mal als Premierminister und diente zuvor als Führer der Opposition und als Finanzminister.
Wie die meisten Wähler Netanjahus sind Schlomo und Zidkijahu, ein anderer Händler, religiös, konservativ und nationalistisch. Gerade deswegen überrascht ihre anhaltende Unterstützung Bibis. Schließlich kehrte ihnen Israels Premier oft den Rücken. Er stimmte für die Räumung des Gazastreifens, gab Teile der Heiligen Stadt Hebron auf und verhängte einst einen vollkommenen Siedlungsbaustopp. Zudem umranken ihn zahlreiche Skandale. In vier Fällen empfahl die Polizei wegen Korruptionsverdacht oder Amtsmissbrauch Anklage zu erheben. Und sie ermittelt in weiteren Affären. Fern des Images eines routinierten Herrschers wirkt Israels Premier manchmal eher wie ein verunsicherter Anfänger und wirft seine Entscheidungen hastig um.
Erst erließ Netanjahu ein Gesetz, das Ultra-Orthodoxe zum Wehrdienst verpflichtete, dann annullierte er es. Eines Morgens verkündete er ein Abkommen mit der UNO über die Abschiebung von 10.000 Migranten und kündigte es am selben Abend wieder auf. Mal verpflichtet er sich zur Zwei-Staaten-Lösung, nur um kurz darauf zu erklären, Israel werde die Kontrolle übers Westjordanland niemals aufgeben. Mal fordert er den Sturz der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen, dann wiederum verhandelt er mit ihr über einen langfristigen Waffenstillstand.
Seinen Wählern ist all das einerlei. Laut neuesten Umfragen würde der Likud mit mindestens 33 Sitzen wieder größte Fraktion in der Knesset – solange Bibi ihm vorsteht. Israels nächster Premierminister wird wohl wieder Netanjahu heißen. Was ist das Geheimnis von Israels gelenkigstem Wendehals?
Dafür gibt es objektive Gründe, meint Anshel ­Pfeffer, der als Journalist bei der regierungskritischen Tageszeitung Haaretz arbeitet und kürzlich eine Netanjahu-Biographie veröffentlichte. „Bei aller gerechtfertigten Kritik muss man eingestehen, dass Netanjahu Israel in das wohlhabendste und stabilste Jahrzehnt seit seiner Gründung geführt hat. Geopolitisch war das Land noch nie in einer besseren Lage.“ Dennoch sei der Premier selbst im Likud nicht beliebt. Auch der Netanjahu-Anhänger Zidkijahu räumt ein: „Netanjahu wirkt auf mich nicht herzlich, sondern überheblich. Das ist das einzige, was mich an ihm stört.“ Pfeffer schätzt, dass nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung „für Netanjahu durchs Feuer gehen würden. Er würde weniger geliebt als respektiert.
Ist die Schwäche seiner Gegner also Netanjahus wichtigster Pluspunkt? Seine wichtigsten Rivalen, Jair Lapid, Führer einer Oppositionspartei der Mitte und der Vorsitzende der Arbeiterpartei, Avi Gabai, sind Quereinsteiger aus der Privatwirtschaft. Sie haben keine militärische Erfahrung und waren daher nur für kurze Zeit Minister, weil das im alltäglich bedrohten Israel ein großes Manko ist.
Andere Widersacher von Netanjahu sind außerdem ideologisch bankrott. Das Friedenslager verlor seine Anhänger in der Zweiten Intifada, denn sowohl Verhandlungen mit den Palästinensern als auch mit vom palästinensischen Dauerterror Israelis Überzeugte, seien aussichtslos. Das Lager der Siedler jedoch gilt vielen inzwischen als zu extremistisch. Für sie ist Netanjahu, als einziger erfahrener Staatsmann, der Repräsentant der politischen Mitte.
Als Medienkünstler weiß Israels Premier genau, wie er seine außenpolitischen Erfolge innenpolitisch verwerten kann: „Kein anderer kann morgens Damaskus bombardieren und abends vom russischen Präsidenten, dem Patron Syriens, mit allen Ehren empfangen werden. Und niemand steht der einzigen Supermacht USA näher als Netanjahu“, meint der Händler Schimon. Netanjahus Parteibasis vertraut blind seinem diplomatischen Geschick.
Wie ein Großteil der Partei ist auch der Likud-Sekretär Morali ein Hardliner und lehnt jeden territorialen Kompromiss mit den Palästinensern ab. Wie die meisten Anhänger ­Netanjahus schiebt auch Morali Anderen die Verantwortung für alle „Fehler“ und Kehrwendungen des Premiers zu: „Netanjahu hat in der Vergangenheit zumindest den Eindruck erzeugen müssen, dass er nachgebe. De facto hat er den Palästinensern jedoch nie etwas gegeben.“
Auch der Händler Schimon ist überzeugt: „Bibi weiß, wie man die Welt an der Nase herumführt. Und er weiß, dass die Araber nur die Sprache der Gewalt verstehen.“ Dass die Polizei ihn der Korruption bezichtigt, stört Netanjahus Anhänger nicht.
„Genau wie US-Präsident ­Donald Trump macht Bibi sich die Verbitterung und Ängste vieler Wähler zu Nutze“, sagt der Journalist ­Pfeffer. Damit meint er vor allem den Unmut der Misrahim, den arabisch-stämmigen Juden, die sich seit Staatsgründung von den liberalen, aschkenasischen Eliten übervorteilt fühlen. Netanjahus neoliberale Wirtschaftspolitik trifft diese Unterschicht zwar hart und trägt dazu bei, dass in Israel die Armut und gesellschaftlichen Unterschiede immer größer werden. Dennoch wird Netanjahu von den Misrahim weiter als ihr Volkstribun betrachtet. „In Israels Gesellschaft, in der die Bevölkerung sich in politische Stämme aufteilt, ist es Netanjahu gelungen, keinem Stamm anzugehören, obwohl er selber Aschkenase ist und in Wohlstand aufwuchs“, erklärt Pfeffer. „Das mag von Netanjahus eigenem Empfinden des Ausgeschlossen-Seins rühren. Netanjahus Vater wurde aufgrund seiner politischen Weltanschauung niemals von Israels Eliten akzeptiert.“
Und deswegen hält Schimon auch zu „Bibi“: „Die alten Eliten wirtschafteten in die eigene Tasche. Netanjahu ist auch ein bisschen korrupt, aber er gibt uns etwas ab“, sagt er.
Netanjahus von Milliardären finanzierter luxuriöser Lebenswandel nehmen seine Anhänger ihm auch nicht übel: „Von mir aus kann Netanjahu Goldstücke zum Frühstück essen, wenn er damit kein Gesetz bricht“, sagt Likud-Sekretär Morali.
„Es ist so anstrengend, Israels Premierminister zu sein“, sagt Schimon. „Man kriegt kaum Schlaf. Wenn Netanjahu sich den ganzen Tag um uns kümmert, warum soll ich ein Problem damit haben, dass er ab und zu eine teure Zigarre raucht oder Champagner trinkt?“ Schimon, der an seinem kleinen Marktstand bei glühender Hitze seinen Lebensunterhalt verdient, empfindet keinen Neid: „Er ist mein Premier. Es soll ihm gut gehen, damit er die richtigen Entscheidungen fällen kann.“
So ist Netanjahus Basis letztlich bereit, ihm fast alles zu verzeihen. Diese Haltung gehöre zur DNA des Likud, ist Pfeffer überzeugt: „Diese Partei hatte in den vergangenen 100 Jahren fünf Vorsitzende, die alle ihre Karriere mit dem Rücktritt beendeten. Im Gegensatz zu anderen Parteien stürzt der Likud seine Führer nicht.“
Nur eine Frage lässt selbst ­Netanjahus glühendste Anhänger drohen, dem Premier die Gefolgschaft aufzukündigen: „Jedes Likud-Mitglied, das davon spricht, im Rahmen eines Abkommens mit den Palästinensern Siedler aus ihren Häusern zu vertreiben, würde von uns gestürzt“, sagt Parteisekretär Morali. Und in Suk Mahane Jehuda heißt es einhellig: „Wenn Bibi den Palästinensern territoriale Zugeständnisse machen würde, wäre er nicht mehr mein Premier“, so Schimon.
Netanjahu scheint politisch alles überleben zu können – außer seriöse Friedensverhandlungen mit den Palästinensern.  

 

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