Ausgabe Februar / April 2010

Coverbild
Dorit Feldman:
"From The Serial Mapping Of Transmulation (Sunrise)"
Die Künstlerin ist 1956 in Tel Aviv geboren, wo sie lebt und arbeitet
.

Aus dem Inhalt

In voller Länge finden Sie die Artikel und vieles mehr in der Printausgabe der INW

Anlässlich des 150. Geburtstages von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus hat die INW eine Gedenkausgabe in englischer Sprache herausgebracht. Das PDF finden Sie hier.

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Konflikt USA – Israel

Von Gil Yaron

Ein schlauer Mann löst Probleme, die ein weiser Mann im Vorhinein vermeidet. Israels Premier Benjamin Netanyahu scheint nicht weise zu sein, das beweist die „schwerste diplomatische Krise im Verhältnis Israel-USA seit Jahrzehnten". Dabei geht es allen Seiten um Glaubwürdigkeit, nach außen und nach innen. Ein Kompromiss scheint unwahrscheinlich. Israels Premier Benjamin Netanyahu muss in Jerusalem seinen Patriotismus beweisen. Konzessionen in Israels „ewige, unteilbare Hauptstadt" könnten ihn zu Fall bringen. Dasselbe gilt für den Präsidenten der Palästinenser Mahmud Abbas, der daheim ohnehin für seine Gesprächsbereitschaft beschimpft wird. Sollte Abbas in Jerusalem nachgeben und verhandeln, während Israel in Ost-Jerusalem baut, hätte Abbas alle Anerkennung in der eigenen Bevölkerung verspielt. Auch US-Präsident Barack Obama ringt nach einem Jahr peinlicher Rückschläge in Nahost um Glaubwürdigkeit.

Die Verbündeten der USA wurden seit Obamas Amtsantritt an vielen Fronten zurückgeschlagen. Der Libanon befindet sich wieder in syrischer Hand. Damaskus festigt seine Bindung an Teheran, während Washington sich anbiedert. Der Iran mischt sich offen und unerschrocken in die inneren Angelegenheiten arabischer Staaten ein. Er rüstet Aufständische in Jemen, indoktriniert marokkanische Studenten und finanziert Terroristen in Ägypten und Palästina. Obama erweist sich nicht nur Teheran gegenüber als machtlos. Selbst im Umgang mit Jerusalem konnte die Supermacht keine bedeutenden Zugeständnisse erzwingen.

Israel hat, sei es durch Dreistigkeit oder Dummheit, Obama jetzt unnötig zu einer entscheidenden Kraftprobe herausgefordert.  Netanyahu könnte nun in die Enge gedrängt werden. Entweder inszeniert er sich als Verteidiger nationaler Interessen und ruft Neuwahlen aus, nachdem die Arbeiterpartei seine Koalition verlässt. Oder er schwenkt, wie seine Vorgänger, im entscheidenden Augenblick nach links, formt ein Bündnis mit der pragmatischen Kadima und lässt sich auf bedeutungsvolle Verhandlungen mit den Palästinensern ein. Doch angesichts der inneren Spaltung der Palästinenser bieten Friedensgespräche nur wenig Aussichten auf Erfolg. Es ist ein trauriges Paradox, dass die meisten Israelis für Frieden bereit wären.

Für Netanyahu hat die Stunde der Wahrheit geschlagen. Der Iran wird mächtiger und nähert sich in Riesenschritten der Atombombe. Gerade jetzt braucht Israel die USA. Der unweise Netanyahu wird viel Schläue zeigen müssen, um die jetzige Krise so zu lösen, dass nicht nur die USA und Abbas zufrieden sind, sondern er auch selbst an der Macht bleibt.

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Neue Funde am Tempelberg

Hat die Bibel doch recht?

Die Wand ist selbst für moderne Maßstäbe beeindruckend. Siebzig Meter lang schlängelt sich das sechs Meter hohe Ungetüm aus Stein in der Mitte des Moriah Bergs auf blankem Fels den Abhang entlang. Moriah ist jener Berg, der Juden als Tempelberg und Muslimen als Standort der al-Aqsa Moschee heilig ist. Sollte sich die Annahme von Elat Masar, Archäologin an der Hebräischen Universität in Jerusalem, bestätigen, wäre die Mauer aber nicht nur beeindruckend, sondern ein sensationeller Fund, der die Bibel in ein anderes Licht rückt: „Ich habe keine Zweifel – diese Mauer stammt aus dem 10. Jahrhundert vor Christus. Es gibt nur einen König, der sie errichtet haben kann: der biblische Salomo", sagt Masar.

Diese neuen Funde neben dem Tempelberg in Jerusalem könnten eine Jahrzehnte alte Debatte über die Genauigkeit der Bibel entscheiden. Die Archäologin Elat Masar will die Stadtmauern König Salomos gefunden haben. Kritiker erwarten die Untersuchung der „potentiell sensationellen Funde" mit Spannung.

Ausgrabung
Vier Kammern des salomonischen Stadttors

Das Buch der Könige berichtet von einer Stadtmauer, mit der Salomo seine wichtigsten neuen Bauwerke einfriedete: Dem ersten Tempel und Salomos Palast auf dem Berg Moriah. Es waren gewaltige Bauwerke: sieben Jahre lang sollen 30.000 Zwangsarbeiter die Baustelle des Tempels bevölkert haben, der Bau des Palasts nahm gar 13 Jahre in Anspruch. Doch bisher hielten viele Bibelkritiker dies für Übertreibung. „Je weiter man in die Vergangenheit blickt, desto ungenauer werden die Angaben der Bibel, und desto weniger außerbiblische Quellen finden sich, die die Behauptungen der Bibel bestätigen", sagt Doron Ben Ami, ein Kollege Masars. Die Geschichten der Stammesväter Abraham, Isaak und Jakob, der Auszug aus Ägypten und Josuas Eroberung Kanaans werden deswegen von vielen Archäologen und Bibelforschern ins Reich der Mythen delegiert.

Doch an König David und seinem Nachfolger Salomon scheiden sich die Geister. Die Schule der Minimalisten räumt ein, dass David eine historische Persönlichkeit gewesen sein könnte, die eine Dynastie gründete. Er soll jedoch nicht mehr als der Anführer einer Räuberbande gewesen sein, der mit Jerusalem ein völlig unbedeutendes Dorf beherrschte. Diese Annahme stützt sich auf das Fehlen beeindruckender Funde aus den Lebzeiten Davids, etwa 1000 v. Chr., in Jerusalem, zumindest bisher. Maximalisten hingegen schenkten der Bibel auch als historische Quelle Glauben.

Masar ist sich nun sicher, mit der Mauer und dem ausgegrabenen Stadttor die Argumente der Minimalisten endgültig widerlegt zu haben. Im Fußboden des Stadttores fand sie Keramiken, deren Typologie sie dem 10. Jahrhundert v. Chr. zuordnet. Hebräische Bullae und ein zerbrochenes Tongefäß, das „dem König" gewidmet war, beweisen, dass es sich nicht um kanaanitische Überreste handelt. Zusätzlich will sie „noch den Radiokohlenstoffgehalt von Olivenkernen bestimmen, die wir gefunden haben." C14 erlaubt eine Datierung mit einem Messfehler von nur wenigen Jahrzehnten.

Hielten Masars Funde den Untersuchungen ihrer Kollegen stand, „wäre der Fund eine Sensation", der die Sicht der Maximalisten tatsächlich stütze, sagt selbst Masar-Kritiker Professor Dieter Vieweger, Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEI). Eine derart gewaltige Stadtmauer und das Stadttor mit seinen vier Kammern zeugen von einer mächtigen zentralen Regierungsgewalt, wie sie das Buch der Könige beschreibt. Die Minimalisten, die David und Salomo zu kleinen Clanchefs degradierten, wären endgültig widerlegt. „Das Potential, hier noch mehr zu finden, ist gewaltig. Jeder, der an König David zweifelte, muss nur herkommen und graben. Wir haben bisher nur einen kleinen Teil des Potentials genutzt", sagt Masar. Doch das dürfte schwierig werden: direkt neben der angeblich salomonischen Stadtmauer verläuft eine Hauptstraße, auf der anderen Straßenseite befindet sich ein arabisches Stadtviertel. Dessen Bewohner werden ihre Häuser kaum verlassen, damit Israels Bewohner in der Erde nach ihren biblischen Wurzeln graben könnnen. Ben Daniel

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Die neue Direktorin

Danielle Spera übernimmt das Jüdische Museum Wien

Ddanielle Spera

Ab Juni 2010 wird Danielle Spera die Leitung des Jüdischen Museums übernehmen. Mit der Wahl der prominenten ORF Moderatorin soll mehr Medienpräsenz die Popularität des Jüdischen Museums steigern.

 Mit dem Jüdischen Museum setzt die Stadt Wien seit 15 Jahren ein Zeichen, dass die Geschichte der Stadt untrennbar mit seiner jüdischen Bevölkerung verbunden ist und dass das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Gemeinschaften in Wien heute und in der Zukunft einen zentralen Stellenwert hat. „Ich freue mich, dass mit Danielle Spera eine Persönlichkeit für die Leitung des Museums gefunden werden konnte, die diese Entwicklung weiter fortsetzen und gleichzeitig das Haus und seine Inhalte noch stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankern wird. Ich bin überzeugt, dass sie ihre Ideen für eine Öffnung des Museums zur Gesellschaft und eine starke Vernetzung dieses wichtigen Kulturstandortes im Raum Wien erfolgreich umsetzen wird", erklärt Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny.

Das Jüdische Museum Wien soll ein Kompetenzzentrum für die jüdische Kultur in Wien sein, ein Museum, das auf spannende Weise die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft der Juden in Wien erzählt und das kulturelle und gesellschaftliche Leben der jüdischen Bevölkerung präsentiert. „Mit der Entscheidung für Danielle Engelberg-Spera setzen wir auf eine künstlerische Leiterin, die es nicht nur versteht, diese Inhalte einem großen Publikum nahe zu bringen, sondern auch das Haus nach  modernen Managementmethoden führen wird", so Wien Holding-Direktor Peter Hanke.

Das Jüdische Museum Wien soll ein Ort der sozialen Interaktion werden und auf das Judentum neugierig machen. Ich möchte den Menschen die Schwellenangst nehmen und das aufeinander Zugehen von Juden und Nichtjuden durch lebendige Kommunikation fördern", sagt Engelberg-Spera. Wichtig dabei sei es, das jüdische Leben und die historischen Aspekte über Geschichten zu vermitteln.
Spera will weiters die Zielgruppe der Jugendlichen auch durch Kooperationen mit anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendbildung intensiv ansprechen und das Angebot für Familien mit Kindern ausbauen. Intensiv zusammenarbeiten wird Spera mit anderen jüdischen Museen und Gedenkstätten auf nationaler und internationaler Ebene.

Ihr Ziel ist es auch mehr die zahlreichen ausländischen Gäste für einen Museumsbesuch zu gewinnen. Ihre engen Kontakte zur jüdischen Gemeinde könnte sie auch gezielt zur Steigerung der Popularität einsetzen.

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Das jüdische Biest von Jaworzno

Buchcover Haft

Die Lebengeschichte des Hertzko Haft, 2. Teil

Lesen Sie die gesamte Lebensgeschichte des eheamligen KZ-Häftlings und Profiboxers, erzählt von Hans Pusch, in der Printausgabe der INW (12/1 2090/10, 3/4 2010)

Buchtipp

Alan Scott Haft: Eines Tages werde ich alles erzählen. Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft. Werkstatt-Verlag, 2009. 192 Seiten, € 18,50.

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Man Ray als jüdischer Künstler enttarnt ?
Eine Ausstellung im jüdischen Museum von New York

Von Daniela Nittenberg, N. Y.

Sein Bestreben, seinem Milieu zu entwachsen, ziehe sich als Leitmotiv durch Man Rays gesamtes Œuvre: so wenig er in seiner Jugend die Schranken seines Elternhauses für sich gelten ließ, so wenig akzeptierte er als Künstler althergebrachte Konventionen in der Kunst. Zeit seines Lebens lavierte er zwischen allen künstlerischen Kategorien und Stilen, was seine Rezeption bei Kritikern nicht gerade erleichterte. Erklärt der Kurator einer so eben abgeschlossenen Man-Ray-Retrospektive im jüdsichen Museum von New York, Mason Klein, den Künstler.

Man Ray mit Kamera
Selbstporträt, 1942

Merry Foresta schreibt in ihrem intelligenten Katalogbeitrag: „Ähnlich wie Baudelaires Flaneur, der durch die Menge streift und beobachtend immer etwas Abstand hält, so manövriert Man Ray durch die Kunstströmungen des zwanzigsten Jahrhunderts.  Als Künstler […] verlor er sich dabei aber letztendlich zwischen den Welten". Sein Werk, so die Ausstellungsmacher, lebe aus dem Spannungsverhältnis seiner verdrängten jüdischen Herkunft und seinem innersten Bedürfnis, sich als Künstler stets aufs Neue zu definieren.

Dass Man Rays jüdische Wurzeln der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind, ist indes nicht verwunderlich, tat doch der Betroffene selbst alles, um seine jüdische Herkunft zu verschleiern. So enthält seine 1963 von ihm verfasste, höchst selektive Autobiographie Selbstportrait nicht nur fast keine Jahreszahlen, sie unterschlägt auch völlig seine jüdische Abstammung.
Erst aus einer nach seinem Tod 1977 erschienenen Monographie erfahren wir, dass Man Ray 1890 in Philadelphia als erstes von vier Kindern russisch-jüdischer Emigranten als Emanuel Radnitzky zur Welt gekommen war.  1897 zog die Familie nach Brooklyn, wo der Vater tagsüber in einer Stofffabrik arbeitete und sich abends mit Schneiderarbeiten – in die er auch den Rest der Familie mit einbezog – ein zusätzliches Einkommen verdiente.  Der handwerkliche Aspekt – das Zusammenfügen von Stoffteilen und Materialien – wie auch die Utensilien dieser Zeit – Schablonen, Garnspulen, Nadeln, Kleiderhaken, Mannequins – sollte in der Folge immer wieder in die Bilder, Zeichnungen, Collagen und Assemblagen des Künstlers Einlass finden.

Violon d'Ingres
Le violon d'Ingres, 1924

Mannys Drang zu zeichnen wurde von den Eltern nicht gerne gesehen. In späteren Schuljahren durfte er jedoch technische Zeichenkurse belegen. Nach wenig erfolgreichen Besuchen konservativer Kunstakademien schrieb er sich 1911 schließlich in die Modern School of New Yorks Ferrer Center ein.  Der unabhängige, radikale und anarchistische Geist dieser Ausbildungsstätte hatte einen prägenden Einfluss auf sein gesamtes zukünftiges Schaffen und machte ihn insbesondere für Dada empfänglich.
Um diese Zeit fiel auch, zuerst in Alfred Stieglitz’ namhafter Galerie 291 und 1913 in der Armory Show, seine einschneidende Begegnung mit den Werken von Cezanne, Rodin, Picasso, Brancusi, Duchamp, Picabia und anderen Künstlern der Avantgarde.  Innerhalb kürzester Zeit durchlief er die verschiedensten Stilphasen der europäischen Moderne – Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Futurismus, bis er, über seine Freundschaft mit Duchamp, schließlich in Dada seine eigene Sprache finden sollte.  
Ein Schlüsselwerk der New Yorker Periode, so Mason Klein, sei das Gemälde „The Ropedancer accompanies herself with her Shadows“, aus dem Jahre 1915/16 („Der Seiltänzer, umgeben von seinen Schatten"). Das Bild weist formale Parallelen zu Duchamps La mariée mise à nu par ses célibataires, même (das Große Glas) auf, ein kunsthistorischer Bezug, auf den in der Ausstellung allerdings nicht näher eingegangen wird.  Hervorgehoben wird vielmehr die Symbolik des entmaterialisierten Tänzers im Hintergrund, der die in schrillen Primärfarben gemalten „Schatten" im Vordergrund (die an Schablonen aus der väterlichen Kleiderwerkstatt erinnern) manipuliert. In diesem Bild spiegle sich symbolisch, so Klein, Man Rays Grundkonflikt zwischen innerer Identität und öffentlicher Persona wider: Indem der Seiltänzer – der Künstler selbst – die Farbe des Hintergrunds annimmt - verschwindet er quasi hinter seinen grellen Projektionen – Surrogate, die er dem Betrachter vorsetzt, und in denen er sich dem Publikum als vielseitiger Künstler präsentiert: als Photograph, Maler, Dadaist, Poet.

Anfang 1916 wendet sich Man Ray, fasziniert von Duchamps Readymades, der Objektkunst zu, wie z.B. in seinem frühen Selbstportrait, oder in Obstruction (1920) („Behinderung" – in ironischer Abwandlung von „Abstraktion"), einer hängenden Skulptur aus Kleiderhaken, die in ihrer mathematischen Progression an einen Stammbaum erinnert und somit als weitere Anspielung auf Man Rays („obstruierende") Familiengeschichte verstanden werden kann.  In diesem Werk nimmt Man Ray die Entwicklung Calders Mobiles (ein Begriff, der auf Du–champ zurückgeht) vorweg.

In einem weiteren Schlüsselwerk der New Yorker Dada Zeit, L’Enigme d’Isidore Ducasse, einem Photo eines stoffüberzogenen Objekts – einer Nähmaschine und eines Regenschirms – sieht Mason Klein ebenfalls „verhüllte" Anspielungen auf Man Rays elterliche Kleiderwerkstatt.   
1921 verschifft sich Man Ray nach Frankreich, wo er von den Dadaisten und späteren Wortführern der Surrealisten (Duchamp, Tristan Tzara, Breton, Eluard …) mit offenen Armen empfangen wird.  In Paris ist Man Ray als Ausländer ein unbeschriebenes Blatt, ohne Religion und Klassenzugehörigkeit, was seinem Bedürfnis nach Anonymität nur Vorschub leistet.

Da die Malerei alleine ihm kein ausreichendes Einkommen sichert, verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Portrait- und Modephotograph für Vogue, Vue und Vanity Fair.  In kürzester Zeit avanciert er zum bevorzugten Photographen der Stars aus Mode und Film, die Crème de la Crème aus Kunst und Literatur von Breton, Duchamp bis zu Hemingway, Joyce und Gertrude Stein defiliert vor seiner Kamera.  Es entstehen Meisterwerke wie Le Violon d’Ingres oder Noire et Blanche, Photographien seiner Geliebten Kiki de Montparnasse, in denen der Künstler mit formalen Konventionen und Bedeutungsebenen spielt.

In die ’20er und ’30er Jahre fallen auch seine bedeutenden Leistungen auf dem Gebiet der experimentellen Photographie, wie Solarisationen und Rayographien, die ohne Kamera, durch direkte Belichtung realisiert werden, oder die Aufnahmen seiner Geliebten Lee Miller, in denen er mit Proportionsveränderungen und Lichteffekten experimentiert. 

Angesichts der sich zuspitzenden politischen Lage und dem deutschen Einmarsch im Juni 1940 sieht sich Man Ray allerdings gezwungen, Paris zu verlassen.  Nach einem kurzen Aufenthalt in New York entscheidet er sich für Hollywood, Zufluchtsort zahlreicher europäischer Intellektueller, Künstler, und ehemaliger Kollegen wie Fritz Lang, Rene Clair, Luis Bunuel und Salvador Dali. Es entsteht eine kleine Anzahl von Kurzfilmen, doch bald muss Man Ray erkennen, dass die kommerziell orientierten Studios nicht an Kunst interessiert waren.  Enttäuscht zieht er sich auf die Malerei zurück.  In seine Hollywoodperiode, die über elf Jahre währte, fällt der Großteil seiner surrealistischen Bilder.  Schattenlose Szenerien, unnatürliches Licht, verfälschte Perspektiven, entwurzelte Bäume, abgeschrägte Billardtische und einfallendes Gemäuer zeugen von einem durchdringenden Gefühl der Entfremdung und des Unbehagens.  Über Hollywood meinte er später:  „In Hollywood wuchert der Surrealismus üppiger als in den Köpfen aller Surrealisten zusammengenommen".

1946 ist er im Whitney Museum mit zehn von seinen Objects of my Affection vertreten, einer Reihe von Objektmontagen, die an seine Dada-Periode anknüpfen.  1952, als der Abstrakte Expressionismus – dem sich Man Ray bewusst entzog – die amerikanische Kunstszene erobert, kehrt der Künstler, für den Hollywood immer Exil geblieben war, mit seiner dritten Frau, Juliet Browner, schließlich nach Paris zurück.
In seiner letzten Schaffensperiode widmet er sich u.a. der Thematik von Originalität und Reproduktion und greift auf die geometrischen Zeichentechniken seiner Jugendjahre zurück. In seinem besonderen Interesse für Schatten und ihrer Subsumierung (Axiom: because the pyramid is a shadow – it cannot have another shadow, 1943) sieht Mason Klein ein weiteres Symptom Man Rays ungelöster Identitätsproblematik.
Man Rays Kurzfilme und Interviews runden die Ausstellung ab, deren hauptsächlicher Verdienst vielleicht weniger die  „Vereinnahmung" Man Rays als „jüdischer Künstler" ist, als dessen Aufwertung zur eigenständigen und komplexen Künstlerpersönlichkeit, die nunmehr aus dem Schatten Duchamps heraustritt.

Buchcover

Auf Man Rays Grabstein ist die von ihm selbst verfasste Charakterisierung „Unconcerned, but not Indifferent“ –„unbekümmert, aber nicht gleichgültig" –  als Inschrift angebracht.  Dass Man Ray auf eine Ausstellung seines Lebenswerks und die Bloßstellung seines bestgehüteten Geheimnisses „gelassen-unbekümmert" reagiert hätte, bleibt indes stark zu bezweifeln.

The Jewish Museum, 1109 5th Ave at 92nd St. New York NY 10128
Katalog: Alias Man Ray: The Art of Reinvention, by Mason Klein; with contributions by George Baker, Merry L. Foresta, and Lauren Schell Dickens. 256 S. Yale Univ. Pr., 2010. € 47,99.

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„Das Kind träumt“ von Hanoch Levin

Als Oper von Gil Shochat uraufgeführt

Die neue Oper Tel Aviv begann ihre Saison im Januar mit der Uraufführung eines Auftragswerk des 35-jährigen Komponisten Gil Shochat, der ein Drama des viel zu jung verstorbenen Enfant Terrible der israelischen Theaterwelt vertonte.

„Das Kind träumt" von Hanoch Levin war erstmals vor 17 Jahren im Theater in Tel Aviv zu sehen. Es zählt zu den modernen Klassikern Israels und greift mit seinem Thema das Nervenkostüm der meisten Israelis an. Kinder sind Symbol für Reinheit und Zukunftshoffnung, besonders in Israel, doch „das Kind" dieses Stückes wird von gnadenlosen Erwachsenen um sein Leben betrogen. Die Handlung: Ein Migrantenkind wird aus dem Schlaf gerissen, in einem Land, in dem Flüchtlinge unerwünscht sind. Wir sehen eine Metapher für den Lebensweg aus der naiven Kindheit in ein Gelobtes Land, eine wüste Ödnis, durchsetzt mit Reminiszenzen aus der Shoah. Inszeniert wurde mit Israels führendem Theaterregisseur Omri Nitzan, und der Dirigent und musikalische Leiter der Tel Aviver Oper, David Stern, lavierte sein großes Orchester durch die ungewöhnliche Komposition, ebenso die 20 israelischen Solo-Sänger, die ihre Texte natürlich in hebräischer Sprache sangen.

Ob die Vertonung dem ironisch-grotesken Ausdruck Hanoch Levins Stück gerecht wird, ob diese Musik nicht zu sehr ins Süßliche abrutscht, gab Anlass zu heftigen Diskussionen in Israels Medien, manifestierte aber auch die Relevanz dieses Events.

Bühnenbild und Kostüme sind jedoch unumstritten und von ungemeiner Schlagkraft und dafür war nur einer in Frage gekommen, sagt Operndirektorin Chana Munitz: „Im Moment, als die Idee entstand, diese Produktion zu machen, und davon die Rede war, einen Designer zu suchen, war die erste Idee in meinem Kopf Gottfried Helnwein. Sie dachte dabei an die 100 Meter lange Bilderstraße großformatiger Abbildungen (jeweils vier mal zweieinhalb Meter) von kalkweißen Kindergesichtern, zarte Geschöpfe, wie zur Selektion aufgereiht, die sie in einer Installation zur Erinnerung an die Pogromnacht von 1938 erstmals am 9. November 1988 in Köln zwischen dem Museum Ludwig und dem Dom entlang der Eisenbahnlinie des Hauptbahnhofs errichtet wurde.

Helnwein: Kinderfotos

Dieser Bürgerschreck unter Österreichs Künstlern hatte bereits in den achtziger Jahren seine seelische Affinität zu Hanoch Levin und seinen Dramen entdeckt: „Die Bilder, die er heraufbeschwört, sind so brutal und erschütternd.... – ich hab das gelesen und gedacht, im Prinzip beschreibt er meine Bilder", sagt Helnwein. „Und für mich war das so etwas wie Epiphanie.“

Für Tel Aviv hat er die Reihe überlebensgroßer Gesichter um Exponate einiger Kinder erweitert, die 2010 in Israel leben, verletzte, behinderte, misshandelte, christliche, arabische, jüdische „zarte Geschöpfe", wie er sie nennt. Schon bei der Montage der Arbeiten sei Helnwein von vorbeigehenden Passanten gefragt worden, welches denn die israelischen Kinder wären, worauf er rief: „Dies ist ganz genau der Punkt an der Sache!" Unter den Arbeiten liest der Besucher in großen Lettern ein Wort: „Selektion"

Am Abend der Uraufführung gab das österreichische Kulturforum der Botschaft in der Oper einen kleinen Empfang, bei dem Helnwein und Munitz genug von ihrer persönlichen Geschichte preisgaben, um den Zuhörern verständlich zu machen, wie sehr sie die Kindheit im Nachkriegsösterreich bis heute quält, einer freudlosen Zeit in der das helle Lachen der Kinder erstarb, einer Zeit der verbissenen Lautlosigkeit, als die Gesellschaft die Gräueltaten in der Shoah durch Schweigen Lügen strafte. Munitz berichtet, dass sie in ihrer Familie Kind des einzigen Überlebenden der Selektionen war und somit tiefe Empathie für die Kinderopfer empfindet.

Als Bühnenbild der Oper sahen wir nun in der ersten Szene das monumentale Gesicht eines schlafenden Kindes, "weil dieses Stück für mich subjektiv zumindest genau das ist, was ich mit meinen Bildern immer ausdrücken wollte". Es erinnert an die Kindergesichter auf dem Vorplatz der Oper – Das Gesicht spricht von Schmerz, Not, Hunger ... Die Oper sei deswegen so aktuell, sagt Helnwein,"weil Kinder in den Konflikten immer noch die ersten seien, die draufzahlen". Krass überfällt uns am Ende der Oper Helnweins beklemmendes Schlussbild: Über der Bühne hängen echte Kinder, zappelnd, in blutige Bandagen gehüllt. "Worauf das Ganze hinarbeitet, ist dann ein Berg von toten Kindern, die immer noch auf die Erlösung warten – ein großer unendlicher schwarzer Raum mit unendlich vielen Kindern, die in diesem Raum festhängen, und wo immer Sie hinsehen, es sind Kinder, Kinder, Kinder, tote Kinder, und die flüstern zueinander und reden, in dem Fall werden sie singen, weil es eine Oper ist", erklärt Helnwein diese Vision. Barbara Kempinski

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Letzte Änderung: 24.02.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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