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Ausgabe Mai/Juli 2009

Aus dem Inhalt der aktuellen Ausgabe

Coverbild
Das Titelbild ist diesmal eine Collage aus
Bildern von Tel Aviv anläßlich des 100jährigen
Jubiläums der "weißen Stadt".


Vision einer Wissenschafts-Großmacht

Eine Hommage an Ephraim Katzir

Es ist noch schwer, über Prof. Ephraim Katzir in der Vergangenheitsform zu schreiben. Es gibt wenige Menschen, die sich in so hohem Alter und in so einer schwierigen körperlichen Verfassung geistige Klarheit und starke Leidenschaft für die Wissenschaft bewahrt haben. Ich erinnere mich gut an unsere Gespräche in seinen letzten Lebensmonaten, in denen er sich als überraschend beschlagen in Fragen der neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen in Nanotechnologie und Hirnforschung erwiesen und mich mit seinen klaren und präzisen Einsichten erstaunt hat. Man sagt, dass Weise je älter desto weiser werden, und Katzir war ein wahrer Weiser, der reifte.

E. Katzir

Doch ist dies nur eine Seite seiner komplexen Persönlichkeit: Ein wissenschaftliches Genie, das weit ab vom akademischen Elfenbeinturm für die Sicherheit des Staates Israel aktiv war, ein Mensch, der seinen geliebten Bruder Aharon bei einem Terroranschlag verlor, aber dennoch ein Mann des Friedens blieb, ein Mann, der der sozialistischen Jugend entwuchs und die Sicherheits- und Biotechnologie Industrie in Israel gründete; ein herausragender Forscher, der in den renommiertesten Forschungseinrichtungen der Welt zuhause war, aber auch im College für Ingenieurwesen in Karmiel, und schließlich ein herausragender Gelehrter, der der Bitte des Ministerpräsidenten entsprach und zum Präsidenten und Staatsmann wurde.

Eine der einzigartigten und und am meisten beeindruckenden Charakteristika Katzirs war seine Verbindung von Vision und Praxis. Er erkannte im zionistischen Projekt und in der Gründung des Staates eine zentrale Mission von Wissenschaftlern und Forschern. Wenngleich die wissenschaftliche Forschung das Zentrum seines Schaffens und seiner Identität darstellte, verstand er die Bedeutung ihrer Integration in den Staat. Als Soldat diente er als Kommandant des Wissenschaftskorps. Er erfand die Einrichtung des „ersten Wissenschaftlers" in den Regierungsministerien, amtierte als erster Wissenschaftler im Verteidigungsministerium und war an der Gründung des Nationalen Rats für Forschung und Entwicklung beteiligt.

Was lässt sich heute vom Vermächtnis Katzirs umsetzen? Das Wichtigste ist das Verständnis der Rolle des Wissenschaftlers als herausragender öffentlicher Sendbote. Die eigentliche wissenschaftliche Beschäftigung, so wichtig und spannend sie auch ist, ist nur ein Teil der Aufgaben des Gelehrten. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, in allen Bereichen an der Spitze des israelischen Tuns zu stehen: in Erziehung, Forschung, Industrie, Politik und Sicherheit. Es ist an uns, die wissenschaftlichen Kenntnisse, die wir erwerben, der Gesellschaft und der Industrie zu vermitteln. Eine Gesellschaft, in der Leute von der Universität an der Lenkung der Staatsgeschäfte teilhaben, ist eine bessere Gesellschaft, die das Gedeihen des Staates Israel auf höchstem Niveau herbeiführen kann.
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat oftmals an seine Vision erinnert, dass der Staat Israel eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt besitzen möge. Der Schlüssel zu einer solchen Zukunft ist der Aufbau einer israelischen Gesellschaft, die eines der größten Humankapitale der Welt aufweist. Wissenschaftler, die sich selbst als Sendboten der Öffentlichkeit betrachten, die sich die Vision der Gebrüder Katzir verinnerlichen, sind die besten Partner bei der Verwirklichung dieses Ziels. Ehud Gazit
Prof. Gazit ist Stellvertreter des Präsidenten für Forschung und Entwicklung an der Universität Tel Aviv und Inhaber des Lehrstuhls für Nanobiologie.

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Zeitzeugen in der Schule

Ein Erfahrugnsbericht von Karl Pfeifer

Das Unterrichtsministerium unternimmt viel, damit die Schulen Zeitzeugen einladen, zumal es in wenigen Jahren keine Zeitzeugen mehr geben wird, die über ihre Erfahrungen während der NS-Herrschaft berichten können. Trotzdem nehmen viele Schulen die Chance nicht wahr. Dafür kann es einige Gründe geben, vielleicht wirken noch die langen Jahre des „Opfermythos“ nach oder will sich auch mancher Lehrer nicht engagieren, denn „man kann ja nie wissen“ wer Österreich in ein paar Jahren regieren wird. Es handelt sich um Erinnerungsabwehr oft gewürzt mit der Begründung, dass man doch Schülern, deren Eltern eingewandert sind, nicht zumuten kann, diesen Teil der österreichischen Geschichte kennen zu lernen.

In der Schule

Wenn dann etwas passiert, wenn Schüler „die Sau rauslassen“ ist schnell die Ausrede bereit, dass das Thema NS-Vergangenheit tabuisiert sei. Doch dort wo gute Geschichtslehrer wirken, gibt es keine Tabuthemen.

Österreichische Rechtsextremisten verteufeln die politische Bildung als Gehirnwäsche, denn informierte Jugendliche fallen in der Regel nicht auf sie herein. Aber auch in einer linken Wochenzeitung wurden Zeitzeugen, die über den Holocaust reden, ausgerechnet vom Holocaustgeschäftsautor Norman Finkelstein pauschal beschuldigt:  “Jeder, der darüber redet, hat ein finanzielles oder politisches Interesse. Ob es darum geht, Israels Kriminalität zu rechtfertigen oder die Reinheit der Deutschen zu beweisen”.

Wenn ich mehr als sieben Stunden nach Rankweil, Vorarlberg fahre, um dort zwei Stunden als Zeitzeuge vor 120 Schülern zu sprechen und Fragen zu beantworten, dann habe ich sicherlich kein finanzielles Interesse. Ein politisches Interesse aber habe ich, nämlich, dass den Schülern demokratische Werte beigebracht werden, dass Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zurückgedrängt werden. Wer so wie ich das Glück hatte zu überleben, hat gerade deswegen die moralische Pflicht nicht zu schweigen.

Seit einigen Jahren gehe ich als Zeitzeuge in österreichische Schulen, um meistens 14-15 jährigen Schülern von einer unbeschwerten Kindheit in meiner Heimatstadt Baden bei Wien zu erzählen, die im Frühjahr 1938 zu einem jähen Ende kam, von der Flucht nach Ungarn und wie ich dort binnen kürzester Zeit die mir fremde Sprache erlernen musste. Ich rede 20 – 25 Minuten und dann haben die Schüler 100 Minuten Zeit ihre Fragen zu stellen, aus denen ich oft Neugierde, Mitgefühl und Empathie erfahre.
Schüler können die Erfahrungen, die ich 1938 gemacht habe, durchaus nachvollziehen und gerade auch Schüler mit Migrationshintergrund. Natürlich zeige ich immer wieder auf den Unterschied zwischen dem Naziregime und der heutigen Republik Österreich.

Es ist gut, dass die Schüler jede Frage, die sie beschäftigt, stellen können und es kommen auch sehr persönliche Fragen, die nicht immer leicht zu beantworten sind.
Die Frage, wie es mir ergangen ist, als ich in kürzester Zeit ungarisch lernen musste und was dann passierte, wird sehr häufig gestellt weil das eine Erfahrung ist, die einige Schüler selbst gemacht haben. Oft wird gefragt „warum werden Juden gehasst?“, „Was ist Antisemitismus?“ oder  „Was würden Sie einem Nationalsozialisten sagen?“

Manchmal kommen auch Fragen zur aktuellen Politik, was ja kein Wunder ist, werden doch diese Schüler in ein-zwei Jahren wählen können und fast immer werde ich angesprochen auf Fremdenfeindlichkeit heute und hier. Mancher Lehrer ist auch besorgt über solche Erscheinungen an seiner Schule.
Im Rahmen des Zeitzeugenprogramms des BMUK wurde heuer im März in
Kirchdorf an der Krems der 87 Minuten dauernde Film über mein Leben 16-18 jährigen Schülern gezeigt und ich war überrascht über die Aufmerksamkeit der 120 Schüler und die 90 Minuten danach, in denen ich ihre intelligenten, gut formulierten Fragen beantwortete. Einige Schüler stellten auch Fragen zum Islamismus und Rechtsextremismus und ob dieser unaufhaltsam sei.
So gut ich kann, versuche ich alles zu beantworten, moralisiere und agitiere nicht. Wenn ich einmal keine Antwort weiß oder mir nicht sicher bin, dann sage ich es. Ich erfahre immer wieder, dass dies von den Schülern honoriert wird.

Engagierte Lehrer laden mich durchschnittlich viermal im Jahr ein und ich merke, dass sie bei ihren Schülern das selbstständige Denken fördern und mit der unheilvollen Tradition des Schweigens und Verschweigens gebrochen haben.
Spannend sind oft die Gespräche, die ich mit den Lehrern führe. Einige haben Geschichte studiert, weil in ihrer Familie über die Jahre 1938 – 1945 geschwiegen wurde. Zum Beispiel: Ein Lehrer, der oft versuchte mit seinem Vater über diese Zeit zu sprechen, stieß auf ein beharrliches Schweigen. Doch als sein Sohn, der gerade seinen Zivildienst absolviert von einer Tagung in Buchenwald zurückkam und dies erwähnte, sagte sein Großvater unvermutet: „Ich war auch in Buchenwald, aber auf der anderen Seite“. Mehr wollte er nicht sagen. Ein anderer Lehrer erzählt von seinem Vater,  der bei der Waffen SS war. 1970 als Bruno Kreisky Bundeskanzler wurde, schimpfte sein Vater auf „die Juden“, was ihn veranlasste
Geschichte zu studieren.

Allein dies zeigt, wie sehr sich Österreich –  seit meiner Rückkehr aus der Vertreibung im Herbst 1951 –  geändert hat. Ich war damals 23 Jahre jung und staunte, wenn ausnahmsweise jemand sich interessiert zeigte, zu erfahren was ich in der Zeit nach dem „Anschluss“ erlebte. Als ich ansetzte etwas darüber zu erzählen, wurde mir einige Mal geantwortet: „Auch wir haben gelitten“, was mich zum Schweigen brachte.

Die jüdischen Österreicher wurden Opfer der „ersten Opfer“, wie Helmut Zilk einmal bemerkte und deswegen mussten Jahrzehnte vorbeigehen,  bis ich als Mitglied des Kuratoriums des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes und als alter Mann über diese Zeit öffentlich sprechen konnte.

Karl Pfeifer, Mitarbeiter der INW flüchtete 1938 mit seinen Eltern nach Ungarn. Er war von 1982 bis 1995 Redakteur des offiziellen Organs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und arbeitet als freier Journalist. Der von fünf jungen Österreichern gedrehte Film  „Zwischen allen Stühlen, Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer“ wurde seit September 2008 achtmal in Österreich und viermal in Deutschland gezeigt.

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Politische Bildung in Österreichs Schulen wird verbessert

Ein Versprechen von Kanzler Faymann und Ministerin Schmied

„Wir müssen gegen Aussagen reagieren, die gegen Religion und einzelne Gruppen von Menschen gerichtet sind“, sagte Bundeskanzler Werner Faymann. Gemeinsam mit Bildungsministerin Claudia Schmied  nahm er im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes zum Thema „Verbesserung der politischen Bildung an den Schulen“ Stellung. Denn, wenn die einen aufhetzen und die anderen schweigen, müsse der Eindruck entstehen, das Ganze sei gar nicht so schlimm, formulierte Faymann. Man dürfe es diesen Aufhetzern nicht zu leicht machen, selbst „wenn wir damit nicht immer sofort Erfolg haben“. Deshalb dürfe dieses Thema nicht nur im Parlament oder bei anderen öffentlichen Anlässen diskutiert werden. Toleranz, Menschlichkeit und Respekt vor anderen seien unerlässlich und müssten deshalb vor allem auch bei der politischen Bildung unserer Jugend Schwerpunkt sein.

Für außerordentlich wichtig hält Faymann die Erfahrungen der Jugendlichen vor Ort. Derzeit besuchen rund 60.000 Schülerinnen und Schüler Gedenkstätten, wie das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen. „Ich möchte, dass jeder österreichische Schüler und jede österreichische Schülerin im Laufe ihrer Schulzeit einmal eine Gedenkstätte zu den Verbrechen des Nationalsozialismus besuchen“, sagte Faymann. Er selbst habe gerade im direkten Kontakt mit Zeitzeugen, etwa mit Rosa Jochmann, viel über Toleranz und gegenseitigen Respekt erfahren und gelernt. Eine solche Erfahrung könne man am besten im persönlichen Umgang – leider leben immer weniger Zeitzeugen – oder bei einem Besuch am Ort des Leidens machen.

Um dies noch mehr Jugendlichen zu ermöglichen, werden künftig Sondermittel, vor allem für Berufsschulen, zur Verfügung gestellt. „Die jüngsten Vorfälle in Ebensee und Auschwitz dürfen nicht dazu führen, dass sich Lehrkräfte nicht mehr über das Thema trauen“, sagte Schmied. Deshalb sollen noch weitere Schritte für eine bessere politische Bildung an den Schulen gesetzt werden. Schmied nannte unter anderem eine bessere Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer, eine noch engere Kooperation mit dem Mauthausen-Komitee, mit dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich und der Demokratiewerkstatt des österreichischen Parlaments. Jene Lehrerinnen und Lehrer sowie jene Schulen, die in diesem Bereich besonders hervorragende Arbeit leisten, sollen künftig als Vorbilder besser hervor gehoben werden.

Deshalb werde der nächste österreichische Schulpreis der Arbeit für Toleranz, politische Bildung und Antifaschismus gewidmet. Das gelte auch für das Bundesehrenzeichen des Bildungsministeriums.

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Ein Kompromissloser Kämpfer

Am 3. Juni wäre der Künstler Georg Chaimowicz 80 Jahre alt geworden.

1929 in Wien geboren, wurde er 1939 von den Nationalsozialisten aus seiner Heimatstadt vertrieben. Nach seiner Flucht über Brünn, Prag, Amsterdam gelangte er nach Bogotá (Kolumbien) wo er an der Escuela de Bellas Artes de la Universidad Nacional in Bogotá studierte.

Chaimowicz

1949 kehrte er nach Wien zurück, um sein Studium an der Akademie der Bildenden Künste bei Sergius Pauser, Herbert Boeckl und Martin Polasek fortzusetzen. Der politische Künstler legte in seinem malerischen, zeichnerischen und plastischen Werk faschistische Züge bloß. Erste politische Zeichnungen stammten aus den Jahren 1938/1939, in denen der zehnjährige seine abgrundtiefe Abneigung gegen Hitler ausdrückte, indem er ihn zeichnete und mit dem spitzen Bleistift durchbohrte.

Chaimowicz suchte stets die politische wie künstlerische Auseinandersetzung und hörte nie auf, Antisemitismus und Rechtsradikalismus anzuklagen. Er nannte die Dinge beim Namen und scheute auch nicht gerichtliche Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Neben satirisch-politischen Zeichnungen entwickelte er in seiner Kunst eine zeichenhafte, auf wenige Spuren reduzierte Formensprache. Oftmals verwendete er weiße Farbe auf einer weißen Leinwand, wodurch diese strukturiert wurde. Andererseits bearbeitet er die Fläche mit Kratzern und Ritzungen.

Die Kunsthistorikerin und Judaiistin Felicitas Heimann Jelinek schrieb in ihrem Nachruf 2003 in der Illustrierten Neuen Welt: Es handelt sich um Blätter, die nur kaum sichtbare Male aufweisen, von denen der Betrachter nicht weiß, ob sie verletzen sollen oder selbst Verletzungen sind. Die unscheinbaren Male irritieren den Betrachter, fordern ihn heraus zur Frage nach seinem Sinn, zur Frage, was man denn nun hier sieht, bis zur Frage, was man denn nun hier nicht sieht. Für Chaimowicz lag der Erkenntnisgewinn nicht in diesen Bildern, sondern in dem Prozess, in dem sie entstanden, einem Prozess, der sich dem Betrachter nur mitteilt, wenn er sich auf eine völlig losgelöste, meditative Schauweise einlässt.

Jahrelang war der in Vence (Frankreich) und Wien lebende Künstler Mitarbeiter der Illustrierten Neuen Welt. In den 1990er Jahren kommentierte er Zeichnungen aus den 60ern, die als Beilage der Zeitung beigefügt wurden. Auch einige Heftcover zierten Werke des Künstlers.

Chaimowicz erhielt im Jahre 1995 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 1999 das Goldenen Ehrenzeichen des Landes Wien und im Jahr 2000 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse.

Am 18. Juni wurde in der Reihe „Museum unter der Lupe” des Jüdischen Museums das Werk „Die weiße Leere” von Georg Chaimowicz von Reinhard Geir, der 1999 die Chaimowicz-Retrospektive anlässlich des 70. Geburtstages des Künstlers kuratiert hatte, besprochen. Im Rahmen einer Feier im Jüdischen Museum würdigte damals Kulturstadtrat Peter Marboe den vielseitigen Siebzigjährigen: „Er ist ein unbequemer Zeitgenosse, der sich sein Leben lang treu geblieben ist in seinem Kampf gegen den Ungeist von Intoleranz, altem und neuem Faschismus und Inhumanität.” Petra M. Springer

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Die Gemälde der Familie Goudstikker

Eine Ausstellung restituierter Bilder in New York

Ölbild Van Goyen
Jan Josefsz van Goyen: Blick auf die alte Maas bei Dordrecht, 1651
Öl auf Leinand, Dordrechts Museum, Dordrecht

Reclaimed: Paintings from the Collection of Jacques Goudstikker ist der programmatische Titel einer kürzlich im Jüdischen Museum in New York eröffneten Ausstellung. Programmatisch deshalb, da die Schau nicht nur Einblick in die außergewöhnliche Sammlung des prominenten holländischen Kunsthändlers Jacques Goudstikker bietet, sondern auch weil sie den Aspekt der Rückerstattung dokumentiert, die Goudstikkers Erben schließlich nach jahrelangen Bemühungen durchsetzen konnten. Die Ausstellung ist dementsprechend nicht nur rein kunsthistorisch ausgerichtet, sondern beinhaltet auch Originaldokumente, wie zum Beispiel Goudstikkers Notizbuch, und geschichtliche Daten und Fakten, die auf die historische Bedeutung der Rückgabe des gestohlenen Raubguts hinweisen.

Jacques Goudstikker war einer der wichtigsten und erfolgreichsten europäischen Kunsthändler der Zwischenkriegszeit. Seine Galerie spezialisierte sich auf holländische und italienische Meister des 15., 16. und 17. Jahrhunderts. Zu Goudstikkers Kunden zählten einflussreiche Sammler und Museen in Europa und Übersee, wie das Rijksmuseum in Amsterdam, das Mauritzhaus in Den Haag, das Metropolitan Museum in New York oder die National Gallery in Washington. Goudstikker führte ein extravagantes Leben, organisierte prächtige Feste, seine originellen, Neuland beschreitenden Ausstellungen – in denen er beispielsweise Stillleben des 17ten Jahrhunderts jenen Picassos und Matisse’ gegenüberstellte – erwiesen sich als richtungweisend.

Kurz nach dem Einmarsch der Nazis im Mai 1940 ergriffen Jacques Goudstikker und seine Familie die Flucht. Die Mehrzahl der insgesamt 1400 Kunstwerke seiner Sammlung wurde für Hermann Göring nach Deutsch verschifft, der Rest verblieb in der Galerie, die von Görings Helfer Alois Miedl weiterhin unter dem Namen Goudstikker geführt wurde.

goudstikker
Jacques Goudstikker

Jacques Goudstikker kam indessen auf der Flucht ums Leben, seine junge Frau, die Wiener Sängerin Désirée von Halban Kurz konnte sich und ihren neugeborenen Sohn Edo in die Neue Welt retten. Gerettet werden konnte auch jenes in schwarzes Leder gebundene Notizbuch, in das Goudstikker sorgfältig jedes einzelne seiner Werke eingetragen hatte. Dieses Notizbuch sollte in der Folge eine maßgebliche Rolle spielen, diente es doch Goudstikkers Familie als Basis ihrer für ihre Rückstellungsanforderungen.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die Alliierten über 200 Werke Goudstikkers in Deutschland ausgemacht und diese, in der Annahme der Rückstellung an ihren rechtmäßigen Besitzer, in die Niederlande zurückgesandt. Die Niederlande weigerten sich jedoch, die mittlerweile in die staatlichen Sammlungen einverleibten Werke zurückzuerstatten. Nach dem Ableben Désirées und ihres Sohnes Edo, betrieb dessen Witwe Marei von Saher gemeinsam mit ihren Töchtern die Rückstellung der gestohlenen Werke. Nach fast einem Jahrzehnt gerichtlicher Auseinandersetzung stimmte die holländische Regierung schließlich im Jahre 2006 der Restitution von 200 von den Nazis geraubten Werken zu. Die Hälfte dieser Gruppe ist seither veräußert worden – unter anderem auch, um die horrenden Anwaltskosten zu begleichen. Ein Teil der restlichen Werke – etwa. 50 – ist nun im Jüdischen Museum in New York zu sehen.

Die Ausstellung beinhaltet keineswegs nur Meisterwerke. Die Auswahl führt vielmehr Goudstikkers ausgezeichneten Geschmack vor Augen, seine sichere Hand, sein scharfes Auge für exquisite Qualität, die von hoher Expertise und feinsinniger Intelligenz eines Sammlers und Händlers zeugen, der seiner Zeit immer einen Schritt voraus war. Unter den gezeigten Gemälden finden sich u. a. auch Meisterwerke wie eine Patinier Landschaft, Vertreibung der Hagar (letztes Viertel des 16. Jh.), Pieter Lastmans David übergibt Uria einen Brief für Joab (1619), Salomon van Ruysdaels Flusslandschaft mit Fähre (1649), eine van Goyen Ansicht von Dordrecht (1651), zwei Portraits von Paul Moreelses - Philip Ram und seine Gemahlin Anna Strick van Linschoten (1625), Ferdinand Bols Portrait von Louise-Marie Gonzaga de Nevers, Königin von Polen oder auch Jan van der Heydens Ansicht von Schloss Nyenrode Goudstikker hatte das Gut selbst für sich erworben und erlaubte der Öffentlichkeit in den Sommermonaten den Zugang.

Die Ausstellung wurde von Peter Sutton, dem Kurator des Bruce Museums in Greenwich, Connecticut ursprünglich in chronologischer Reihenfolge konzipiert. Gemeinsam mit dem Jüdischen Museum zeichnete er auch für den Katalog verantwortlich. Das Jüdische Museum (Kuratorin: Karen Levitov) seinerseits organisierte die Schau thematisch und bettete sie in einen historischen Kontext, der dem Publikum auch die Nazi Ausschreitungen des Zweiten Weltkrieges und die immer noch aktuelle Problematik der Enteignung und Rückerstattung vermitteln soll. Daniela Nittenberg, N. Y.

Unter den Sponsoren sind unter anderem die Rechtsanwaltskanzlei Herrick and Feinstein, LLP und die Claims Conference hervorzuheben. Die Ausstellung wird weiters im McNay Art Museum, San Antonio, in Texas (7 Oktober 2009 bis 10 Jänner 2010), im Norton Museum of Art, West Palm Beach in Florida (13 Februar bis 2 Mai 2010) und im Contemporary Jewish Museum, San Francisco in Kalifornien (30 Oktober 2010 bis 8 März 2011) zu sehen sein.

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Chaim Nachman Bialik (1873-1934)

Über den hebräischen Dichter und Essayisten

Chaim Nachman Bialik gehört zu den größten modernen hebräischen Dichtern. Als Essayist, Erzähler, Übersetzer und Herausgeber übte er tiefen Einfluss auf die jüdische Kultur aus.

Chaim Bialik

Bialik wurde im Dorf Radi, in der Nähe von Schitomir in Wolhynien, geboren. Der aus einer Gelehrtenfamilie stammende Vater war durch seine Unerfahrenheit in geschäftlichen Angelegenheiten verarmt. Für beide Elternteile war dies die zweite Ehe. Trotz der bitteren wirtschaftlichen Umstände, denen die Familie ausgesetzt war, rufen einige von Bialiks besten Gedichte idealisierend die bezaubernden Stunden zurück, in denen Bialik als Kind in den geheimnisvollen Schatten der Wälder spielte. Andere Gedichte erzählen von Einsamkeit und elterlicher Vernachlässigung.

Im Alter von sechs Jahren übersiedelte Bialik mit seinen Eltern nach Schitomir, da sie auf der Suche nach einem Lebensunterhalt waren. Der Vater musste sich mit der Führung eines Wirtshauses am Stadtrand von Schitomir begnügen. 1879 starb Bialiks Vater und die Witwe vertraute ihren Sohn der Obsorge des wohlhabenden väterlichen Großvaters an. Zehn Jahre lang wurde das begabte, aber schlimme, Kind Chaim Nachman von einem strengen und frommen alten Mann erzogen. Zuerst unterrichtete man ihn im traditionellen Cheder, aber ab seinem 13. Lebensjahr führte er seine Studien allein weiter.

Im Sommer 1891 verließ Bialik die Jeschiwa und ging nach Odessa, dem Zentrum der modernen jüdischen Kultur in Südrussland. Der literarische Kreis, der sich um Achad Ha Am gesammelt hatte, zog ihn an, und Bialik hegte den Traum, in Odessa werde er fähig sein, sich auf den Eintritt in das moderne orthodoxe Rabbinerseminar von Berlin vorzubereiten. Ohne Geld und allein, verdiente er eine zeitlang seinen Lebensunterhalt als Hebräischlehrer, während er seine Studien der russischen Literatur und deutschen Grammatik fortsetzte.

Bialik Statue
Denkmal in Ramat-Gan

Anfangs gelang es dem scheuen jungen Mann nicht, in das literarische Leben der Stadt involviert zu werden, aber sein erstes Gedicht, in dem er seine Sehnsucht nach Zion ausdrückt, wurde von den Kritikern wohlwollend aufgenommen. 1903 schockten die Pogrome von Kischinew die zivilisierte Welt. Nachdem Bialik mit einigen Überlebenden des Massakers gesprochen hatte, schrieb er das Gedicht „Al haSchechitah" („Auf der Schlachtbank"), in dem er den Himmel aufruft, entweder sofort Gerechtigkeit zu üben oder die Welt zu zerstören, denn Vergeltung allein ist nicht genug.

Verflucht sei der, der sagt "Rache!"
Vergeltung für das Blut eines kleinen Kindes
Hat sich Satan noch nicht ausgedacht.

1904 entstand das Gedicht „Be Ir HaHaregah" („In der Stadt des Schlachtens"), in dem Bialik die laue Verurteilung des Massakers anprangert. Er ist erbittert wegen der fehlenden Gerechtigkeit und erschlagen durch die Gleichgültigkeit der Natur:

Die Sonne schien, die Akazien blühten, und die Schlächter schlachteten.

1921 gehörte Bialik zu einer Gruppe hebräischer Schriftsteller, die auf Intervention Maxim Gorkis die Sowjetunion verlassen durften. Nach drei Berliner und Hamburger Jahren übersiedelte Bialik 1924 nach Tel Aviv, wo er den Rest seines Lebens verbrachte.

Einen Auszug aus einem TExt von Ernst Simon über Chaim Nachman Bialik aus dem Jahr 1935 finden sie in der Printausgabe.

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Tamar, die Kulturstätte

Ein Café spiegelt die Geschichte

Inmitten der Shenkinstraße, wo sich das pulsierende Leben abspielt, wo man die neuesten Trends in Mode und Insiderkultur verfolgen kann, befindet sich das Café Tamar. Relikt vergangener Tage und Treffpunkt der Kulturszene Tel - Avivs 1941 gegründet, spiegelt es heute die Geschichte Israels wider.

Sarah Stern
Sarah Stern, Seele des Cafés

Das älteste noch existierende Café Tel Avivs ist selbst mittlerweile ein Teil der Stadtgeschichte und der gastronomische Zufluchtsort der neuen und alten Linken.

Die meisten Stammgäste wurden bereits vor der Staatsgründung geboren und waren aktiv an dieser beteiligt. Seine großen Sternstunden hatte das Café in den 80er und 90er Jahren, als die Sheinkin-Straße als Ort der alternativen Kultur und der Friedensbewegung in Israel zum Mythos wurd . Solange die von der Gewerkschaft finanzierte Tageszeitung „Davar“ noch erschien, die im Nachbarhaus ihre Redaktion beherbergte, traf sich hier die intellektuelle Szene, die Autoren, Denker, Grafiker und Fotographen, und alle, die dazu zählen wollten.

Auch heute noch sind die Gäste bunt gemischt. Künstler sowie Lebenskünstler, Journalisten und Schaulustige, sie alle kommen ins Café Tamar um zu sehen und gesehen zu werden . Ein ziemlich einmaliger Platz, in dem sich israelische Geschichte und Gegenwart mischen. Die mit Fotos, Zeichnungen und Plakaten drapierten Wände geben eine Ahnung von der Geschichte des Tamar. Keiner ist so oft wie Yitzhak Rabin abgebildet, Israels Premier, der die Sehnsüchte des Friedenslagers verkörperte und von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. "4.11.95" – diverse Aufkleber mit dem Todesdatum fallen ins Auge. Yoram Kanjuk berühmter international bekannter, in vielen Sprachen übersetzter israelische Schriftsteller, und jahrelanger Stammgast über das Café Tamar: „ Es ist eine Institution, wie die Habima das Nationaltheater oder die Philharmonie ein letztes Stück echtes, altes Tel-Aviv, Erinnerung an eine Zeit als es noch kein Fernsehen, keine Cocktail-Bars und keine Internet-Cafés gab.“

Café innen

Das Café erinnert an die alte Wiener Kaffeehausatmosphäre, in der Literaten sich in Szene setzen und über Politik, Gesellschaft und Kunst heftig diskutierten. Persönlichkeiten wie Joram Kanjuk, der auch ein Buch über den kürzlich verstorbenen Kommandanten der legendären Exodus, Jossi Harel, ebenfalls Stammgas, geschrieben hat sowie Rafi Eitan einstiger Eichmannjäger und jetziger Chef der Pensionistenpartei, Philipp Rosenau ein mit dem Humboldtpreis ausgezeichneter Mathematiker und Poet, Grafiker David Tartakover, Schriftsteller Giora Leshem und Shaul Biber und viele andere treffen einander um in manchmal auch heftigen Debatten ihre Meinungen auszutauschen.

Die Seele dieses einzigartigen Treffpunkts ist die legendäre Sarah Stern,1925 in einer der ersten landwirtschaftlichen Siedlungen geboren, war sie 1945 mit der britischen Armee in Ägypten und übernahm 1956 das Café Tamar. Sie überblickt alle, übersieht niemanden, für sie ist jeder Gast gleich wichtig, egal ob er prominent oder fremd ist. Spezialität des Hause ist der "Toast Tamar", den die Chefin eigenhändig zubereitet. Der rüstigen und aktiven Chefin wird der Rummel, um ihre Person und das Café angesichts des 100. Geburtstages Tel Avivs fast zuvie. Nachdem Kamerateams und Journalisten tagelang ihr Café in Beschlag genommen haben, sehnt sie sich wieder nach der Normalität im Café Tamar, falls es solch eine gibt. J.N.

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Alma in Jerusalem

Paulus Manker bringt Joshua Sobols Theaterstück nach Israel

Nach monatelangen zähen Vorbereitungen ist es gelungen, die „Alma“ von Joshuah Sobol in der weltweit anerekannten Inszienierung von Paulus Manker nach Israel zu bringen.
In Kooperation mit dem CameriTheater werden im Oktober in Jerusalem 20 Vorstellungen zu sehen sein. Eine internationale Galapremiere eröffnet am 3. Oktober die Spielserie.

Aufführungsort

Das facettenreiche Leben der legendären Alma Mahler Werfel, Muse vieler Künstler, spielt an verschiedenen Orten und das Besondere daran ist, dass die Zuschauer den Schauspielern folgen und in verschiedenen Szenen und Dialogen das Leben dieser faszinierenden aber auch umstrittenen Frau nachvollziehen.

Sehr speziell ist die Location: Das ehemalige Gefängnis der britischen Mandatsverwaltung, in dem bis 1948 die Kämpfer der jüdischen Untergrundorganisationen inhaftiert waren, die hier auf ihre Hinrichtung warteten. Im Gefängnis, das jetzt eine Gedenkstätte für die Helden des Unabhängigkeitskriegs ist, existieren noch der Galgen, die Todeszellen, die Sargtischlerei, die Gefängnissynagoge sowie die historische koschere Küche, die Druckerei und originale Gefängniszellen. Das Gebäude liegt im absoluten Zentrum der Stadt, gleich oberhalb der Geschäftsmeile der Yaffa Street und ist einer der historisch bedeutsamsten Orte des Neuen Jerusalem. Gleich nebenan befindet sich das neue Rathaus und Mea Shearim.

Die Produktion findet zweisprachig statt, in Englisch und Hebräisch, um den historischen Kontext von Almas Lebensgeschichte mit einzubauen, denn Almawar zweimal selbst in Jerusalem, einmal 1924 und dann 1929 auf Hochzeitsreise mit ihrem dritten Ehemann Franz Werfel, den die Aufbauarbeit der jüdischen Pioniere faszinierte.

Für die Vorstellungen in Jerusalem werden auch spezielle Reise-Packages aufgelegt, die zu einem Sonderpreis Flug, Unterkunft und den Alma-Besuch beinhalten. Nähere Infos: Eva Ofnböck PDM Touristik +43 1 4788090 30.

Unterstützt wird das anspruchsvolle Vorhaben von Ministerin Claudia Schmied, von Bürgermeister Michael Häupl sowie vom Außenministerium und vom Land Oberösterreich. Es soll ein kulturelles Gastgeschenk Österreichs zum 60. Jahrestag des Staates Israel sein, der 2008 gefeiert wurde. Auch Ariel Muzikant und die IKG unterstützen das Vorhaben.

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Leise aber beharrlich ging sie ihren Weg

Elfriede Gerstl, 1932 bis 2009

E. Gerstl

Wenn ich durch die Stadt ging und besonders Tuchlauben oder Brandstätte passierte begegnete ich sehr oft ganz zufällig Elfriede,die stets obzwar in diversen Verpflichtungen involviert Zeit fand ganz kurz einen Kaffee bezw. ein Achterl gemeinsam zu genießen . Fast immer schenkte sie mir etwas bei diesen Gelegenheiten,sei es ein neugestaltetes Kärtchen, das kurz aber sehr prägnant tiefe Weisheit ausdrückte,einen alten Schal oder eine Brosche. In unseren regelmäßigen Telefongesprächen sprachen wir sehr viel über persönliche Beziehungen aber auch über Politik und Literatur . Freundschaften waren ihr sehr wichtig und wenn sie sich auch zeitweise beklagte dass ihre Freunde kaum mehr Zeit für sie fänden, so wusste sie genau wer wann für sie da war. Bei einem der letzten Besuche bemerkte sie: „Iich die immer so kapriziös und kompliziert war jetzt wo ich am Ende stehe, erscheinen mir die Dinge plötzlich ganz einfach und klar“. Dem gilt es zu widersprechen, sie war vielleicht in einigen Dingen kompliziert, aber die Welt sah sie stets deutlich und klar, was auch ihr künstlerisches Werk beweist. Knapp aber ungeheuer präzise und humorvoll spiegeln ihre Gedichte und Sprüche ihre Gedanken und Erkenntnisse wider.

Alles was man sagt kann man auch beiläufig sagen
alles was man missverstehen kann kann man auch verstehen
wird schon nix gutes sein wenn man das beste draus machen muss
wenn man nicht weiß ,was man nicht weiß, kann man nicht danach fragen
was weiß man schon was man glaubt
was glaubt man schon was man weiß

Über ihre Kindheit sprach sie nur selten Am 16, Juni 1932 als Tochter eines Zahnarztes in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren musste sie mit ihrer Mutter nach dem Anschluss von einem Versteck zum anderen fliehen und jahrelang im Untergrund leben. Ab 1945 besuchte Gerstl eine Maturaschule, die sie 1951 mit der Matura abschloss. Anschließend studierte sie an der Universität Wien Medizin und Psychologie, Verheiratetet mit dem Schriftsteller Gerald Bisinger wurde 1960 ihre Tochter Judith Bellina geboren .Ihre Erlebnisse während der Naziherrschaft und der Gefangenschaft waren es, die ihren Freiheitsdrang und auch Ruhelosigkeit förderte . Viele in der Innenstadt kannten die Gers, die von einem Lokal zum anderen flanierte um Freunde und Bekannte zu treffen, kurz verweilte um wieder weiter zu ziehen. Sie wirkte sehr zerbrechlich erwies sich jedoch stets beharrlich in der Durchsetzung ihrer Zielsetzung und wich nur ganz selten von ihren Vorstellungen ab, Neben dem Spiel mit Worten galt ihre Leidenschaft auch alten Kleidern. Unvergesslich die wöchentlichen Treffen in der Kettenbrückengasse wo viele ihrer Freunde regelmäßig kamen, um alte Kleider, Schals, Schuhe, Taschen oder Schmuck zu ergattern. Ihre Preise waren oft so niedrig, dass ich im umgekehrten Sinne handelte und ihr immer mehr bezahlte als sie verlangte Sie pflegte enge Kontakte zu ganz unterschiedlichen Menschen, denen sie große Herzlichkeit und Verständnis entgegenbrachte und immer zur Hilfe kam, wenn es nötig war . Äußerlich von einer etwas altmodisch Eleganz war sie in ihren Ideen sehr progressiv und avantgardistisch und es gelang ihr, wenn auch mit erst nachträglich ihre feministischen Anliegen in dem damals sehr von Männern geprägten Literaturbetrieb durchzusetzen Relativ spät erhielt sie die ihr gebührende Anerkennungen wie 1997 Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 1999 Georg-Trakl-Preis1999 Erich-Fried-Preis 2007 Heimrad-Bäckerpreis

Von der Krankheit bereits gezeichnet schrieb sie bis zum Schluss an ihrem letzen Gedichtband mit den bezeichneten Titel „Lebenszeichen“ dessen Fahnen sie noch sehen konnte Die Erscheinung erlebte sie nicht mehr aber in ihren Gedichten wird sie wieder lebendig. Zur Präsentation ihres letzten Buches kamen auch fast alle Freunde und man fühlte sich in die Vergangenheit versetzt mit dem Gefühl sie könnte jeden Moment aufkreuzen und eine ihrer treffenden Bemerkungen von sich geben. Voller Rührung fand ich auch ein Gedicht, das mir gewidmet war und ich kann mich genau an das Gespräch erinnern, das wir diesbezüglich führten. Meine Reiselust kommentierte sie fogendermaßen:

im wald ist fad
die berg zu steil
am meer wirst
von der hitze blöd
vielleicht eine stadt
mit stassencafes
also bleib ich da sitzen
auch hier kann ich schwitzen

Ihre schwerelosen, wunderbar leichten Gedichte, haben mir immer wieder gezeigt, dass das Leichte für mich, für viele, zu schwer ist. Und das bei diesem Schicksal! Mit diesen Worten reagierte Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek auf den Tod von Elfriede Gerstl. Diese zarte kleine Person, die immer im Hellen herumgelaufen ist und so hell und witzig geschrieben hat, hat das Dunkelste erlebt, ohne je selbst verdunkelt gewesen zu sein in ihrem Wesen und Schreiben. Das ist für mich immer das Unbegreiflichste gewesen, ein Wunder.
Schmerzlich und fast undenkbar, dass sie von uns gegangen ist – ein unersetzbarer Verlust für ihr Freunde und für die österreichische Literaturszene.
Joanna Nittenberg

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Letzte Änderung: 24.09.2012
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