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Aus dem Inhalt der Ausgabe 4/5-2004

100. Todestag von Theodor Herzl

Karikatur von Herzl
Ein wenig ironisch setzt sich Zeichner
Avi Katz (1988) mit der Vielseitigkeit
Theodor Herzls auseinander


Editorial

Anlässlich des 100. Todestages von Theodor Herzl ist die vorliegende Ausgabe vorwiegend diesem  großen Visionär gewidmet, der Wirkung,  die er auf seine Umwelt  ausübte und den Auswirkungen für die Nachwelt.

In Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Wien, insbesondere danken wir Senatsrat Dr. Christian Ehalt, ist es uns gelungen namhafte Persönlichkeiten für dieses Projekt zu interessieren.

So  untersucht Prof. Genadi Kagan in seiner Studie den Einfluss Herzls auf  das zaristische Russland und die Rezeption nicht nur seiner politischen sondern auch seiner literarischen Werke. 

Prof. Julius Schoeps  spannt einen weiten Bogen von den Anfängen der  zionistischen Idee bis zur heutigen Problematik. In Nachrufen der Zeitzeugen entsteht ein sehr persönliches und berührendes Bild dieses Mannes, der die jüdische Welt veränderte.

Eingehend befasst sich Helene Maier mit der Kontroverse Karl Kraus und Theodor Herzl, die stellvertretend die Situation der Juden zu dieser Zeit in Wien widerspiegelt.

Sehr widersprüchlich die Aussagen über Herzl bei der heutigen Jugend in Israel.

In einer eingehenden Recherche – wobei nur ein kleiner Teil wiedergegeben werden kann –   geht  der Historiker und Journalist Ilan Goren auf die Bedeutung Herzls im heutigen Israel ein.

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US-Juden und Europäischer Antisemitismus

Die Berliner Antisemitismuskonferenz kam zur richtigen Zeit

Theodor Herzl hat sich als Prophet erwiesen, als er in Basel die Gründung eines jüdischen Staates in den nächsten 50 Jahren vorausgesagt hatte. Aber seine Annahme, die Schaffung eines jüdischen Staates werde den Antisemitismus gegenstandslos machen, hat sich als falsch erwiesen. Der Judenstaat erscheint manchen Diaspora-Juden heute eher die Ursache denn die Lösung des Antisemitismus-Problems. Gerade in den islamischen Staaten, in denen Juden Jahrhunderte lang ,zwar als „dhimmis“, als Bürger zweiter Klasse, aber relativ unbehelligt leben konnten, hat der Antisemitismus heute als Folge des israelisch-palästinensischen, aber auch des amerikanisch-islamistischen Konflikts, nie zuvor gekannte Ausmaße erreicht.

Für Amerikas Juden kam die Berliner OSZE-Konferenz gegen Antisemitismus zur richtigen Zeit. Allein schon der Umstand, dass an ihr hochrangige Repräsentanten von 55 Nationen und Nicht-Regierungsorganisationen teilgenommen haben, sie sich an einem „Aktionsplan“ zur Bekämpfung des Judenhasses jeglicher Form einigten und erstmals – selbst von russischer Seite – öffentlich die Dämonisierung Israels und israelischer Politiker als eine der zeitgenössischen Formen des Antisemitismus bezeichnet wurde, glättete die Wogen der Entrüstung und der Besorgnis.

Denn in den letzten Monaten hat die Besorgnis des amerikanischen Judentums über den wiedererwachten Judenhass in Europa ernsthaft zugenommen. In einer Umfrage des American Jewish Committee bezeichnete mehr als die Hälfte der Befragten den Antisemitismus in Europa als „ein sehr ernstes Problem“. Sie ließ auch die Sorge über die Gefahr aufkommen, dass dieses Phänomen vor allem der islamistischen Art, auch in den USA Fuß fassen könnte. Amerikanische Islamisten, Antiglobalisten und Elemente der extremen Linken haben bereits an zahlreichen amerikanischen und kanadischen Universitätscampusen Koalitionen geschlossen, um propalästinensische und antiisraelische Propaganda zu betreiben. 28% der vom AJC befragten Juden bezeichneten die diesbezügliche Lage auf den US-Colleges als sehr problematisch.

Zahlen sprechen für sich. Nicht nur empfinden 55% der US-Juden den Antisemitismus in Europa als ein „sehr ernstes Problem“ (im vorigen Jahr waren es „nur“ 41%), 37% ( gegenüber 29% im Vorjahre und 26% in 2001) haben das Gefühl, dass der Virus auch in den USA ansteckend werden könnte. Ob die zahllosen Reden und Statements von Berlin, die übereinstimmend zum Kampf gegen den Antisemitismus aufriefen und die weitere Verharmlosung der Gefahr ablehnten, zu einer Deeskalation der Besorgnis führen werden, ist noch unklar. Obwohl schon vor der Berliner Konferenz in manchen europäischen Ländern von einer rückläufigen Tendenz in der Zahl antisemitischer Zwischenfälle die Rede war, äußerten 67% der US-Juden die Ansicht, dass sich der Antisemitismus in den kommenden Jahren weltweit „erheblich“, oder einigermaßen eskalieren werde.

Diese Zahlen überraschten die jüdischen Funktionäre, die die Szene berufsmäßig beobachten. Die sind nach wie vor der Ansicht, dass die Lage vor allem in Europa und in der islamischen Welt bedrohlich ist, Amerika allerdings nicht völlig immun ist, wenn es um globalen Antisemitismus geht. Die Gefahr bilden nicht die traditionellen rechtsextremistischen Splittergruppen, sondern die Drahtzieher hinter dem globalisierten Judenhass, die Koalition von Islamisten mit antiamerikanischen, antiglobalistischen Elementen auf der radikalen Linken. Während man offiziell

bisher einen Trennungsstrich zwischen Antisemitismus und den sich als proarabisch und antiisraelisch artikulierenden Antizionismus zu ziehen bemüht war, machte der deutsche Bundespräsident Rau in der Berliner OSZE-Konferenz klar, dass sich hinter der massiven Israelkritik sehr oft reiner Judenhass verbirgt, während US-Außenminister Powell meinte, Kritik israelischer Politik sei zwar legitim, doch die Dämonisierung Israels und die Anwendung nazistischen Vokabulars in der Darstellung israelischer Politiker ist es nicht.

Sigi Feigel, Ehrenpräsident der Kultusgemeinde von Zürich, sprach von Diaspora-Juden als „Geiseln“ israelischer Politik; man mache jeden Juden direkt für die Taten und Untaten der israelischen Regierung verantwortlich. In gewisser Hinsicht stimmt Feigels Feststellung. Doch das Verhalten der Antisemiten ist nicht Schuld der israelischen Regierung, die ihre Politik auch nicht unbedingt den Bedürfnissen einzelner Diaspora-Gemeinden anpassen könne, sondern denen der israelischen Bevölkerung dienen müsse.

Steven Bayme, Direktor des Departments für zeitgenössisches jüdisches Leben beim AJ-Committee, zog aus der Umfrage über die antisemitische Gefahren die Schlussfolgerung, dass die US-Juden den Antisemitismus derzeit als eine größere Bedrohung ihrer langfristigen Existenz betrachten als Mischehen. Mischehen und die mit ihnen verbundene Assimilation waren bislang als d i e existentielle Gefahr empfunden worden.

Jetzt finden 68% der befragten Juden den Antisemitismus als gefährlicher, während nur 27% nach wie vor Mischehen fürchten. Bayme gibt dafür zwei Gründe an: man konzentriere sich derzeit mehr auf den Antisemitismus, weil er einen globalen Charakter gewann, während Mischehen so alltäglich wurden, dass sie als viel akzeptabler erscheinen.

Bayme zufolge sind diese Empfindungen als unrealistisch: in der Geschichte der jüdischen Diaspora hatte es niemals eine liberalere und zur Akzeptanz der Juden bereite Gesellschaft gegeben als die des heutigen Amerika.

Die nahtlose Einverleibung des amerikanischen Judentums in die gesamtamerikanische Gesellschaft, diese präzedenzlose Akzeptanz, sei eben mit verstärkter Assimilationsgefahr verbunden, meint Bayme.

Europa bleibt ein Kampfgebiet im Krieg gegen den Antisemitismus. Aber die OSZE-Konferenz von Berlin könnte die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf das Problem des wieder erwachenden Antisemitismus und der Rolle der jungen islamistischen Immigranten bei dessen Verbreitung nachhaltig genug gelenkt haben, um ihm Einhalt zu gebieten.

Zeev Barth

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Al Jazira sympathisiert mit Hamas und Jihad

Aus einem Interview mit dem jemenitischen Journalisten Munir Mawari

Magdi Allam veröffentlichte am 4. Mai 2004 in der angesehenen Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera ein Interview mit dem jemenitischen Journalisten Munir Mawari, der von 2000 bis 2003 bei Al Jazira gearbeitet hat. Karl Pfeifer hat das Interview ins Deutsche übersetzt und leicht gekürzt.

Allam fragt in seiner Einleitung, weshalb die Entführer von drei Italienern nach den ersten zwei Mitteilungen, die sie dem Sender Al Arabia gaben, für die dritte Mitteilung Al Jazira wählten, die eine schon bevorstehende Entlassung der Geisel blockierte.

Ausländische Beobachter konnten tatsächlich registrieren, dass die bekannteste TV-Station der arabischen Welt sich dazu hergibt als Sprachrohr von Bin Laden zu funktionieren. Dank der Aussage des jemenitischen Journalisten Munir Mawari, der drei Jahre dort gearbeitet hatte, können wir verstehen, wie und warum Al Jazira ein wahrer und wirklicher Medienapparat des integralistischen islamistischen Extremismus wurde: „Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass 50-70 Prozent der Journalisten und der Mitarbeiter der Administration bei Al Jazira entweder Vollmitglieder oder Sympathisanten fundamentalistischer islamistischer Gruppen sind.“

Während seines Vortrags bei der Konferenz „Die Lichter des Islams gegen den Fundamentalismus“, die in Brüssel abgehalten wurde, sah Mawari sich veranlasst zu behaupten: „Das wenigste was man sagen kann, ist, dass es eine geistige Verstrickung der Al Jazira Journalisten bei der Abschlachtung Unschuldiger gibt“.

In einem Interview, das er nachher gewährte, erklärte er: „In der Redaktion machte man Scherze über einige Kollegen, die mit der Hamas und islamistischen Extremisten verbunden sind. Ich spreche nicht über Journalisten aus der zweiten Reihe, sondern von Chefredakteuren. Wir schauten zu, während diese arbeiteten und sagten, dass sie ein „breaking news“, eine aktuelle Meldung über ein terroristisches Attentat, vorbereiten, welches sich erst einige Stunden danach ereignen sollte. Und sie verfügten über alle Informationen. Sie mussten nichts anderes tun als zu warten, um die Anzahl der Opfer hinzuzufügen.“ Sie konnten das tun, weil sie eng mit Hamas und mit dem islamischen Jihad verbunden waren.

Und trotzdem unterstreicht Mawari, Al Jazira ist 1996 als eine liberale Anstalt entstanden: „Drei Jahre war der Sender der einzige in der arabischen Welt, der es wagte, israelische Persönlichkeiten zu Wort kommen zu lassen. Gerade um den Verdacht proisraelischer Sympathien von sich zu weisen, haben die Behörden Katars bevorzugt palästinensische Journalisten aufgenommen und ihnen volle Aktionsfreiheit gewährt. Palästinensische Journalisten, wenn sie sich mit der eigenen Angelegenheit befassen, machen das als emotional Beteiligte.“

Mawari setzt fort, „diese Emotionalität explodierte am Beginn der zweiten Intifada im September 2000. Während der ersten drei Tage wurde ein getöteter Palästinenser wie ein getöteter Israeli als „Toter“ definiert. Doch plötzlich protestierte eine Gruppe von Journalisten und Angestellten.

Der Aufsichtsrat wurde einberufen und es wurde beschlossen, dass lebende oder getötete Palästinenser Fedayin genannt werden, „diejenigen, die ihr eigenes Leben für den Frieden opfern“. In einer darauf folgenden Phase wurde beschlossen, die palästinensischen Opfer als Shahids, Märtyrer zu bezeichnen, egal ob sie Selbstmordattentate durchgeführt hatten oder in einem Kampf mit Israelis getötet wurden. Der Direktor der online Ausgabe, Mohammad Daoud, ein Palästinenser, sagte uns: „Wir können uns nicht als neutral betrachten im Konflikt mit Israel.“ Von da an war Al Jazira nie wieder neutral. Und wurde so von einem Informationsmedium zu einem Meinungsmedium. Die Wahrheit erlitt eine große Niederlage, weil die Einheitsmeinung bevorzugt wird.“

Mawari bestätigt die islamistische Verwicklung von Al Jazira als einen unaufhaltsamen Prozess: „Mit der Entwicklung der Intifada wurde die Anzahl der mit islamistischen Gruppen verbundenen Journalisten und Angestellten größer. Die Mehrheit der Palästinenser sind Hamas-Mitglieder. Ein großer Teil der Ägypter sind Mitglieder der Moslembrüder. Viele von ihnen lebten zuvor in Afghanistan und Pakistan. Der Prozentsatz an Liberalen ist minimal und einflusslos. Schließlich gelang es den Palästinensern die ganze Führung von Al Jazira in ihre Hände zu bekommen. Der Generaldirektor, Waddah Khanfar, ist Palästinenser. Der Chefredakteur Ahmed el-Sheikh ist Palästinenser. Der Produktionsdirektor Ahmed al-Shoudy ist Palästinenser. Der große Teil der Journalisten, Techniker und anderer Mitglieder des Produktionsstabes sind Palästinenser.“

Mehrfach haben wir uns gefragt, wie ist es möglich, dass Katar, ein Alliierter des Westens, gleichzeitig mit Bin Laden sympathisiert. „Der Emir muss auf das interne Gleichgewicht achten“ – erklärt Mawari – „vom Moment an, seitdem Katar die größte militärische Basis der USA im Nahen Osten beherbergt, musste er als Gleichgewicht zur amerikanischen Präsenz die Al Kaida beherbergen, das heißt auf arabisch die Basis von Bin Laden.“

Er fasst zusammen: „Mir scheint es klar, dass Bin Laden Al Jazira wählte, weil er dort eine aufrichtige Sympathie für seine Ideen konstatiert hat. Heute spornt Al Jazira im Irak die Gewalt an und unterstützt den rebellischen irakischen Widerstand. Es ist kein Widerstand. Das ist Terrorismus. Es ist klar, dass es die Linie von Al Jazira  ist, sich nicht an die Fakten zu halten, sondern die eigene Erregung austoben zu lassen“.

Quelle:www.corriere.it/Primo_Piano/Esteri/2004/05_Maggio/04/magdi.shtmlESTERI

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Zweierlei Mass

Kommentar von Ralph Giordano

giordano

Schluß mit Rücksicht, Taktik, Defensive: Die grenzenlose einseitige Schuldzuweisung an Israel durch weite Teile der veröffentlichten Meinung in Deutschland wird von uns nicht länger schweigend hingenommen – es muss endlich tacheles geredet werden! Äußert sich da doch eine Parteinahme, die Israel fortwährend und ganz selbstverständlich auf die Anklagebank katapultiert. Dem setzen wir unsere Parteinahme entgegen.

Der geplante Tod von Scheich Jassin und Abdel Asis Rantisi? Europa – deine Heuchler! Warum soll die gezielte Tötung zweier Männer, die unzählige gezielte Morde angeordnet haben, schlimmer sein als diese Morde? Wieso allenthalben das verräterische Ungleichgewicht der Empörung? Es ist widerwärtig zu erleben, wie empfindungslos sich weite Kreise über die israelischen Opfer hinwegsetzen – und das ausgerechnet in Deutschland, das bekanntlich auf eine lange Tradition als Weltmeister der Selbstbeweinung zurückblicken kann. Wollen ungefährdete Deutsche tatsächlich und allen Ernstes die Israelis besserwisserisch belehren, wie deren Staat und Regierung ihre Bürgerinnen und Bürger vor den Mordanschlägen von Hamas, Jihad und Hisbollah zu schützen hätten? Herunter vom hohen Ross!

Ich kann mir nur allzu gut vorstellen, was hierzulande los wäre, wenn in den letzten zwei Jahren zwischen Flensburg und München, Köln und Frankfurt an der Oder dreitausend Tote durch Terrorakte zu beklagen gewesen wären, darunter neunhundert durch Selbstmordattentäter. Längst würde Panik und Chaos ausgebrochen sein, und die Rufe nach dem „Starken Mann“ und der Todesstrafe wären immer lauter zu hören. Es ist höchst fraglich, ob die Demokratie Deutschland unter solchen Bedrohungen so stabil bleiben würde wie die Demokratie Israel nachweisbar geblieben ist.

Ich aber weigere mich, die Maßnahmen israelischer Regierungen zum Schutze seiner Bürgerinnen und Bürger auf die gleiche Stufe mit den hinterhältigen Anschlägen arabischer Terroristen zu setzen. Was ist das für eine Gesellschaft, die Teenagern suggeriert, dass sie, nachdem sie möglichst viele Menschen, darunter andere Teenager, in den Tod gerissen hätten, schon im nächsten Augenblick an den Busen glutäugiger Jungfrauen schmachten werden? Was ist das für eine Gesellschaft, deren eine Hälfte, die weibliche, so gut wie rechtlos ist, in der Menschenrechte unbekannt sind, die eigenen Eliten total versagt haben?

So wenig, wie arabische Herrscher fähig waren, sich Saddams zu entledigen, also des Mannes, den sie wie den Teufel gefürchtet haben, so wenig sind sie imstande oder überhaupt willens, den einheimischen Terroristen das Handwerk zu legen. Die stereotype Aufforderung der Linkseuropäer, Israel möge Gewalt nicht mit Gewalt vergelten, zielt, ganz abgesehen von seiner unverschämten Einseitigkeit, auch noch völlig am Charakter des Konfliktes vorbei. Die Israelis könnten sich wie die Engel benehmen – es würde die mörderischen Exekutoren von Hamas, Jihad und Hisbollah nicht im Mindesten beeindrucken. Die wollen keinen Frieden, die wollen Israel von der Landkarte des Nahen Ostens ausradieren. Das ist ihre Losung – die einzige, die sie haben.

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Karl Kraus und Theodor Herzl

Assimilation versus Zionismus

Karl Kraus und Theodor Herzl wirkten in einer Zeit, in der in Österreich lebende Juden grundlegende Rechte für eine Teilhabe am Staats- und Wirtschaftsleben bereits erreicht hatten – als 18-Jähriger übersiedelte Herzl mit seiner Familie aus Ungarn, Kraus’ Familie, als dieser drei Jahre alt war, aus Böhmen nach Wien. Bereits 1852 stimmte Kaiser Franz Joseph der Errichtung der Wiener Kultusgemeinde zu und 1867 sicherte das Staatsgrundgesetz den Staatsbürgern unabhängig von ihrer Religion die rechtliche Gleichstellung –  aus der gehobenen Bürokratie, der Armeeführung und dem diplomatischen Dienst blieben die Juden allerdings auch weiterhin ausgeschlossen. Der ansteigend von Nationalitätenkonflikten bedrohte Staat definierte Judentum nicht als Nationalität, sondern als Religion.


Karl Kraus

Zunehmende Industrialisierung bzw. aufsteigender Kapitalismus führten zu sozialen Umschichtungen. Eine wenig mobile Beschäftigungsstruktur mit einem religiösen Überbau wurde zugunsten eines wirtschaftlichen und geistigen Liberalismus in den Hintergrund gedrängt, dessen negative Auswirkungen den Juden zur Last gelegt wurde. Unter diesen Bedingungen trat ein weit verbreitender Antisemitismus auf. Judenhetze im westlichen und Pogrome im östlichen Europa nahmen zu. Aus diesem Grund assimilierten sich viele Juden, während es gleichzeitig weiterhin viele traditionell denkende Juden gab, die sich dezidiert gegen Assimilation aussprachen. Das antisemitische Klima wurde durch die „Panama-Affaire“ aufgeheizt – einem Finanzskandal, in den reiche jüdische Investoren und Mitglieder der französischen High Society verwickelt waren. Die Situation in Frankreich eskalierte 1894 mit dem Dreyfus-Prozess. Das liberale jüdische Bürgertum wandte sich im Zuge der Affäre um den französischen Offizier Alfred Dreyfus immer mehr dem Zionismus zu. Der Dreyfus-Prozess und seine Ergebnisse schockierten Herzl, leiteten seine Gedanken in eine neue Richtung und änderten seine Haltung. Für Herzl symbolisierte dieser Prozess die Hoffnungslosigkeit der Emanzipation und erforderte einen von Grund auf geänderten Zugang, um das Problem des jüdischen Volkes zu lösen. Herzl war davon überzeugt, dass das Heil für das jüdische Volk nicht in Assimilation, Emanzipation oder Emigration liegt, sondern vielmehr in einer radikalen Lösung.

Theodor Herzl versuchte mit seiner Konzeption eines eigenen Judenstaates einen Ausweg aus diesem antisemitischen Debakel zu finden, da Judenhass erst dort aufhört, wo Juden nicht mehr in der Minderheit sind. Die Ostjuden, welche die Verfolgung am realen Leib zu spüren bekamen, unterstützen diese Idee, während andere Kreise – zu denen auch Karl Kraus zählte – die einzige Chance des Judentums in der Assimilation sahen und sich somit gegen die Gründung eines Karl Judenstaates aussprachen. 1896 publizierte Theodor Herzl „Der Judenstaat“ und der erste Zionistenkongress fand ein Jahr später in Basel statt. Die Idee an sich war nicht neu, denn es gab bereits innerhalb des Ostjudentums in den 1880-er Jahren Gruppierungen, die für die Auswanderung nach Palästina eintraten – neu war die visionäre Kraft, mit der Herzl für die Errichtung eines eigenen Judenstaates eintrat. Die Ostjuden waren im Laufe des 19. Jahrhunderts verarmt und v. a. in Russland tätlichen Übergriffen ausgesetzt. Für sie versprach der Zionismus eine Chance auf ein Leben ohne Anfeindungen. Die akkulturierten Juden West- und Mitteleuropas dagegen waren trotz aufgeheizter antisemitischer Stimmung zu dieser Zeit mehrheitlich anderer Meinung – sie brachten den Zionismus gerade mit  dem Antisemitismus in Verbindung, da die Antisemiten für ein judenfreies Europa eintraten.

Karl Kraus, in einer liberalen jüdischen Familie wohlhabender Industrieller, Unternehmer und Händler aufgewachsen, stand die deutsche Kultur näher als die jüdische Tradition. Er sah sich als Österreicher jüdischer Herkunft und nicht als österreichischer Jude. Somit ist es nicht verwunderlich, dass er seine spitze Feder gegen Herzl und den Zionismus richtete. 1898 veröffentlichte Karl Kraus die gegen Theodor Herzl und den Zionismus gerichtete Schrift „Eine Krone für Zion” und trat 1899 aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus. Ein Nachkomme einer jüdischen Mutter galt aber weiterhin als Mitglied der jüdischen Gemeinschaft, wodurch Karl Kraus für religiöse Juden trotz Austritt immer Jude blieb. (In der Satire „Er ist doch ä Jud“, die Karl Kraus 1913 anlässlich eines Leserbriefes, den er bekam, schrieb, stellte Kraus sein Verhältnis zum Judentum dar. Der Autor des Leserbriefes hatte sich über in einer Vorlesung applaudierende Juden gewundert, die Kraus in seiner Lesung angegriffen und kritisiert haben soll, welche aber schon in der Garderobe ausriefen: „Er ist doch ä Jud’!” Es handelte sich bei dieser Satire um eine scharfe Abrechnung mit rassischen Zuschreibungen und jüdischen Gewohnheiten.) Später wurde Kraus vorübergehend Katholik – er ließ sich 1911 taufen (Taufpate war Adolf Loos) –, trat aber 1922 wieder aus der Kirche aus, da er im Laufe des Ersten Weltkrieges bemerkte, dass die katholische Kirche nicht Verkünderin einer besseren Welt, sondern selbst tief in die verbrecherischen Geschehnisse verstrickt war. In „Eine Krone für Zion“, der zweiten selbstständigen Veröffentlichung nach „Die demolierte Literatur“ (1869), trat er als Pamphletist in Erscheinung. Kraus argumentierte darin nicht sachlich, sondern versuchte die Bewegung des Zionismus mit Hilfe der Satire lächerlich zu machen und bloßzustellen. Zionismus, aber auch Antisemitismus und die jüdische Orthodoxie wurden in dieser Schrift angegriffen. Der Titel spielte einerseits spöttisch auf das utopische Königreich Palästina und auf die Krone als Insignie eines Herrschers (Herzl als König von Zion) an, andererseits auf den Geldbetrag (tatsächlich waren es 2 Kronen), der von Juden zur Unterstützung des Zionismus erbeten wurde. Einer der Herren [...] ersuchte mich vor einiger Zeit, einen kleinen Betrag zu jenen Zwecken beizusteuern, die man zionistische oder mit einem guten alten Wort antisemitisch nennt. Kraus machte sich über die Zionisten lustig, die in einem Spender sofort einen Gesinnungsgenossen sahen. [...] da ich nicht einsah, warum ich einem verderblichen Zweck, der nie realisiert wird, meine Sympathieen versagen sollte, und weil ich mir nach dem voraussichtlichen Scheitern der zionistischen Idee eine materielle Entschädigung der getäuschten polnischen Proleten als das einzig mögliche und löbliche Ende des ganzen Rummels erwarte, so schien mir eine Geldleistung im Sinne jeder menschlichen Wohlthätigkeit, die die Feindin des Zionismus ist, durchaus nicht unangebracht. [...] Die Macht der zionistischen Verheissung ist eine so zwingende, das selbst wer sich ihr zu entziehen wünscht, nach kurzer Zeit schon seinen Namen in einer gedruckten Liste von Parteigenossen lesen kann. So ist es mir ergangen, und heute wäre ich gerne bereit, zum Loskauf von der zionistischen Idee ein Dutzend ‚Schekel’ zu erlegen.

Theodor Herzl
Theodor Herzl

Kraus verglich den Zionismus mit der mittelalterlichen Gettoisierung und unterstellte den Zionisten, ein neues Getto errichten zu wollen. Aber: „Warum sollte ich schließlich dem Collegen, der mit dem Abreißblock herumgeht und sich durch möglichste Verbreitung jener kleinen gelben Flecke, die zum Eintritt in das neue Ghetto berechtigen, zum Finanzminister des Judenstaates emporstrebern will, eine billige Gefälligkeit verweigern?“ Kraus hält den Zionisten Vorspiegelung falscher Tatsachen vor:

Das Erzeugen einer fata morgana ist keine Socialreform, sondern falsche Vorspiegelung, und dem Wanderer in der Wüste muss jedes Trugbild den Leidensweg verlängern. Es ist kaum anzunehmen, dass die Juden diesmal trockenen Fußes in das gelobte Land einziehen; ein anderes rothes Meer, die Socialdemokratie, wird ihnen den Weg dahin versperren. In den ersten Jahren der „Fackel“, die 1899 gegründet wurde, war Karl Kraus’ Haltung  zum Zionismus unverändert – er bezeichnete die Zionisten sogar als Radaugruppe: Zum Hasse einer literarischen Coterie, deren anmaßendes Streberthum und hochstaplerisch durch Geckereien und allerlei Niedlichkeiten verdecktes Unvermögen ich mir zu enthüllen erlaubte, hat sich die Wuth einer neuestens organisierten politischen Raudautruppe gesellt. Sie nennen sich ‚Zionisten’, möchten in dem durch nationale Krakehle sattsam verunreinigten Österreich den Bestand einer neuen, der jüdischen Volkheit behaupten und harmlosen Passanten, die glücklich den antisemitischen Kothwürfen entgangen sind, Sehnsucht nach dem gelobten Land aufdrängen.

In späteren Jahren spielte der Zionismus in der „Fackel“ eine eher untergeordnete Rolle und Kraus’ Angriffe wurden weniger aggressiv. 1924 wurde er sogar toleranter, indem er schrieb, dass Herzl „den Zwang, die Verwirklichung des zionistischen Ideals als Theaterkritiker der ‚Neuen Freien Presse’ abzuwarten, sicherlich tragisch erlebt“ habe und Kraus hielt seine Aussagen in „Eine Krone für Zion“ nicht mehr aufrecht: „Ich kann, da ich nicht mit so viel Gesinnung auf die Welt gekommen bin wie ein zionistischer Redakteur, unmöglich als Fünfzigjähriger aufrechterhalten, was ich als Dreiundzwanzigjähriger geschrieben habe.“ Dieser Sinneswandel kam durch das Lesen von Theodor Herzls Tagebüchern zustande. Eine gewisse Art von Skepsis gegenüber dem Zionismus blieb aber weiterhin  – er gönnte nicht einmal dem bereits verstorbenen Herzl den Triumph seines vollständig vollzogenen Gesinnungswandels – auch wenn Kraus nun anders darüber dachte: „Alles in allem würde ich wohl, so grotesk mich gerade nach den Tagebüchern Herzls manche Erscheinungen in der Entstehungsgeschichte des Wiener Zionismus anmuten, das meiste, was in meiner Schrift steht, heute nicht sagen oder nicht so sagen.“ Die politische Situation hat vermutlich auch zu dem Gesinnungswechsel von Karl Kraus beigetragen. Der Rassenantisemitismus gewann an Bedeutung und so musste er wohl einsehen, dass der Zionismus durchaus seine Berechtigung hatte und der zuvor vertretene Assimilationsgedanke unhaltbar war. Die Sozialdemokraten gewannen nach der Ausrufung der ersten Republik zunächst zwar an Einfluss, aber ab 1922 dominierten im Parlament wieder bürgerliche, mehrheitlich katholische Parteien in verschiedenen Koalitionen. Die Nationalsozialisten formierten sich in Österreich ab 1926 und wurden bei den Wahlen 1932 erfolgreich. Die Lage für Juden in Österreich wurde zusehends schlechter. Zu dieser Zeit gab es bereits eine größere Zahl von jüdischen Siedlern in Palästina – die Utopie des Judenstaates, der Traum von Theodor Herzl, war somit im Begriff Wirklichkeit zu werden. Die historischen und politischen Rahmenbedingungen hatten sich geändert und das Lesen der Tagebücher von Herzl hatten auch ihren Einfluss auf die neue Haltung von Karl Kraus. Nach einer langen Zeit der Anfeindungen bewertete Kraus das Judentum ab den 20-er Jahren durchaus positiv: Dagegen fühlt er [Karl Kraus] sich zu dem Bekenntnis gedrängt, dass er, wiewohl er das Werk dieser Kritik, die sogenannten ‚eigenen Schriften’ bei weitem nicht so hoch stellt wie die noch aktiven Verehrer, doch in der freien Verfügung geistigen Hohns, in der Ehrerbietung für das geschändete Leben und die besudelte Sprache die Naturkraft eines unkompromittierbaren Judentums dankbar erkennt und über alles liebt.

Hat Kraus früher die Gründung eines Judenstaates für eine Illusion gehalten, so trat nun sein um die Jahrhundertwende kompromisslos vertretener Assimilationsgedanke zurück und erwies sich seinerseits als Illusion. Helene Maier 

 

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Die Nachfahren

Ein Film über Theodor Herzls verzweigte Familie

Viele Regisseure und Produzenten planen am hundertsten Todestages von Theodor Herzl sich mit den verschiedenen Facetten des Visionärs des jüdischen Staates zu befassen. Natürlich ist es Hauptaufgabe der Drehbuchautoren, den Abstand zwischen dem zuckersüßen Traum Herzls und der bitteren Realität des jüdischen Staates zu finden. Das israelische Fernseh- und Kinopublikum wird sich wohl in den nächsten Monaten mit so einigen „Theodor, was hast du dir dabei gedacht?“, oder „Der jüdische Staat – wohin?“ befassen müssen.

Einer der bekanntesten Fernseh- und Filmproduzenten Israels, der ursprünglich aus Linz stammende Micha Schagrir, hatte eine andere Idee. Schagrir, der sich in vielen seiner Filme mit der israelischen Identität auseinandersetzt,  produziert einen Film über die Nachkommen Herzls, die heute in Israel und anderswo leben. Diese Verwandten kommen natürlich nicht aus der direkten Linie Herzls, da ja seine Kinder und sein Enkel alle an einem frühen und tragischen Tod starben, und deren Schicksale ebenfalls auf interessante Weise in den Film eingebunden sind. Die Idee ist einfach: Anstatt über verschiedene Theorien zu sprechen, sprechen die Herzls für sich selbst.

Neffen von vergessenen Großmüttern und Cousins zweiten Grades, fromme Juden und nicht Religiöse, vom Zionismus enttäuschte und  treue Bürger des Staates Israel, kommen alle zu Wort. Das Ziel: Herauszufinden, welche Rolle die Verwandtschaft zum Vater des Zionismus in ihrem täglichen Leben und in ihrer Haltung zum umstrittenen Wunder des Zionismus hat.

Diese sind die Namen der Herzls, die in Israel leben, und  ausfindig gemacht werden konnten. Sie werden zwar nicht alle im Film zu sehen sein, doch sie alle haben über ihr „Herzlsein“ etwas zu sagen.

Gabriel L. Herzl ist Architekt und lebt in Jerusalem. Er ist einer der weniger weit entfernten Verwandten. Sein Ur-Urgroßvater und Herzls Vater waren Brüder. Er lacht: Wenn der Sohn von Sharon Knessetabgeordneter sein kann, könnte ich es doch auch, oder?  Doch ich bin nicht jemand, der seinen Familiennamen ausnützen würde, und außerdem ist der Name Herzl eher eine Bürde.

Das L. in seinem Namen steht für „Löbel“, der Name des Teiles der Familie aus Zemlin in Jugoslawien.

Genny Löbel entstammt ebenfalls dem jugoslawischen Teil der Familie.  Der Bruder meines Großvaters väterlicherseits brachte Herzl zum Zionismus, erzählt sie, nicht ohne Stolz. Im Jahre 1893 beschäftigte sich Leopold Paul Löbel, der Vorstand des Vereins „Zion“ in Wien, mit der Erneuerung der zionistischen Bewegung. Sie haben eine Persönlichkeit mit Führungsqualitäten gesucht, und so haben sie Theodor gefunden. Der Onkel Poldi, wie wir ihn nannten, war schon Zionist bevor der Vater des Zionismus es war.

Poldi selbst  kam im Jahre 1898 als Gesandter Theodors nach Palästina. Er beschloss Alyah zu machen und mit seinen beiden Töchtern in Jaffo zu leben. Er schrieb in „Die Welt“ über das neu auferstandene heilige Land, doch er kam letztendlich nach Wien zurück.

Liora, Ronit und Israel Herzl sind Geschwister. Liora ist heute die israelische Botschafterin in Norwegen. Die Aufnahmen mit ihr und ihrem elfjährigen Sohn Ori sind bereits gefilmt. Die beiden gehen auf ihre Weise den Weg Herzls weiter. Liora als loyale Repräsentantin des jüdischen Staates in schwierigen Zeiten wie diesen, und ihr kleiner Sohn, der uns anvertraut hat, dass sich der Staat noch mehr bemühen muss, um den Frieden zu erreichen und so den Traum vom Leben im Lande Israel auf richtige Weise zu erfüllen.

Ronit, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, meint eindringlich: Obwohl ich verheiratet bin, habe ich vor den Namen Herzl an meine Kinder weiterzugeben. Die Geschichte der Familie ehrt und fasziniert mich.

Israel, der in der Herzl-Straße in Kfar Saba wohnt, definiert sich selbst, doch nicht den Staat, in dem er lebt, als zionistisch. Der zionistische Staat ist doch eigentlich nicht zionistisch. Es gibt zu große Unterschiede zwischen Armen und Reichen und diese Situation wird noch explodieren Die Parteien befassen sich nur mit Saddam Hussein und Arafat. Niemand denkt an die Menschen. Wir sind ein Volk wie jedes andere auch, und keine Zionisten.

Die Israelis zeigen sich nie sehr beeindruckt darüber dass ich ein Herzl bin. Im Ausland hingegen werde ich von interessierten Sammlern mit Freude und allen Ehren empfangen.

Auch Buzi (Rachel) Talmon  und Magda (Miriam) Hasenfranz sind Schwestern und über noch mehr Ecken Nachfahren Theodors. Zusammen mit ihrer Cousine Juzi (Judith) Kein erzählen sie von ihrer Kindheit in Rumänien.

Außerdem konnten wir deren Cousine Liesel Schwab (Herzl) in Wien ausfindig machen. Sie steht in nahem Kontakt mit der Familie Herzl hier in Israel.

Liesl ist heute 84 Jahre alt und  lebt  in Wien. Ihr Großvater war ein Cousin Herzls.

Liesls Vater war Arier, und so überlebte sie den Krieg in Wien, und hatte somit weiter mit den Problemen zu kämpfen, deren Lösung Herzl nur in einem jüdischen Staat sah.

Sie sagt, sie hätte von beiden Seiten eigentlich nur die Nachteile bekommen, doch sie würde sich sehr freuen im  Film mitzuwirken.

Die netten alten Damen besitzen viele Erinnerungsstücke der Familie Herzl. In einem der Alben gibt es auch Fotos der neuen Generation der Familie Herzl. Wir sehen ein Foto von Ora, der Tochter von Mische, einem weiteren Cousin der Damen. Ora hat fromm geheiratet und lebt heute als sehr religiöse Jüdin. Ihre Kinder tragen Pajes und schwarze Kippot. Es ist doch Ironie, dass Nachfahren des Mannes, der die Juden sehen wollte wie alle anderen Völker, traditionell gekleidet und fromm sind.

Mosche war früher in der zionistischen Bewegung aktiv und besitzt heute noch viele empörte Artikel und Briefe, über die Kinder Herzls, denen ein Grab im Staate Israel bis heute nicht gestattet wurde.

So werden durch das alltägliche Leben dieser Menschen viele Fragen über den Zionismus aufgeworfen, meint  Regisseur Micha Schagrir. Ich hoffe dass der Film nicht nur im österreichischen und israelischen Fernsehen, sondern auch anderswo ausgestrahlt wird. Denn dies ist kein nostalgischer Rückblick, sondern ein Versuch zu verstehen, was getan werden muss, um das Leben im jüdischen Staat zu verbessern.

Roberta Breiter und Ian Goren

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Fragmente einer vagen Vision

Was junge Israelis über Theodor Herzl wissen und denken

Theodor Herzl oder Benyamin Zeev Herzl – so wie offizielle israelische Sprecher ihn gewissenhaft nennen – ist eine geheimnisvolle Figur. Sogar leidenschaftliche Zionisten der alten Schule schaffen es nicht immer, sein turbulentes Leben und seine zweifelhaften Ideen bezüglich der Juden und ihres Schicksals wirklich zu verstehen.

Eine Spur zur Haltung von jungen Israelis gegenüber dem König der Juden zu finden, ist noch schwieriger. Herzl starb vor 100 Jahren. Die meisten Israelis kamen nicht dazu sein Portrait auf den Banknoten, welche vor einigen Jahren aus dem Verkehr gezogen wurden, zu sehen. Die meisten von ihnen sind von den großen verbindenden Ideen des traditionellen Zionismus eher desillusioniert und mehr an ihrer eigenen individuellen Verwirklichung interessiert.

Für Teenager und Twens wird die Erinnerung an Herzl vor allem mit dem Namen der Strasse in Tel Aviv, wo es billige Möbel zu kaufen gibt, assoziiert. In den Schulen ist Herzl zwar ein Pflichtthema, doch für die meisten Schüler symbolisiert er nur noch eine weitere Hürde in der langen und langweiligen Odyssee zum Schulabschluss.

Es existiert kein Museum, in dem die Jugend über sein Lebenswerk lernen kann, da das Herzl Museum am Herzl Berg in Jerusalem so schlecht geführt war, dass es vor 7 Jahren geschlossen wurde – es ist allerdings eine Wiedereröffnung diesen Sommer mit der Hilfe der Stadt Wien geplant.

Doch nicht allen jungen Israelis ist der zionistische Prophet gleichgültig. Manche kämpfen mit seinem Vermächtnis. Wenn man tief genug gräbt, findet man schon jene, die wenigstens daran interessiert sind, was Herzl gesagt hat, oder sie sind zumindest bereit, seinem Vermächtnis Aufmerksamkeit zu schenken.

Hier einige Beispiele: Schüler basieren ihre futuristischen Aufsätze auf seinen Ideen; ein Student, der entsetzt darüber ist, dass Herzl eigentlich die Unterdrückung der individuellen jüdischen und arabischen Identität heraufbeschworen hat, taucht mit seinen Fotografien in das Unterbewusstsein der Stadt Tel Aviv ein.

Eine Hip Hop Band versucht den Vater des Zionismus in ihre Texte einzubringen, um am Ende herauszufinden, dass er eigentlich das Marihuanarauchen gepredigt hat.

Und wenn er emotional und ideologisch nicht leicht zu verdauen ist, so kann dies wenigstens kulinarisch getan werden: scharf denkende Unternehmer halten den visionären Vater des jüdischen Staates als Werbungsfigur für die Catering Industrie am Leben.

Der perplexe Schüler:

Schülern die Aufgabe zu geben, die Parallelen zwischen der idealistischen Vision und der weniger idealen Realität zu geben, ist schon an sich eine große Herausforderung. Doch die Aufgabe, zu der Dutzende von Teenagern aufgerufen wurden, war sogar noch komplexer: ein Aufsatz über Israel im Jahre 2025 – in Bezug auf Herzls Vision.

Die Webseite des Wettbewerbs, welche vom Unterrichtsministerium und dem Reichman Koleg in Herzlya gesponsert wird, ist sehr hochgestochen: „Herzls Vision wurde verwirklicht und in eine beeindruckende und außergewöhnliche Realität verwandelt“, wird dort verkündet. Mit dem jüdischen Staat wurde in Eretz Israel eine vorbildliche Demokratie gegründet. Die Webseite ruft die Schüler auf, Verantwortung zu zeigen und die Fackel weiterzureichen.

Alle fünf Autoren der preisgekrönten Aufsätze haben etwas gemeinsam: Sie alle, vielleicht unterbewusst, befassen sich mit den problematischen Details von Herzls Vision, obwohl sie alle bezeugen, dass in der Schule keiner ihre Aufmerksamkeit auf diese Themen gelenkt hat.

Den jungen Autoren nach ist das zukünftige Israel ein westeuropäisches säkulares Land, von aschkenasischen Juden regiert.

Die Währung ist der Euro und frisches Wasser kommt aus einer Kläranlage, in einem Gebiet, welches früher als der Gaza- Streifen bekannt war.

Zwei der jungen Gewinner sind Liat Rodner und Ori Edelman. Das Gespräch mit den beiden deckt Gemeinsamkeiten auf: Sie sind beide intelligent und eloquent, wissen wenig über Herzls Schriften, sind religiös und geben unter etwas Druck zu, dass ihre Vision zweifelhaft und unrealistisch sei und Herzl wäre mit beiden Utopien einverstanden gewesen.

Liat Rodner ist 18 Jahre alt und lebt in Netanya. Nach dem Abschluss des Bar Ilan Gymnasiums für Mädchen steht sie unmittelbar vor dem Beginn ihres nationalen Dienstes (Zivildienstes), eine Lösung, die es religiösen Mädchen erlaubt, der Gesellschaft zu dienen, ohne in die Armee einzurücken.

Rodner meint, sie hätte an dem Wettbewerb aus literarischer und nicht aus zionistischer Motivation teilgenommen.

In ihrer utopischen Story „Straßensperre“ besucht der irakische Bub Jamil das gedeihende Israel. Er kann kaum glauben, dass die Araber jemals mit dem jüdischen Volk, das in einem ultra-modernen Staat, in dem Harmonie, perfekte Ordnung und Vorschritt regieren, lebt, eine Fehde hatten.

Palästinenser und ehemalige israelische Araber leben in einem kleinen Staat, den ihnen die großzügigen Israelis zur Verfügung gestellt haben und „Die Straßensperre” ist ein kleines Restaurant, eine Erinnerung aus längst vergangenen Tagen.

Die Souvenirs, die am Markt verkauft werden, sind aus Olivenholz geschnitzte Kamele, Kipot und Puppen, die israelische Soldaten darstellen. Die Juden sprechen flüssig arabisch und sind sich trotzdem ihrer eigenen Tradition stolz bewusst. In einem Wort: Altneuland.

Die Bewunderung der Araber den Juden gegenüber ist eine witzige und nette Idee, meint Liat, das heißt nicht, dass sie ihre Einzigartigkeit und Eigenständigkeit verloren haben. Die Idee hier ist nur, dass uns alle bewundern, das genaue Gegenteil der Wirklichkeit. Im richtigen Leben werden wir von allen gehasst.

Herzl hat in seinen Schriften den Bewohnern von Palästina keine besondere Bedeutung beigemessen. Einer seiner Nachfolger, Israel Zangvill, sah die zionistische Version der Rückkehr nach Zion folgendermaßen: Einem Volk ohne Land gebührt ein Land ohne Volk.

Glaubt Liat, dass ein palästinensisches Volk existiert? Oh nein, so etwas gibt es nicht. Es wäre ideal, wenn sie verstünden, dass das ganze Land uns gehört und sie in ihre arabischen Staaten zurückkehrten. Es wäre wirklich nett für die Juden, wenn die Araber verschwinden würden. Aber das werden sie nicht, und es wäre falsch sie zu vertreiben.

Ich wollte einen realistischen Touch in meiner Geschichte, so habe ich ihnen einen Staat gegeben. Also ist die Situation, die ich kreiert habe, eine Ko-Existenz. Wir haben ihnen Technologie und Wissen gegeben, doch haben wir selbst Dinge angenommen; ich meine, wir essen Humus und lieben Bauchtanz.

Glaubst Du wirklich, dass deine Version der Utopie Wirklichkeit werden kann?

Nein, ich bin da total realistisch. Ich kann ziemlich sicher sagen, dass sich die Dinge bis 2025 nicht bessern werden. Das passiert vielleicht, wenn meine Enkelkinder gestorben sind. Ich meine immer, wenn die Juden denken, dass alles gut ist, läuft etwas schief. Der Holocaust ist ein sehr düsteres Beispiel, doch er ist nicht das einzige. Der Antisemitismus wird immer existieren.

Herzl meinte, hier zu leben würde den Hass und die Verfolgung der Juden ersticken.

Ich denke seine Vision ist ganz schön schiefgelaufen. Doch es hat geklappt, ein Zuhause für das jüdische Volk zu bauen. Niemand kann mehr mit Steinen auf uns werfen und uns dreckige Juden nennen.

Was ist mit den Selbstmordattentaten?

Das ist immer noch besser, als in einer antisemitischen Umgebung in der Diaspora zu leben. Immerhin können wir uns jetzt nur auf uns selbst verlassen.

Außer auf Amerika.

Tja, das stimmt auch. Das ist der Grund, weshalb wir in meiner Geschichte volle wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit erreicht haben und von allen anderen Staaten voll akzeptiert sind. Es geht eigentlich nur darum, von anderen akzeptiert zu werden. Wir haben doch die Wüste in blühendes Land verwandelt. Wir Juden sind gescheit.

Was also müssen wir tun?

Wir müssen inneren Frieden erreichen und uns dann mit den Arabern versöhnen. Bis jetzt waren wir nur aggressiv, weil wir von anderen gehasst werden. Das ist die Wurzel allen Übels. Dadurch fühlen wir uns degradiert, also hassen wir zurück. Es ist leicht für die Europäer uns vorzuschreiben, wie wir uns benehmen sollen. Niemand hasst sie und niemand bedroht sie.

Die Idee des Teenagers, dass Israel sich in seine Umwelt einfügen wird, klingt vertraut. Ihre Vision erinnert uns an „Altneuland“, obwohl Liat zugibt, das Werk nie gelesen zu haben. „ch weiß alles über Herzl und was für ein Mensch er war. Es war ihm ziemlich egal, ob wir in Zimbabwe oder im Lande Israel leben werden, Hauptsache, die Juden haben ihr nationales Heim. Ich denke, der Charakter dieses Landes war ihm nicht wichtig.

Er träumte von einer weltlichen, europäischen, modernen Einheit.

Er würde wahrscheinlich gerne mehr Springbrunnen in den Städten sehen. Ich nehme an, dass, wenn Herzl uns hier besuchen würde, wäre er nicht zufrieden. Er würde uns wie eine Mutter, die lange sehnsüchtig auf ihr Kind wartet und herausfindet, dass das Kind kein sehr toller Erwachsener geworden ist, ansehen. Aber man liebt sein Kind ja trotzdem, nicht?

Ori Edelman ist siebzehneinhalb Jahre alt und lebt in Mizpeh Nekofa in Galilea. Seine Familie, bestehend aus zwei Brüdern und seinen Eltern, ist religiös. Ori ist Schüler in der Yeshiva in Tiberias. Er schrieb seinen Aufsatz aus Interesse an der Prosa, und nicht an Herzl.

Edelmann befasst sich in seiner Geschichte mit der Art und Weise, wie „Shinui“ (Änderung), eine ultra-sekuläre Partei, momentan 17 von 20 Sitzen in der Knesset ihr Eigen nennt und so die Zukunft der israelischen Politik bestimmt und jede Diskussion mit ihren Prinzipien unterjocht. Den Vorsitz der Partei hält Tommy Lapid – früherer Journalist und Holocaust-Überlebender, der von vielen als extrem anti-religiös angesehen wird. Viele, nicht nur religiöse, sehen seine harsche Kritik an religiösen Institutionen als antisemitisch.

Der junge religiöse Bub sieht das nicht so. In seiner Vision durchgehen junge orthodoxe Männer einen Prozess der „Tschuva“ (Erleuchtung) und verstehen, dass es falsch ist, die säkulare Lebensweise der Israelis zu kritisieren. Sie formen eine Partei, die für die Trennung von Staat und Religion plädiert – so wie Shinui. Friede und Freude regieren, als die Haredischen Juden, die dieser Änderung gegenüberstehen, aufgeben und das Land verlassen.

In Edelmans Geschichte spielt Lapid die Rolle Herzls, der versucht einen Staat zu gründen, in dem Juden leben wie jedes andere Volk auch.

Ist es möglich dass Edelman, ein junger religiöser Jude, den sogenannten Hass Lapids und Herzls auf die Juden und die Jüdischkeit absorbiert hat?

Ori Edelman ist da anderer Meinung. „Ich habe viel über den Riss zwischen Orthodoxen und Weltlichen und den gegenseitigen Hass nachgedacht. Die Leute in meinen Kreisen reden die ganze Zeit darüber. Ich habe beschlossen, dass es möglich ist, Shinui als etwas anderes als eine Bande von Schweinefleischessern anzusehen.

Ich habe verstanden, dass ultra-orthodoxe Juden sich reformieren müssen. Sie müssen eine Verbindung mit der Außenwelt finden, bevor es zu spät ist. Ich sage ja nicht, dass sie in dumme Sex-Filme gehen müssen, aber sie müssen aus dieser extremen Ausgrenzung heraus.“

Du meinst sie sollen ihr Getto verlassen?

Ja, sie haben sich in einem Getto abgegrenzt, doch die Medien und einige Teile der ultra-orthodoxen popularen Kultur sind auch daran Schuld.

Doch würden sie als Juden nicht so ihre Einzigartigkeit verlieren?

Ich glaube fest daran, dass unser Judentum nicht ausgerottet gehört. Wir dürfen unsere Tradition nicht vergessen, nur Israeli zu sein ist nicht genug.

 Deine Geschichte setzt eigentlich Herzls Vision eines kastrierten Judentums, welche so viele Juden im vorigen Jahrhundert erschreckt hat, in die Tat um. Ist Lapid der neue König der Juden?

In der Gemara gibt es die Geschichte über den Juden, der einen großen profanen Vogel, dessen Füße im Wasser und Kopf weit oben im Himmel ist, sieht. Die Allegorie bedeutet, dass gerade dieser Vogel, unter all den verbotenen Kreaturen, das Volk regieren kann. Die Moral ist, dass nicht ein ultra-säkularer Jude die Erlösung bringen wird, doch er wird die Abneigung unter den Juden unterbinden.

Glaubst du, dass deine Vision in der Realität wurzelt?

Irgendwie schon. Öffentliche Verkehrsmittel am Sabbat und nicht-koscheres Essen  zu erlauben, würde doch den Hass veringern. Den Ultra-Orthodoxen zu verstehen zu geben, dass auch die weltlichen Juden existieren, muss doch möglich sein.

Shaanan Street ist unter seinen Freunden und Fans als unbeschwert bekannt. Der Sänger und Songwriter der bekannten Hip Hop Band „Ha Dag Nachash”  (Schlangenfisch) ist das Markenzeichen der israelischen „Coolness“. Seine schlabbrigen Hosen, seine Mariuhana-freundlichen Texte und seine funkige Musik  machen dies möglich. Doch seine Texte drücken eigentlich, wenn auch manchmal etwas plump, die Desillusionierung der Generation der 20- bis 30- Jährigen aus.

Eines der bekanntesten Lieder der Band „Gaby und Debby“ beschreibt die Geschichte zweier Figuren aus dem israelischen Fernsehen der siebziger Jahre. Die beiden  kommen auf Umwegen nach Basel, wo Herzl den jüdischen Staat zum ersten Mal ausgerufen hat. Sie treffen auf einen gleichgültigen Mariuhana-rauchenden Herzl. „Was er doch war, wie ich gehört habe“, meint Street.

Der Text des Liedes geht so: Wie kann Herzl sich ruhig an das Geländer lehnen/wenn in Israel alles brennt / Als ich ihm von den Staus auf den Straßen, den Streiks der Behinderten, der Arbeitslosigkeit und der fehlenden Sicherheit erzähle lacht er nur / legt mir eine weiße Tablette auf die Zunge/und meint „Wenn du das nimmst, ist es kein Märchen./„Ich habe versucht bekannte Sätze in den Text einzubauen, sagt Street, der zwar gut drauf, doch trotzdem von alldem rundherum besorgt ist. Wenn ihr wollt ist es kein Märchen, kam mir sofort in den Sinn. Es ist direkt ein Mythos. Immer wenn Isralis sagen: ,Ich will dieses oder jenes’ kann man mit dem Satz ,Na und, auch Herzl wollte viel’, kontern, da weiß keiner was er darauf sagen soll.

Wieso beschreibst du ihn als Drogensüchtiger und Dealer?

Es war witzig und ironisch ihn so zu portraitieren. Ich hab mal gehört, dass Herzl viel Bier getrunken hat und dass eins seiner Kinder drogensüchtig war. Ich habe nichts gegen ihn. Er war nur ein Hilfsmittel, den ganzen Mist, den wir hier erleben und der uns vorgemacht wird, zu vervollständigen. Ich bin mir sicher, dass die Politiker, die in seinem Namen sprechen, sein Okay nicht bekommen würden.

Man stelle sich vor Herzl besuche heute Israel. Es würde ihm schon beim Anblick seiner Nachfolger in der Knesset schwindlig werden, doch wie würde er reagieren, stände er gegenüber seiner lebensgroßen Statue in einem Hummus Restaurant in Tel Aviv?

Ich nehme an er hätte es lieber, wenn wir Schnitzel und Strudel servieren würden, lacht Nati Bar, der Besitzer der kleinen „Herzl Hummus“ Bude, in der Herzl Straße in Tel Aviv. Die Bude ist mit den Bildern von Herzls Exkursion im Lande im Jahre 1898 geschmückt.

Natürlich hilft das der Werbung. Die Einladung zum ersten Zionistenkongress spricht vor allem ältere Menschen an, sie reagieren irgendwie nostalgisch. Andere sagen er war pervers und litt an Syphilis.

Und was denkst du?

Was kann ich sagen? Ich bin ein Zionist. Ich liebe unseren Staat, obohl es noch dauern wird den Traum in Realität zu verwandeln. Doch ich glaube daran, Israel ist unser einziges Zuhause. Da bin ich mir sicher.

Und was denkt die Kundschaft?

Die fänden sicher den Namen Hummus Britney Spears’ besser.

Ori Han ist ein andere Unternehmer und selbsternannter Zionist. Er hat beschlossen, Herzl, sowie auch andere zionistische Führer als Werbegag zum Verkauf von Zucker zu benutzen. Der Vater des Zionismus glänzt auf kleinen Zuckersäckchen, die Han in Kaffeehäusern verteilt. So können Kaffee- und Tee-Genießer entscheiden, ob sie mit Herzl, oder dessen Gegenstück – Ahad Haam – ihr Getränk versüßen. Die Zuckersäckchen sind ein Hit in den verschiedenen Lokalen. Das ist vielleicht noch am nähesten zum Traum von einer „normalen“ Nation.

Auf der einen Seite ist es einfach der retro-Trend, und auf der anderen Seite haben viele Teenager, wie meine Tochter, keine Ahnung. So ist die Idee kommerziell und pädagogisch gut.

Die Rückseite der Säckchen enthält kurze Details über den Portraitierten: „Autor, Schriftsteller und Journalist. Gründer des Zionismus und der Zionistischen Vereinigung. Leiter des ersten Zionistenkongresses in Basel. Berühmte Werke: „Altneuland“ und „Der jüdische Staat“.

Warum steht dort nicht, dass er der Visionär des jüdischen Staates war?   

Tja, es ist nicht einfach so ein Leben auf der Rückseite eines Zuckersäckchens zu beschreiben, doch ich denke es ist einfacher als ein Buch über Herzl zu schreiben.

Ilan Goren - Übersetzt von Roberta Breiter

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Das tragische Ende der Trude Neumann

Tochter und Schwiegersohn Theodor Herzls starben in Theresienstadt

Zu den ersten Fachleuten, die Zugang zu den Beständen dieser Behörde hatten, gehörten die Zeithistoriker Oliver Rathkolb und Theodor Venus. „Bis zur Genehmigung ist ein halbes bis drei viertel Jahr vergangen“, erinnert sich Rathkolb, der 1998 nach Dokumenten und Quellen auch für seine PSK-Forschungen gesucht hatte. Rathkolb: „Wir haben im völlig verdreckten Keller gearbeitet. Leider sind die Unterlagen durch die Übersiedlung ins Staatsarchiv  durcheinander geraten. Leider ist für uns danach auch eine Verschlechterung der Situation eingetreten, da nicht wie mit der Historikerkommission vereinbart, die Kartei auch für andere Benützer verwendbar gemacht wurde.“

Auf noch ein Faktum verweist der Historiker: In den unmittelbaren Nachkriegsjahren, auf jeden Fall seit 1947, hatte die Israelitische Kultusgemeinde Zugang „zumindest zu einem Teil der Unterlagen.“ Ein freier Zugang wie in jedem anderen Archiv war allerdings nie gegeben.

Die zu den Transportlisten gehörenden Akten geben darüber hinaus wesentliche Aufschlüsse über die der physischen Auslöschung vorangegangene systematische Enteignung der zum Abtransport Verurteilten. Sie ergänzen damit entscheidend jene der Vermögensverkehrsstelle, die im Gegensatz zu denen der Finanzlandesdirektion seit Jahren im Archiv der Republik öffentlich zugänglich sind.

Unter den Akten der Finanzlandesdirektion befindet sich auch jener von Richard und Trude Neumann. Er unterscheidet sich von vielen anderen, die von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ über die aus Wien deportierten Juden angelegt wurden und in den folgenden Jahrzehnten in der Finanzlandesdirektion in der Wiener Wollzeile gelagert waren. Er besteht nicht nur aus wenigen Blättern, auf denen die Enteignung der letzten Barmittel von Menschen festgehalten ist, nur weil diese gemäß der nationalsozialistischen Rassengesetze Juden waren oder als solche galten, sondern aus mehr als fünfzig an den Rändern oft versengten Seiten.

Auf dem Deckblatt des Aktes ist Theresienstadt als Zielort der Zwangsverschickung eingetragen, ebenso die Namen und die Geburtsdaten des Ehepaars sowie deren Transportnummern (40/965,967). Handschriftlich ist ein Vermerk angefügt: „Keine Liegenschaft“. Unterhalb des Deckblatts öffnet sich dann die Geschichte von Richard und Trude Neumann, geschrieben aus der amtlichen Perspektive des Nationalsozialismus und somit ausschließlich auf jene Vermögenswerte konzentriert, die dem Ehepaar bis zum März 1938 gehört hatten.

Zum Zeitpunkt der Deportation am 10. September 1942 besaßen Richard und Trude Neumann gerade 156 Reichsmark. Auf einem Konto beim Bankhaus Mayer, Loss & Co in der Rathausstraße lagen 4.173 Reichsmark. Auf dieses hatte der 75jährige, der seit Mai 1942 in einem Altersheim des Ältestenrates der Juden in Wien gelebt hatte, aber keinen Zugriff mehr. Längst war es gesperrt. Vier Monate nach der Ankunft im KZ Theresienstadt wurde die Summe auf das bei der Länderbank geführte Sonderkonto „Judenumsiedlung“ unter genauer Wiedergabe des Aktenzeichens „XL/965,967“ überwiesen.

Richard Neumann war früher Industrieller gewesen, so wie sein Vater Leopold, der 80-jährig mitten im Ersten Weltkrieg verstorben war. Richard Neumann trug einen tschechoslowakischen Pass und hatte bis zum „Anschluss“ in der Bösendorferstraße unweit der Ringstraße gewohnt, seit Sommer 1934 als Pensionist, mit einer Rente, deren Höhe er später mit jährlich 8.800 Reichsmark bezifferte. Damals befand sich seine Frau bereits seit drei Jahren freiwillig in stationärer psychiatrischer Behandlung.

Trude Neumann war um 26 Jahre jünger als ihr Mann. Sie war die Tochter des ehemaligen Paris-Korrespondenten und Feuilleton-Redakteurs der Neuen Freien Presse Theodor Herzl, der durch sein 1896 veröffentlichtes Buch „Der Judenstaat: Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“ zum geistigen Vater des Staates Israel wurde. Herzl hatte im Jahr darauf in Basel den ersten zionistischen Kongress einberufen.

Trude Neumanns Einlieferung in das Privat-Sanatorium Inzersdorf im September 1931 war eine private Katastrophe vorangegangen, die möglicherweise die Erkrankung ausgelöst hatte. Im Jahr zuvor, am Tag des Begräbnisses ihrer morphiumsüchtigen Schwester Pauline, die in Bordeaux Selbstmord begangen hatte, hatte sich auch ihr Bruder Hans umgebracht.  Trude Neumann verbrachte mehrere Jahre im Sanatorium Emil Fries, ehe sie in das von Viktor Zuckerkandl gegründete  und Josef Hoffmann gestaltete Sanatorium Purkersdorf verlegt wurde.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es für sie – so wie für die Ärzte-, Professoren- und Intellektuellen-Familie Zuckerkandl keinen Platz mehr im bald „arisierten“ Purkersdorfer Areal. Im April 1938 wurde Trude Neumann  in die psychiatrische Anstalt „Am Steinhof“ eingewiesen und sogleich entmündigt. Der Wiener Rechtsanwalt Friedrich Hetzer wurde zu ihrem Kurator ernannt. In Purkersdorf war Trude Neumanns persönlicher Besitz zurückgeblieben: Kleider, Wäsche, Bücher, Schriften, Fotografien, Nippes, zwei Ölgemälde und „viele wertlose Sachen“, wie Hetzer Jahres später an die Geheime Staatspolizei schrieb. Der Anwalt verwahrte die in Kisten und Koffer verpackten Fahrnisse bei sich.

Bereits im Sommer 1938 hatte der Beistand im „Verzeichnis über das Vermögen von Juden“ die verlangten Angaben über die Vermögenswerte der Herzl-Tochter gemacht: Wertpapiere (3.828 RM); Spareinlagen (216,16 RM); Gegenstände aus edlem Metall, Schmuck und Luxusgegenstände, Kunstgegenstände und Sammlungen (10.073 RM); Edelmetalle, Edelsteine und Perlen (300,-).

Alles, was die in Steinhof Internierte einmal besessen hatte, wurde erfasst, geschätzt und letztlich verwertet, auch die Urheberrechte „aus dem Nachlasse des Vaters meiner Kurandin, Dr. Theodor Herzl, an den ‚Jüdischen Verlag‘ in Berlin“, wie Friedrich Hetzer in einem Schriftsatz festhielt. „Laut Vereinbarung mit dem Verlag sind für jede verkaufte einfache Ausgabe der Tagebücher des Dr. Theodor Herzl RM 0,66, für jedes verkaufte Exemplar der Luxusausgabe RM 0,75 zu bezahlen. Nach der letzten Angabe des Verlages sind noch 365 Stück der einfachen und 270 der Luxusausgabe unverkauft. Der Wert des Urheberrechtes hängt davon ab, ob die restlichen Exemplare noch verkauft werden können, was unter den gegebenen Verhältnissen zweifelhaft ist.“

Auch Richard Neumann hatte längst seine Vermögenswerte schätzen lassen müssen, die Manschettenknöpfe und Ringe mit Smaragden und Brillanten, die Teppiche, Bilder und Kunstgegenstände in der Wohnung, und alles zusammen der Vermögensverkehrsstelle angegeben. Als er im Mai 1942 im Altersheim des Ältestenrates eine Bleibe fand, war das, was er einmal besessen hatte, weg oder für ihn gesperrt.

Kurator Friedrich Hetzer bemühte sich indes um eine Verbesserung der Lage Trude Neumanns in Steinhof. Ende September 1942 schrieb er der Gestapo, ihm sei mitgeteilt worden, dass seinerzeit „die Neumann nur in der Anstaltskleidung und Wäsche“ aus Purkersdorf abgeholt worden sei: „Namentlich soll sie nicht im Besitze eines Mantels oder Überkleides sein. Ich wurde daher gebeten, ihr noch einiges von den in meiner Verwahrung befindlichen Kleidern und Wäsche, insbesondere einen Mantel, auszufolgen.“ Doch da war das Ehepaar bereits seit vierzehn Tagen in Theresienstadt.

So blieb nur noch eines: Jene in Kisten und Koffern verpackte Fahrnisse zu veräußern, die seit Trude Neumanns Zwangseinlieferung nach Steinhof beim Kurator lagen. Im Dezember 1942 erhielt der Kurator daher den Auftrag der Zentralstelle für jüdische Auswanderung: „Ich teile mit, dass die Jüdin Neumann am 10. September 1942 zur Wohnsitzverlegung nach Theresienstadt veranlasst wurde. Die Vermögenswerte dieser Juden werden zur Deckung der Aufenthaltskosten im Getto verwendet. Ich bitte beim Amtsgericht die Freigabe der Vermögenswerte zu erwirken.“

Richard Neumann starb am 21. Jänner 1943. Darüber steht aber nichts in den Akten, die bis vor wenigen Monaten im Archiv der Finanzlandesdirektion verschlossen gewesen sind. Man erfährt es aus dem 1971 erstmals veröffentlichten „Totenbuch Theresienstadt“. Der britische Historiker Steven Beller schreibt, dass auch Trude Neumann bereits zu Beginn des Jahres 1943 ums Leben kam.

Der einzige, der sich vor dem Zugriff der Nationalsozialisten hatte retten können, war Richard und Trude Neumanns Sohn Stephen Theodor. Dieser, der in Cambridge studiert hatte, beging nur drei Jahre nach der Ermordung seiner Eltern in Washington D.C. Selbstmord.

Hubertus Czernin

Der Text erschien ursprünglich in der Wiener Tageszeitung „Der Standard“, und wurde für die vorliegende Ausgabe nur unwesentlich modifiziert.

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Der Prophet im Frack

Theodor Herzls russische Mission

Als im April 1903 die Nachrichten vom Pogrom  im bessarabischen  Kishinew den Westen erreichten,  wollte  man zunächst kaum glauben, dass im aufgeklärten 20. Jahrhundert, selbst im barbarischen Russland, solche Ausschreitungen noch möglich  wären.

Dann wurden Einzelheiten bekannt: Ausgelöst durch eine Ritualmordlüge waren am Ostersonntag 43  Männer, Frauen und Kinder ermordet,  495 verletzt,  700 Häuser geplündert und zerstört worden.  Entsetzt und mehr denn je von seiner Mission erfüllt, beschloss Herzl nach Petersburg zu reisen, um möglichst dem Zaren selbst ganz allgemein die Gedanken des Zionismus darzulegen.  Er verband damit  auch konkrete Vorhaben, nämlich den Zaren  zu einer Intervention beim Sultan  zu veranlassen und eine freie Agitation der Zionisten in Russland zu gestatten. In kaum einem Land war die Bewegung so rigorosen Repressionen und Misstrauen ausgesetzt wie gerade in Russland. In einer Studie des Polizeidepartements über den Zionismus wurde Herzl als „entschiedener Feind Russlands“ apostrophiert.

Die Voraussetzungen waren denkbar ungünstig. Abgesehen von einer allgemein-diffusen  antijüdischen  Stimmung im Lande, sowohl bei der Bevölkerung als auch den Behörden, zeichnete sich vor allem das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Oberprokurator der Heiligen Synode, Pobedonoszew, der  entscheidenden Einfluss auf den Zaren ausübte,  als rabiater  Slawophile und Judenhasser aus. Innerhalb der Judenschaft selbst,  immerhin 5 Millionen, gab es Gruppierungen, die Bundisten (algemayner bund fun di yiddische arbeter fun russland, Poyln un Lite), die zahlenmäßig beachtlich, gut organisiert auf die  soziale Revolution setzten. Sie betrachteten  sich als die einzigen legitimen Vertreter des jüdischen Proletariats  und lehnten den Zionismus als nationalistische  Entartung und bürgerliche Reaktion auf den Antisemitismus vehement ab.

Herzl wollte ein Empfehlungsschreiben Lord Rothschilds aus London abwarten, das ihm den Weg zum allerhöchsten Herrscher ebnen sollte,  denn bei allen nationalen und  religiösen Ressentiments mochten auch die Höflinge in Petersburg  ihre   Ohren und Herzen  dem lieblichen  Klang nicht verschließen,  die den Worten  eines potenten Bankiers nun einmal eigen sind. Das Schreiben blieb aus. Lord Rothschild hatte andere Prioritäten. Stattdessen erhielt Herzl einen Einführungsbrief  von Bertha von Suttner, deren pazifistische Agitation  mit den durchaus ernst gemeinten  Abrüstungsinitiativen  des Zaren auf einer Linie lag. Freilich hatten die Hofkreise schon die Weichen anders,  auf eine Rüstung für den nächsten Krieg, gestellt.  Ihr Brief wurde nicht einmal beantwortet. Erfolgreicher war  eine polnische, mit einem Russen verheirate Gräfin, Pauline Korvin-Piatrovskaja, die über ausgezeichnete Kontakte in der Petersburger Gesellschaft verfügte...  Bemerkenswerterweise haben sich vielfach gerade Nichtjuden für die Sache  des Zionismus engagiert. Sie vermittelten Herzl Audienzen beim Innenminister Plehwe, den man als insgeheimen Drahtzieher der Pogrome betrachtete, der aber das besondere Vertrauen des Zaren Nikolaus II genoss, und beim Finanzminister Witte, dieser mit einer Jüdin verheiratet.  Man kann davon ausgehen, dass  diese Kontakte mit dem Zaren abgesprochen worden waren. Herzl jedenfalls  war voll Optimismus,  vertraute darauf, dass er dank Beredsamkeit  Verständnis für die Sache des Zionismus erzeugen könnte. Leider waren die zwei Herren Minister einander in tiefer Feindschaft verbunden. Witte schrieb in seinen Memoiren über Plehwe: „Wir hatten verschiedene Auffassungen (ich rede nicht von Überzeugungen, weil er diese nicht besaß).“ Beide behandelten Herzl nicht unhöflich und  gewährten ihm hinreichend Zeit für seine Darlegungen. Witte behauptete sogar, die Angelegenheit dem Zaren unterbreitet zu haben. An und für sich stand man einer Auswanderung der Juden  nicht ganz negativ gegenüber, freilich a la Russe:  „Witte erklärte treuherzig, man ließe den Juden doch Ermutigungen zur Emigration zukommen.“ Zum Beispiel Fußtritte! Loswerden wollte man Alte,  Gebrechliche und Frauen, der Ausdruck „Ballastexistenzen“ war noch nicht erfunden, entsprach aber dem Konzept. Die Intelligenz, das Geld und nicht zuletzt Wehrpflichtige wollte man sich bewahren, denn Großmachtpolitik  beruhte auf einer   großen Armee. Bedauerlicherweise ereignete sich ein nie ganz geklärter Zwischenfall: Der russische Konsul in Konstantinopel wurde ermordet. Das veranlasste das Kaiserliche Russland zu kräftigen Drohgebärden, einem  Defilee  der Flotte,  wie es damals einer Großmacht oder einem Staat, der dafür gelten wollte, anstand.  Für zionistenfreundliche Interventionen war da kein Platz mehr. Es blieb dann bei einer vagen Zusage, wenigstens die Tätigkeit der Zionistischen Kolonialbank in Russland  wohlwollend zu prüfen  So reiste denn Herzl nach neun Tagen, die  die Welt des Zionismus bewegen hätten können, wieder ab. Er machte am Rückweg in Wilna Zwischenstation. Dort kam er zum ersten Mal in direkte Berührung mit dem Leben im russischen Getto, eine Begegnung, der er bislang  peinlich ausgewichen war.  Die Polizei verbot ihm zwar jedes öffentliche Auftreten, bei einem zu seinen Ehren gegebenen Abendessen registrierte sie  nicht nur die Anzahl der Gäste, sondern auch den Namen des Kochs, aber auf einer Fahrt durch das Judenviertel ließ er unvermutet  anhalten und betrat das Gewölbe eines Schusters. Die Unterhaltung mit diesem einfachen Mann war für ihn das  Schlüsselerlebnis schlechthin, das ihm die Augen für das Elend, die Unterdrückung,  aber auch die Hoffnungen der russischen Juden öffnete und fortan begleitete. Beim folgenden Zionistenkongress in Basel versuchte Herzl dann vergeblich positiven Aspekte seiner Reise  zu präsentieren. Er wurde lebhaft kritisiert und starb nach knapp einem Jahr. Drei Monate nach  Herzls Tod zerriss die Bombe eines Attentäters Herzls Gesprächspartner, den  Minister Witte. Täter war ein junger Jude aus der Sekte der „Essener“. Das Kapitel Herzls Mission in Russland blieb ein Torso.

Mit „Der Prophet im Frack“, (Bohlau Verlag, 2003, 140 S., Euro 20,60)  gibt  Gennadi Kagan eine belletristische Darstellung seiner ausführlichen Untersuchung „Der Ruf aus Wien“.

Heimo Kellner - (ein erster Artikel ist in INW April/Mai 2003 erschienen )

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Buchecke

Die Chuzpe zu Leben

Asher Ben-Natan, von israelischen Veteranen noch immer liebevoll bei seinem ursprünglichen Vornamen „Artur“ angeredet, ist eine lebende Legende: Pionier, Geheimdienstchef, Spitzendiplomat seine Landes in Bonn und Paris und vieles mehr. Mit anderen Worten ein Symbol der glorreichen Vergangenheit Israels, als der jüdische Staat noch die Sympathie der aufgeklärten Weltöffentlichkeit hatte. Oder zumindest zu haben glaubte. Symbol einer Zeit, in der man sich noch ohne Vorbehalt zum Zionismus bekennen konnte.

Ben-Natan hat alle diese so unterschiedlichen Aufgaben brillant bewältigt. Wobei ihm vielleicht sein Aussehen half: Ein Hüne an Gestalt, blond wie Siegfried, bevor sein Haar altersbedingt schütter wurde. Er selbst spricht humorvoll von seinem „arischen Erscheinungsbild“.

Weniger bekannt als der Spitzname Artur ist der ursprüngliche Name des Autors „Piernikarz“. Mit dem hätte er schwerlich unter den Diplomaten seines Landes Karriere machen können. So kam ihm die Hebräisierungskampagne gerade recht. Offiziell änderte er seinen Namen aber erst 1947 –  er wurde zu Asher sein erster hebräischer Vorname) Ben-Natan, nach dem Vornamen seines Vaters.

Mit einem der ersten „illegalen“ Transporte kam der – im Gegensatz zu Teddy Kollek „echte Wiener“ – 1938 nach Palästina. Sein Vater folgte „legal“, weil er in weiser Voraussicht bei einer „Stippvisite“ ein Stück Land erworben hatte.

Ben-Natans Werdegang ging geradlinig weiter: In den Kibbuz, in die Haganas und dazwischen in den Hafen der Ehe mit einer Wienerin. Er blieb nicht bei der „gewöhnlichen“ Hagana, sondern trat in jene Sonderabteilung ein, die sich die illegale Einwanderung überlebender Juden aus Europa zum Ziel gemacht hatte: Dem Mossad, das „Institut“, wie man die Organisation vereinfacht nannte. Oder „Bricha“, hebräisch „Flucht“. Und sein nächster Weg führte – auf abenteuerlichen Wegen mit falschen Papieren – nach Wien, das die Hagana als Zentrale für weitere Operation auserkoren hatte.

Mit der Ausrufung des Staates Israel hatte die „Bricha“ ihren eigentlich Zweck verloren, und Ben-Natan übersiedelte ins neue Außenministerium, ins Ressort ziviler Geheimdienst, das offiziel als „Politische Abteilung“ firmierte. Dort war er für den Aufbau eine Netzes von Agenten in Europa verantwortlich, also den Vorläufern des offiziellen Mossad. Den noch heute verbreiteten Eindruck, dass dort alle an einem Strang zogen, verbannt er ins Reich der Legende. So herrschte absolut keine Sympathie zwischen ihm und seinem Chef Reuben Shiloah, der seinen persönlichen Kontakt zu Ben Gurion rücksichtslos einsetzte. Dieser Streit führte schließlich dazu, dass Ben-Natan vorerst aus dem Ministerium ausschied. Danach beschloss er seine lange unterbrochene Bildung in Genf zu ergänzen, bis ihm das Finanzministerium den Posten eines Direktors einer Firma anbot, die den Import von Konservenfleisch aus Eritrea (im israelischen Volksmund „Negusbeine“ genannt), organisierte. Wobei natürlich auch die Rolle Äthiopiens (zu dem Eritrea damals gehörte) als nicht islamischen Nachbarstaat der arabischen Welt ins Gewicht fiel.

Ben-Natan saß noch an der politischen „Outlinie“, als Nasser den Suez-Kanal verstaatlichte und Israel mit Vernichtung bedrohte. Worauf sich Israel an Paris wandte, das sich im Algerienkrieg allein gelassen fühlte. Und in den Geheimverhandlungen mit den Franzosen wurde der erfahrene Geheimdienstmann „Artur” wieder eingebaut.

Der resultierende erste Suezkrieg 1956 endete in einem Fiasko und der bislang im Schatten Ben Gurions gestandene Shimon Peres avancierte zum Generaldirektor im Verteidigungsministerium und rief Ben-Natan in sein Ressort. Zuerst als Leiter der Einkaufs-Abteilung und dann als seinen eigenen Nachfolger als Generaldirektor.

1965 hatten sich Israels Beziehungen mit Bonn in einem Maß normalisiert, dass Ben-Natan zum ersten Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik ernannt wurde. Es war kein leichter Posten. Der Kalte Krieg war am Höhepunkt und die „neue Linke“ war mit Sack und Pack ins arabische Lager übersiedelt. Am Rhein grüßten ihn Slogans wie „Nazi-Kiesinger (der damalige deutsche Kanzler) oder "Ben-Natan, eine Clique mit Dayan“. Doch der Angegriffene hatte zu viel erlebt, um sich durch Schreihälse beeindrucken zu lassen. Sein Erfolg am Rhein prädestinierte ihn für einen der wichtigsten Posten in der israelischen Diplomatie, als Botschafter in Paris.

1975 schied er aus dem diplomatischen Dienst formell aus, wirkte als Peres’ Berater und Stadtrat in Tel Aviv.

Schließlich wurde er zur treibenden Kraft der Israelisch-Deutschen Gesellschaft. In Wien ist er bei den Herzl-Symposien ein gerne gesehener Referent und wird auch heuer bei der Feier des 100. Todestages des Gründers des politischen Zionismus erwartet.

L.O.M.

Asher Ben-Natan: Die Chuzpe zu leben. Stationen meines Lebens. Mit einem Vorwort von Shimon Peres. Deutsche Bearbeitung: Anna Balli. Droste Verlag, 327 S. Euro 25,50


Zionistische Föderation

Hundert Jahre nach dem Tod Theodor Herzls hat der politische Zionismus in den Augen breiter Teile der zeitgenössischen Bevölkerung den Ruf einer geheimen oder mystischen Organisation erhalten.

Was für Thesen werden heutzutage verbreitet: Für die jungen meist selbsternannten Interpreten ist der Zionismus so tot wie die Bewegung der Wiedertäufer – gestorben mit der Geburt des Staates Israel.

Für die Mehrzahl der „Mainstream“-Juden ist er der Zement, der das Volk Israel zusammenhält.

Für die Ultraorthodoxen ist er eine Erfindung des Satans.

Für seine nichtjüdischen Gegner zielt er auf die Weltherrschaft im Sinne der „Protokolle der Weisen von Zion“ ab.

All das ist natürlich Nonsens. Aber selbst die Meinung der Gutwilligen, er sei eine einheitliche Bewegung, stimmt nicht.

Selbst in einem kleinen Land wie Österreich ist das Ziel der Darstellung der Herausgeber des vorliegenden Buches, nachzuweisen, dass die Unterstützer aus sehr unterschiedlichen politischen und religiösen Lagern stammen. Ein „Einheitsbrei“ sollte die Föderation wahrlich nicht werden.

Die Zionistische Föderation Österreichs wurde im September 1947 von Itzhak Greenbaum – also noch vor der Ausrufung des Staates Israel, ins Leben gerufen.

Greenbaum war ehemaliges Mitglied des polnischen Sejm und später Israels erster Innenminister und kontroversieller Vertreter sekulärer Interessen in der Knesset.

Es ginge zu weit von einer „Wiedergründung“ zu sprechen, erinnert man sich an die Massenbewegung vor der Shoah, welche in den dreißiger Jahren die Kulturgemeinde „erobert“ hatte. Aber es war ein Bekenntnis für die Zukunft. Was hätte man von den knapp 2.000 überlebenden Juden in Wien damals erwarten können?

Zum Inhalt: Das Buch ist eine wichtige Kurzdokumentation, bestehend aus einer Aufstellung verschiedener zionistischer „Unterorganisation“, sowie Referaten verschiedener Zeitzeugen.

L.O.M.

Josef Grünberger, Nechemja Gang, Evelyn Adunka (Hrsg.): Die Zionistische Föderation in Österreich nach der Shoah, Zionistische Föderation in Österreich, 1010 Wien,
Desider Friedmannplatz 1. Tel. +43 1 214 80 11.

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Michaela Scheday

1953–2004

Unbequem, kritisch, kompliziert, in ihrem Anspruch auf Perfektion unermüdlich, oft unverstanden – die Wiener Regisseurin und Schauspielerin Michaela Scheday (1953–2004) blieb in gewisser Weise immer Außenseiterin.

Allerdings eine überaus erfolgreiche. In zahlreichen Hauptrollen – in Ibsens Nora, Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe – setzte sie ihre Sichtweise der Welt in die Theaterrealität um.

Als Regisseurin (unter anderem von Shakespeares „Was ihr wollt“ und Felix Mitterers „Die wilde Frau“) blieb sie dieser Haltung treu.

Wurde ihr gar nicht stummer Protest gegen gesellschaftliche Missstände, Gleichgültigkeit, Ignoranz  je verstanden?

Die Verleihung des Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien sollte nicht voreilig als Bejahung dieser Frage interpretiert werden. „Wenn heute Künstler mit Ehrezeichen dekoriert werden, zeigt das auch die Ratlosigkeit der Gesellschaft bei der Frage, was man sonst mit ihnen machen sollte“, sagte der Schriftsteller Heinz R. Unger in seiner Laudatio zur Verleihung.

Michaela Scheday – die vor ihrer Bühnenkarriere eine Zeit in einem Kibbuz verbrachte – war auch literarisch tätig. Mit der Inszenierung „Ein Fest für Frida Kahlo“ wählte sie einen Stoff, in dem sich auch Motive ihres eigenen, zu kurzen Lebens fanden.

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Letzte Änderung: 03.01.2012
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