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Suche nach dem Ernst des Lebens

„The Search“ von Michel Hazanavicius bei den Filmfestspielen in Cannes. Während der Filmfestspiele war Cannes an der französischen Cote D’Azur in diesem Jahr mehr denn je ein Ort der verstörenden Extreme.

Auf der roten Treppe vor dem Festivalpalais posierten die weiblichen Stars in teuren Designer-Roben – wie Catherine Deneuve, Nicole Kidman, Julianne Moore, Uma Thurman, Marion Cotillard oder Bérénice Bejo – während auf der übergroßen Leinwand des Festivalkinos Not und Elend dominierten.

Wie etwa im Drama The Search von Michel Hazanavicius. Der französische Regisseur mit polnisch-jüdischen Wurzeln, der für sein ebenso humorvolles wie nostalgisches Stummfilm-Epos The Artist vor zwei Jahren den Regie-Oscar einheimste, lässt in seinem neuesten Film einen verwahrlosten Jungen, Hadji, durch die vom Krieg zerstörten Landschaften Tschetscheniens irren. Nachdem seine Eltern vor seinen Augen von russischen Soldaten erschossen wurden, ist Hadji nun auf der Suche nach seiner älteren Schwester. Auf seiner Odyssee trifft er Carole, ein Mitglied der der Menschenrechts-Delegation der Europäischen Union, die ihn bei sich aufnimmt. Schockiert von den Geschichten der Flüchtlinge bemüht sie sich vergeblich darum, vor dem Außenausschuss des Europäischen Parlaments Gehör zu finden und zu einer härteren Politik gegen Russland zu bewegen. Nicht ganz zufällig wird das Grundmuster der Geschichte vor allem einem älteren Publikum bekannt vorkommen, denn knapp nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Hollywood-Regisseur Fred Zinnemann, ein gebürtiger Österreicher, einen ähnlichen Film gedreht, ebenfalls unter dem Titel The Search. Auch Zinnemann ließ einen verwahrlosten Jungen, Karel, durch Kriegs-Ruinen irren – auf der Suche nach der Mutter. Während des Krieges war Karel ins KZ Auschwitz deportiert und dort von seiner Familie getrennt worden. Nach Kriegsende wollen ihn amerikanische Soldaten in ein Lager für elternlose Kinder transportieren, doch Karel flüchtet, weil er die Suche nach der Mutter nicht aufgeben will. Als er durch die Trümmer einer deutschen Stadt irrt, wird ­Karel von einem amerikanischen Soldaten aufgenommen, gespielt von Montgomery Clift in seiner ersten großen Filmrolle. „Seit ich diesen Film von Fred Zinnemann gesehen habe“, meint Michel Hazanavicius im Interview, wollte ich eine Art Remake davon machen, versetzt in die heutige Zeit. Interessiert hat mich der Stoff, weil er mit meiner eigenen Familiengeschichte zu tun hat.“

Michel Hazanavicius wurde 1967 in eine jüdische Familie polnisch-litauischer Herkunft hineingeboren. Seine Eltern hatten den Zweiten Weltkrieg in Frankreich überlebt, im Untergrund von Paris, unter falscher Identität. Bisher war der französische Drehbuchautor, Film- und Fernsehregisseur hauptsächlich im Komödienfach beheimatet und feierte seine Erfolge mit den Agentenparodien OSS 117 und The Artist.

INW: Was hat Sie dazu bewogen, sich nun dem ernsten Fach zuzuwenden?

Michel Hazanavicius: Dieses Projekt hat mich schon lange verfolgt, aber ohne den Oscar für The Artist wäre es sicher unmöglich gewesen, das dafür nötige Budget aufzutreiben.

INW: Und warum haben Sie den Stoff im Zweiten Tschetschenienkrieg angesiedelt?

Hazanavicius: Das hatte mehrere Gründe. Im Jahr 2004 war ich Koautor und Produzent des Dokumentarfilms Rwanda. History of a Genocide von Raphael Glucksman, David Hazan und Pierre Mezerett. Raphael ist der Sohn von Andrè Glucksman, einer der wenigen französischen Intellektuellen, die versucht haben, die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Krieg in Tschetschenien zu lenken. Durch ihn wurde auch ich auf die dortigen Geschehnisse aufmerksam. Ich denke, dass ich als aschkenasischer Jude und als Sohn und Enkel von Menschen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, die Verpflichtung habe, geradezu die Pflicht habe, auf ein Unrecht – egal in welchem Teil dieser Welt – hinzuweisen. Ich wollte mit meinem Film auch gegen das Vorurteil ankämpfen, dass alle Tschetschenen Terroristen sind. Nachdem ich den wunderbaren Film von Fred Zinnemann gesehen hatte, wusste ich auch, wie ich an dieses Thema herangehen konnte.

Ob dieses Remake des Zinnemann-Films tatsächlich der beste Weg war, an dieses Thema heranzugehen, darüber waren die Meinungen der Kritiker nach der Cannes-Premiere geteilt. Bei der Pressevorführung des Films in Cannes, vor mehr als 2000 internationalen Filmjournalisten, gab es neben verhaltenem Applaus auch wütende Pfiffe und Buhrufe, obwohl nicht wenige der anwesenden Journalisten ganz offensichtlich versuchten, die eine oder andere Träne der Rührung aus den Augen zu wischen, bevor es im Kinosaal wieder hell wurde. Russische Kollegen empörten sich über die allzu drastische Darstellung russischer Kriegsverbrechen und die Vermeidung jeglicher Präsenz von tschetschenischem Terror, andere empfanden die Verquickung eines Holocaust-Klassikers wie Zinnemanns The Search mit dem Tschetschenienkrieg als unzulässig. Kalt gelassen hat dieser Film aber niemanden, was vielleicht daran liegt, dass der Film ein wohlkalkuliertes Rührstück ist, das viele Anstrengungen unternimmt, das Publikum mit einer längst fälligen humanistischen Aufarbeitung des zweiten Tschetschenien-Krieges zu konfrontieren. Dieses Ziel scheint der Regisseur aber durch allzu viele Nebenstränge der Handlung immer wieder aus den Augen zu verlieren. Hazanavicius liefert dazu eine Erklärung: „Wir haben nur zwei der Hauptrollen mit professionellen Schauspielern besetzt, alle anderen Charaktere werden von Laien dargestellt, meist von Menschen, die in diesem Film ihre eigenen Schicksale nachspielen. Ich wollte diese Schicksale nicht einschränken und zensurieren und daher ist der Film für manche Zuschauer zu lang geworden.“

Gedreht hatte Hazanavicius allerdings nicht in Tschetschenien, sondern in Georgien. Eine der beiden professionellen Schauspielerinnen, die die anstrengenden Dreharbeiten auf sich genommen hatten, ist Bérénice Bejo, die Ehefrau des Regisseurs. Der Film, so be tont sie, hat auch mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun, denn ihre Eltern waren 1976 vor der argentinischen Militärdiktatur nach Frankreich geflüchtet.

INW: Und wie haben Sie die Hollywood-Schauspielerin Anette Bening für die Rolle einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes gewonnen?

Hazanavicius: Ihr war das Thema wichtig und sie hat daher sofort zugesagt. Sie ist auch ganz allein – zum ersten Mal ohne ihre Kinder – zum Drehort gereist und hat mit uns in dem einzigen, völlig heruntergekommenen Hotel gewohnt.

Kritische Stimmen gab es nach der Cannes-Premiere des Films auch wegen der Darstellung des russischen Militärs. Die Soldaten, so zeigt The Search, wurden vor dem Tschetschenien-Einsatz zu wahren Tötungsmaschinen gedrillt. Viele, die diesem gnadenlosen Drill nicht standhielten, versuchten zu desertieren oder begingen Selbstmord.

INW: Welche Reaktionen erwarten Sie vom russischen Publikum für Ihren Film?

Hazanavicius: Ich möchte, dass es darüber nachdenkt, warum wir einander so etwas antun. Aber das gilt nicht nur für die Menschen in Russland, sondern überall auf der Welt, wo Unrecht und Gewalt herrschen. Aber ich nehme an, dass das russische Publikum den Film nicht zu sehen bekommt.

Man darf gespannt sein, ob und wann sich das österreichische Publikum zu diesem Film eine eigene Meinung bilden kann.

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