Inhalt

Palästinas neue Wunderwaffe

Was als Kinderspiel begann, ist zur ausgewachsenen Bedrohung geworden. ­Palästinenser greifen Israelis rund um Gaza mit einer neuen Methode an. Israels Hightech-Armee sucht noch nach einer Antwort auf die hocheffektive Lowtech-Waffe.

Dani Rachamim ist am Boden zerstört: „Wer nicht selber Landwirt ist, kann dieses Gefühl kaum nachvollziehen: Ich bin frustriert, hilflos, mir blutet das Herz wenn ich mitansehen muss, wie mein Weizenfeld innerhalb weniger Minuten abgefackelt wird. Ein ganzes Jahr lang habe ich es bestellt und behütet, und nun das!“, sagte Rachamim diese Woche der israelischen Nachrichtenseite Ynet. Der Bauer aus dem israelischen Kibbuz Nahal Oz an der Grenze zum Gazastreifen ist kein Einzelfall: Tausende von Hektar Acker- und Waldland standen in vergangenen Wochen rund um Gaza lichterloh in Flammen. Die Brände sind Folge einer neuen Kampftaktik der Palästinenser: Sie befestigen Brandsätze oder glühende Kohlen an Heliumballons oder Drachen, die sie aus Holzstöckchen und Plastiktüten basteln, lassen diese in Gaza steigen und vom Westwind nach Israel tragen. Die improvisierten Brandbomben lösen verheerende Feuer aus. Behörden stehen diesen Angriffen bislang ratlos gegenüber.
Es ist eine überraschende Wende im steten Rüstungswettlauf zwischen der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen und dem mächtigsten Militär im Nahen Osten. Immer wieder versuchen die Islamisten mit neuen Mitteln, ein Gleichgewicht der Abschreckung gegenüber Israel zu erzeugen. Und immer wieder gelingt es Israel – Dank seiner Hightech-Industrie – und mit großem finanziellen Aufwand, die relativ simplen Angriffsmethoden der Terroristen unschädlich zu machen.
So gibt Israels Armee dieser Tage zig Milliarden Euro für ein neues Bollwerk rund um Gaza aus. Es ist eine, mit Hightech gespickte, unterirdische Mauer, die eines der größten Rüstungsprojekte der Hamas zunichtemachen soll: Angriffstunnel, die – oft von Kinderhand gegraben – von Gaza aus gen Israel führen. Sie sollen Terrorkommandos ermöglichen, hinter dem Grenzzaun überraschend aufzutauchen, um Attentate zu begehen oder Zivilisten und Soldaten zu kidnappen. Israelischen Kampfflugzeugen gelang es aus der Luft den neunten solchen Angriffstunnel zu zerstören, der mit Hilfe der neuer Technologien aufgespürt wurde. Die Millionen, die Hamas in dieses Projekt investierte, erweisen sich somit für die Islamisten als Fehlinvestition.
Mit ähnlichem Aufwand begegnete Israel einer anderen „strategischen Waffe“ der Hamas: Selbstgebaute Raketen, welche die Islamisten zu tausenden auf Ortschaften rund um Gaza abschossen. Die Regierung in Jerusalem gab Milliarden für Schutzräume aus, und investierte zugleich ähnliche Summen in die Entwicklung eines Raketenabwehrsystems. Heute gilt Israels Raketenabwehr als modernste der Welt. Im letzten Krieg 2014 gelang es der Hamas trotz des massiven Einsatzes dieser Raketen deshalb nicht, Israels Zivilbevölkerung Schaden zuzufügen. Das Raketenbauprogramm erwies sich also als weiterer strategischer Fehler.
Auch die von der Hamas unterstützten Massendemonstrationen am Grenzzaun, die allwöchentlich freitags stattfanden, hatten zumindest bislang nicht den beabsichtigten Effekt: Die Grenze medienwirksam zu durchbrechen, oder Israel wegen des harten Vorgehens gegen Demonstranten international zu isolieren und zu diplomatischen Zugeständnissen zu zwingen. Bis ein paar Jugendliche aus Gaza erstmals Drachen mit glühenden Kohlen steigen ließen, die jenseits der Grenze niedergingen und zu großen Brände führten. Der Aufruhr in Israel ermutigte die Palästinenser, diese Angriffsmethode weiterzuentwickeln. Seither segelten zig Angriffs-Drachen und –Heliumballons über den Grenzzaun und verursachten Sachschäden in Millionenhöhe. Nur durch Glück kam bislang keine Person zu Schaden.
Israels Armee versucht, die aus durchsichtigen Plastiktüten und kleinen Stöckchen gefertigten Drachen mit verschiedenen Mitteln zu Fall zu bringen. Drohnen und ferngesteuerte Modellflugzeuge sollen die improvisierten Luftschiffe rammen – doch bislang ohne großen Erfolg. Vergangenen Monat stürzten zwei der teuren Drohnen über Gaza ab. Man forsche nun an anderen Abwehrmethoden, heißt es. Derweil haben die Bauern eine Bereitschaft organisiert, die mit Traktoren zu jedem Brand eilt, um das Feuer einzudämmen indem sie die Felder darum herum großflächig niederwalzen und den Flammen so den Nährstoff nehmen. Aber auch die Palästinenser tüfteln weiter: Den Brandsätzen fügen sie nun Zucker hinzu, damit sie länger kontrolliert brennen, oder sie befestigen Sprengfallen an den Drachen und Ballons. Die Armee warnte Bürger, vor allem Kinder, davor, sich abgestürzten Drachen zu nähern.
Die Bauern rund um Gaza klagen über enorme Verluste, haben aus Angst vor weiteren Angriffen sogar die Ernte Wochen zu früh einzufahren: „Lieber jetzt ein kleiner Verlust als morgen innerhalb von Minuten alles verlieren“, sagte dazu der Bauer Rachamim. Israels Finanzminister Mosche ­Kachlon hat Entschädigung versprochen. Zugleich forderte er von der israelischen Armee, mit äußerster Härte gegen das Phänomen vorzugehen: „Jeder, der in Gaza einen Drachen steigen lässt, sollte auf dieselbe Weise behandelt werden wie jemand, der den Abschuss einer Rakete vorbereitet“, sagte ­Kachlon. Am Freitag wurde erstmals ein Palästinenser, der in Gaza einen Drachen steigen ließ, von der Armee beschossen und schwer verletzt.
Manche nehmen inzwischen das Gesetz in die eigenen Hände. Drei israelische Extremisten ließen am Freitag ebenfalls an der Grenze zu Gaza einen brennenden Drachen steigen, um auf der palästinensischen Seite Brände auszulösen. Doch der Drachen stürzte auf der israelischen Seite ab und löste dort ein Feuer aus. In sozialen Netzwerken wurden die Männer scharf kritisiert: „Es gibt ­Extremismus, und es gibt Idiotie. Das Schlimmste ist, wenn diese beiden Eigenschaften zusammentreffen“, meinte dazu der ehemalige Verteidigungsminister Amir Peretz. Die Polizei hat die drei inzwischen in Gewahrsam genommen.

Kontextspalte