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Norbert Schiller

Was nicht sein darf, kann nicht sein. Ein jüdischer Schauspieler mit dem Nachnamen des großen deutschen Schriftstellers, selbst wenn er in den 1920 Jahren in Wilhelm Tell brilliert hat? Das dachte sich wohl der Verfasser eines antisemitischen Handbuchs der Judenfrage, das 1943 bereits in 49. Auflage erschien. Er entschied deshalb, Norbert Schillers Geburtsnamen zum Künstlernamen zu machen. So erscheint der angeblich wahre Name – „Veilchenblüt“ – in Klammern. Diesen dürften die meisten Leser als typisch jüdisch gedeutet haben.
Wer nun meint, dass nach Ende des „Dritten Reiches“ diese perfide Täuschung wieder rasch rückgängig gemacht wurde, der sei auf die Versionsgeschichte des Wikipedia-Eintrags zum dem heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Schauspieler verwiesen. Dort kann man nachvollziehen, wie schwierig es ist, eine Lüge, die die Nationalsozialisten in die Welt gesetzt hatten, um die angebliche „Verjudung“ des Deutschen Theater in der Weimarer Republik zu beweisen, als solche kenntlich zu machen. Erste Versuche der Richtigstellung wurden offenbar von fake-news-sensibilisierten Mitarbeitern an dieser Online-Enzyklopädie mit dem Hinweis abgewimmelt, dass der angebliche Geburtsname doch auch in biographischen Lexika auftauche, die nach 1945 erschienen seien. Ein Verweis, dass aber aus dem von mir im Wiener Stadtarchiv eingesehenen Geburtsregister sowie nach Aussage des in den USA lebenden Sohns die Familie schon seit dem 19. Jahrhundert eindeutig Schiller hieß, fruchtet zunächst nichts. Nur das, was im Netz für alle einsehbar sei, habe Beweiswert!
So musste erst der Auszug aus dem Geburtsregister– mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung eines hilfreichen Wiener Stadtarchivars – ins Internet gestellt werden, dann wurde der Beitrag von der Redaktion endlich entsprechend geändert – eine späte Wiedergutmachung!
Immerhin scheint es also, dass Norbert Schiller heute nicht gänzlich in Vergessenheit geraten ist, wie unter anderem diese bizarre Auseinandersetzung um seinen „richtigen“ Familiennamen zeigt. Das hat der nach 1933 ins Exil getriebene Norbert Schiller nicht zuletzt einem der großen Schauspieler und Regisseure des Nachkriegskinos zu verdanken: Maximilian Schell. Sie begegneten einander bei den Dreharbeiten zum Film Das Urteil von Nürnberg (1961). Der junge Maximilian Schell war begeistert von dem 60jährigen Norbert Schiller. Der aus Wien stammende jüdische Schauspieler, der seit 1938 im amerikanischen Exil lebte, trat in einer unauffälligen Nebenrolle als Kellner auf. Er hatte nur wenige Sätze zu sagen. Doch „die Art, wie er das vortrug, elektrisierte mich. Mit welcher Sicherheit! Mit welcher großartigen Selbstverständlichkeit!“, schreibt Schell in seinen Erinnerungen. Aus der Begegnung wurde eine innige Freundschaft. Wann immer „Max“ in Hollywood drehte, habe er die Familie besucht, erzählt Schillers Sohn, Norbert Jr. Manchmal brachte der Filmstar seine Schwester, die nicht minder berühmte Maria Schell mit. Und es war Schell, der für ein Comeback seines Freundes in Europa sorgte. Denn obwohl der exilierte Schauspieler Schiller bereits kurz nach Kriegsende in Österreich und Deutschland Vorträge über amerikanische Literatur hielt und Gedichte von Walt Whitman vortrug, waren seine Bemühungen, zurück zur deutschsprachigen Bühne zu finden, fehlgeschlagen – anders als bei jüdischen Bühnenstars der Vorkriegszeit wie Ernst Deutsch und Fritz Kortner oder weniger bekannten Schauspielern wie Joseph Schaper.
Einst hatte alles auf eine steile Karriere hingedeutet. Mit zwanzig debütierte Schiller im Burgtheater. Er glänzte in Rollen jugendlicher Helden: sein kraftvoller Körper, der strahlende Ausdruck seiner Augen, besonders die metallische, aber nicht harte Stimme – an all dies erinnerte sich noch Jahre später der Dramaturg Rudolph Joseph, auch er Jude und Emigrant. Joseph hatte Schiller mehrfach im Frankfurter Schauspielhaus erlebt, wo er sechs Jahre lang zum festen Ensemble zählte. Und er war es auch, der Schiller nach Berlin, zum Renaissance-Theater, „entführte“. Begeistert zeigte sich Hitler, als er Schiller in der Rolle des Romeo gesehen hatte, erzählt Norbert Jr. „Als mein Vater erfuhr, dass Hitler beabsichtigte, hinter die Kulissen zu kommen, floh er durch die Hintertür.“
Schiller – konnte es einen klangvolleren Namen für einen Schauspieler geben? War er gar ein Nachfahre des berühmten Schriftstellers, wie der New Yorker (vom 3. Juni 1939) in Unkenntnis der Familiengeschichte glaubte? Natürlich nicht. Norbert Schiller wuchs nämlich in einem Wiener jüdischen Haus auf. Der Vater starb vor dem Krieg; eine Schwester wurde ermordet, vermutlich in Auschwitz. Am Tag des „Anschlusses“ starb Schillers Mutter, die er, inzwischen Emigrant in der Schweiz, noch rechtzeitig hatte besuchen können. Unmittelbar danach floh er in die USA. Dabei half ihm, wie so oft im Leben, sein Schauspieltalent: Geschickt versteckte er Dokumente und Geldnoten und führte die Grenzbeamten in die Irre. Jahre später fragte ihn seine amerikanische Frau, Mary, was eine Synagoge sei. Er antwortete, er sei nie in einer gewesen.
Mary war Schillers zweite Ehefrau. Doch scheint sein Charme auch bei zahlreichen anderen Frauen gewirkt zu haben. Unter ihnen auch Helene Mayer, die berühmte Fechtweltmeisterin, sechsfache deutsche Einzelmeisterin und „Halbjüdin“, die 1936 aus den USA für die Olympischen Spiele nach Berlin reiste.
Entzückt war die sportliche Blondine von dem zehn Jahre älteren Schauspieler, den sie liebte. Genau neunzig Jahre ist das Bild alt, das Norbert Helenes Mutter, „Frau R. [Rachel- AF] Mayer in herzlicher Ergebenheit“ widmete, ein bislang unbekanntes Bild aus Familienbesitz. Auf zahlreichen anderen Fotos sind die jungen Liebhabende halb oder gar nackt auf dem Strand zu sehen. Und doch: Die vorgesehene Eheschließung wurde der Karriere geopfert.
Kontakte zu diversen Geliebten sowie zu einstigen Weggefährten pflegte Schiller bis zu seinem Tod. Seine Ehefrau Mary, die gerne allein nach Europa reiste, hat keine Vorbehalte, die einstigen Freundinnen ihres Mannes zu treffen.
Er war 82 und sie 41, als sich Schiller, der verheiratete Vater von drei erwachsenen Kindern, und die amerikanische Künstlerin Judith Sutcliffe in Kalifornien bei einer Lesung begegneten. Hingerissen von seiner Stimme, nahm sie ihn in ihrem Auto mit. „Ich fuhr in die falsche Richtung der Einbahnstraße“, schreibt sie in ihrem Buch A Collection of Old Men. Auf der Titelseite: der in die Jahre gekommene und dennoch imposante Norbert Schiller, abgebildet mit einer vollen, weißen Mähne, mit Schnauzbart und träumerischen Augen.
Immer wieder legte Schiller Judith Sutcliffe seine literarischen Texte vor. War sie nicht daheim, sprach er deutsche Gedichte auf den Anrufbeantworter. Sie hat alle Kassetten aufbewahrt. Nun liegen diese Aufnahmen, zusammen mit seinen umfangreichen Schriften, in einem Archiv in Los Angeles. An der Ostküste der USA, ebenfalls im Archiv, fand ich eine Tonbandaufnahme mit einem Gespräch über den Schauspieler: zwei Frauen erzählen über den Mann, den sie liebten: Mary und Judith – ohne jegliches Anzeichen von Eifersucht.
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen weigerte sich Norbert Schiller, an Hollywood-Filmen über Nazis mitzuwirken. Er zog sich in den kleinen Ort Ojai zurück und lebte asketisch in einem einfachen, selbstgebauten Steinhaus, das ihn an Europa erinnerte. Er war umgeben von deutschen Büchern. In einem seiner kurzen Gedichte schreibt er in einer typischen Mixtur aus Englisch und Deutsch: „My room is my castle / my boots are my car / I walk slowly – don’t hustle / and feel wunderbar“.  „Mein Vater hasste jegliche Technologie. Er verweigerte bewusst den amerikanischen Lebensstil“, erzählte mir sein Sohn, der in den USA lebt, und fügte hinzu: „Wann immer es zwischen meinen Eltern einen Streit gab, drohte Vater das Haus zu verlassen und nach Europa zurückzukehren.“
Erst nach dem Krieg gelang dem begnadeten Schauspieler der Durchbruch: Ab 1947 spielte er in fast 50 Kino- und TV-Filmen mit. Seine Liebe aber galt dem Theater und der deutschen Sprache. Noch im hohen Alter trug er deutsche Texte vor, trat bei einer Lesung vor amerikanischen Studenten als Faust auf.
Vor diesem Hintergrund kam Maximilian Schells Einladung, in Europa zu drehen, einem Geschenk gleich: Endlich konnte er wieder auf Deutsch spielen, das er mit einem unauslöschlichen Wienerischen Akzent sprach. In einem der drei Filme (Der Fußgänger) spielte Norbert Schiller – so laut der Besetzung – „sich selbst“. Er sei höchst aufgeregt gewesen, erinnert sich Judith. „Er erzählte mir, dass er ein Brett und einen Kleiderbügel mitgenommen hatte, damit er, der schon etwas gebeugt war, gerade stehen könne.“

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