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Jüdisches Leben im historischen Tirol

. . . so der Titel des kürzlich erschienenen Standardwerkes über 700 Jahre jüdischer Geschichte im Trentino, in Nord-, Ost- und Südtirol, auch in Vorarlberg, das seit dem 18. Jahrhundert verwaltungsmäßig zu Tirol gehörte.

Herausgeber der drei gewichtigen Bände im Schuber ist der gebürtige Vorarlberger Thomas Albrich, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Seit 20 Jahre forschte und  publizierte er,  motivierte Kollegen, auch jüngere HistorikerInnen zu einschlägigen Arbeiten. Klaus Brandstetter, Heinz Noflatscher, Martin Achrainer und Sabine Albrich-Falch sind in den hochformatigen, 1360 Seiten umfassenden Büchern  vertreten. Die meisten Texte aber schrieb der Herausgeber selbst. Leicht lesbar, keineswegs trocken und frei von moralischem Urteil. Band 1  behandelt die Jahre  von 1300 – 1805, Band 2 reicht von der bayerischen Zeit bis zum Ende der Monarchie 1918, Band 3 umfasst die Jahre von der Teilung Tirols 1918 bis zur Gegenwart.

Ungewöhnlich und erfreulich für ein so umfangreiches wissenschaftliches Werk: es ist auch eine bibliophile Rarität, eine Superleistung des Haymon Verlages. An die 1000 Abbildungen, viele erstmals publizierte Fotos vom jüdischen Alltag, von Familienfesten, jüdischen Vereinen, Kindern und Rabbinern, auch von Pionieren des Fremdenverkehrs und ersten Fabrikanten erzählen Geschichten,  bringen Menschen und deren Schicksal  nahe. Auch alte Stadtansichten,  Auszüge aus Urkunden, sogar in Hebräisch, verleumderische, weit verbreitete Darstellungen von Ritualmorden an christlichen Kindern  wie Anderl von Rinn und Simon von Trient dokumentieren das Leben der jüdischen  Minderheit, extrem abhängig von politischen, kirchlichen und sozialen Rahmenbedingungen, ausgegrenzt, oft verfolgt, ja ausgelöscht, besonders in Krisenzeiten. Zeitweise aber auch integriert in die städtische Gesellschaft ringsum.

Einen neuen Zugang zum Thema Judentum in Tirol, nicht nur den über die Schrecken des Holocaust  hatte Thomas Albrich angestrebt. Während das 19. und 20. Jahrhundert gut aufgearbeitet  waren, blieb das Mittelalter bisher weitgehend unerforscht. Also zurück zu den Anfängen, obwohl die Quellen recht dürftig sind. Es waren meist namenlose jüdische Menschen, die auf alten Handelswegen über die Alpen Richtung Süden zogen und in Hall, Innsbruck oder Bozen Halt machten. Ohne festen Wohnsitz, denn ansiedeln durften sie sich nicht. Schutzbriefe von Potentaten erleichterten manchem „Aufsteiger“ für kurze Zeit das Leben. So wird ein Isaak von Lienz um 1300 in Urkunden als wichtigster Geldgeber im Ostalpenraum genannt. Auch Jahrhunderte später gab es bestimmte Privilegien für Juden, wenn sie gebraucht wurden. Graf Kaspar von Hohenems gewährte 1617 die Ansiedlung einer jüdischen Gemeinde in Hohenems, die mit kurzer Unterbrechung bis 1940 existierte. Die bekannteste Persönlichkeit dieser Gemeinde war der Reformer der Sy-nagogenmusik Salomon Sulzer.

Recht früh präsent waren jüdische Kaufleute in Bozen, geduldet, ja sogar privilegiert, denn sie belebten die Wirtschaft. In der bayerischen Zeit zwischen 1806 und 1814 konnte sich in Innsbruck sogar eine geschlossene jüdische Gemeinde etablieren, doch beim Tiroler Aufstand von 1809 wurden Juden wieder einmal zu Sündenböcken gestempelt, misshandelt, ihre Häuser geplündert. Nach 1814 traten noch einmal anachronistische, diskriminierende Gesetze in Kraft, offiziell gab es ein Ansiedlungsverbot für Juden in ganz Tirol, doch risikobereite Geschäftsleute kämpften um Ausnahmegenehmigungen für den Erwerb von Häusern und Werkstätten, gründeten die ersten Textilfabriken, wurden Heereslieferanten und die ersten privaten Bankiers in Bozen und Feldkirch.

Doch erst das Staatsgrundgesetz von 1867 sicherte ihnen die rechtliche Gleichstellung. Ein vehementer Zustrom von Juden, vor allem nach Nord- und Südtirol, setzte ein. Tüchtige Kaufleute aus Böhmen und Mähren, Ungarn und Slawonien hatten rasch Erfolg. Hier sei nur auf Unternehmer wie Michael Brüll, Josef Bauer und Viktor Schwarz in Innsbruck verwiesen. Bauer & Schwarz gründeten in der Maria Theresienstraße das erste Kaufhaus. Dem jüdischen Kurarzt Raffael Hausmann war schließlich der Aufstieg Merans zum beliebten Kurort für jüdische Gäste zu danken. Hier gab es nicht nur das erste koschere Restaurant, sondern auch die heute noch bestehende Synagoge und einen eigenen jüdischen Friedhof.

Im gesamten Tiroler Raum wurden die vielen „Fremden“, vor allem die erfolgreichen, oft auch reichen Juden angefeindet. Der Beginn eines, von der lokalen Presse forcierten, politisch vereinnahmten Antisemitismus, der in die Barbarei des NS Regimes führte.

Nach 1945 wurde vorerst zaghaft die Kultusgemeinde in Innsbruck wieder belebt. Zahlenmäßig klein ist sie noch immer, doch unter ihrer Präsidentin Dr. Esther Fritsch höchst aktiv. In der Sillgasse, dort wo die alte, im November 1938 zerstörte Synagoge stand, baute der Innsbrucker Architekt Michael Prachensky eine neue. Eingeweiht wurde sie 1993, ein religiöses und geistiges Zentrum auch für Vorarlberg, wo es keine Kultusgemeinde mehr gibt. An deren Jahrhunderte alte Geschichte wird im vorbildlich gestalteten und viel frequentierten Jüdischen Museum in Hohenems erinnert. Auch in Innsbruck wird Erinnerungsarbeit geleistet. Nahe dem Alpenzoo, dort wo die Autorin dieses Beitrages in ihrer Kindheit noch auf Steinen mit rätselhaften Inschriften spielte, wurde vor zwei Jahren der älteste jüdische Friedhof der Stadt wieder entdeckt, von einem jungen  Archäologen dokumentiert und mit einer Installation von Vorarlberger Künstlern vom Wald ringsum abgegrenzt. Ein friedlicher, stiller Ort. Esther Fritsch hatte sich dafür eingesetzt. Auch für das Erscheinen des dreibändigen wissenschaftlichen Standardwerkes. „Thomas Albrich hat uns unsere Geschichte wieder gegeben“, sagte sie bei der Präsentation der Bücher. 

Thomas Albrich (Hg). Jüdisches Leben im historischen Tirol. 3 Bände im Schuber,  mit zahlreichen Abbildungen. 1360 Seiten,  Haymon. € 69,90

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