Inhalt

Jerusalems brave Revolution

Ramadan Dabasch will Geschichte machen: Er ist der erste Palästinenser, der sich um einen Sitz im israelischen Rathaus Jerusalems bewirbt. Seine Kandidatur ist Ausdruck tiefgreifenden politischen Wandels und der Abkehr von alten Paradigmen.

 

Jerusalems Stadtteile Ramat Rachel und Zur Baher gehen fast nahtlos ineinander über. Dennoch kann man ohne Karte erkennen, wann man Ramat Rahel im mehrheitlich jüdischen Westjerusalem verlässt und Zur Baher im mehrheitlich arabischen Ostjerusalem erreicht. Das Fahrtgeräusch verwandelt sich vom lautlosen Summen über glatten Asphalt in lautes Knirschen über pockennarbige, schlaglöchrige Gassen. Breite, saubere, von Bürgersteigen gesäumte Straßen werden zu engen, verwundenen Wegen, in denen der Wind leere Verpackungen vor sich hertreibt. Jüdische Israelis sieht man hier kaum. Sie meiden Zur Baher, eine Hochburg der radikal-islamischen Terrorbewegung Hamas. Erst im Mai wurde hier eine Zelle gefasst – kurz bevor sie Attentate verüben konnte.
Wenn es nach Ramadan Dabasch geht, dann wird das bald alles anders sein. Der energiegeladene, 51 Jahre alte Bauingenieur und Unternehmer könnte Geschichte schreiben, wenn er als erster arabischer Bewohner Ostjerusalems seit dem Sechs Tage Krieg 1967 an der Spitze einer ausschließlich arabischen Liste einen Sitz im Rathaus der israelischen Hauptstadt einnimmt. „Ich will die schwierige Lage der Bewohner Ostjerusalems verbessern“, sagt er, und holt hektisch eine Magentablette aus ihrer knisternden Verpackung. Palästinenser in Jerusalem sollen endlich die städtischen Dienstleistungen erhalten, die ihnen als Steuerzahler zustehen: Müllabfuhr, genügend Klassenzimmer, gut geteerte Straßen. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Doch in Jerusalem, heilige Stadt der Christen, Juden und Muslime und Brennpunkt des Nahostkonflikts, haben simple Probleme auf kommunaler Ebene oft internationale Bedeutung.
Dabaschs Vorhaben bricht mit einer 51 Jahre alten palästinensischen Strategie, die durch einen Boykott der Kommunalwahlen Widerstand gegen Israel leistete. Das Dabasch diesen Boykott nun beenden will, zeigt den tiefgreifenden Wandel im Konfliktherd Jerusalem. Statt die Besatzungsmacht zu konfrontieren, wollen immer mehr Palästinenser mit ihr kooperieren – mit weitreichenden Folgen für den Nahostkonflikt.
Israel eroberte das von Jordanien besetzte Westjordanland im Sechs Tage Krieg 1967. Den Ostteil Jerusalems annektierte es und erklärte die Stadt zu seiner „unteilbaren Hauptstadt“. Arabische Bewohner Ostjerusalems konnten die israelische Staatsbürgerschaft beantragen, doch die meisten lehnten ab, schließlich fordert die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO den Ostteil Jerusalems als Hauptstadt für ihren Staat. Um Israels Herrschaft jede Legitimation zu entziehen, verweigerten Palästinenser die Zusammenarbeit mit der neuen Stadtverwaltung. Ihr fehlender Einfluss im Rathaus hat Folgen: Laut Schätzungen fließen nur etwa 12 Prozent des städtischen Budgets in den Ostteil der Stadt, Araber stellen 37 Prozent von Jerusalems 866.000 Einwohnern. Im Gegensatz zum Westteil der Stadt gibt es hier keine öffentlichen Bibliotheken oder ­Schwimmbäder, kaum Bürgersteige, Straßenlaternen, Parks oder Fußballplätze. Achtzig Prozent der arabischen Kinder leben unter der Armutsgrenze – doppelt so viel wie im Westteil. Der Ostteil leidet auch unter fehlenden Bebauungsplänen. So können Araber kaum Baugenehmigungen erhalten. Zehntausende Wohnungen in Ostjerusalem sind illegal und vom Abriss bedroht.
Dabasch will, dass die Palästinenser ihr „Schicksal endlich mitbestimmen“ und wählen gehen. Etablierte palästinensische Organisationen wie die PLO oder die radikal-islamische Hamas betrachten diese Idee indes als implizite Anerkennung Israels und bestehen auf Wahlboykott – notfalls mit Gewalt. Die Angst vor Repressalien sorgte bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren für eine arabische Wahlbeteiligung unter zwei Prozent. Auch Dabasch wird bedroht. Ein Mitglied einer bekannten Familie mit Beziehungen zur Hamas forderte im Internet „diesen Mann auszuknipsen“. Dabasch verzichtete darauf, Anzeige zu erstatten und zog es vor, die Angelegenheit über Verwandte zu regeln. Er will nicht das Image eines Kollaborateurs erzeugen. „Ich habe keine Angst, weder um mich noch um meine vier Ehefrauen oder meine 12 Kinder.“ Dennoch lasse er „besondere Vorsicht“ walten. „Allah wird bestimmen, wann meine Zeit gekommen ist“, sagt er.
Dabei gibt er an, kein religiöser Mensch zu sein, aber er zitiert den Koran, um seine Ansichten zu verteidigen. „Für mich ist das wichtigste Gebot des Islams ein guter Mensch zu sein.“
Zwei Scheichs der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) erließen religiöse Rechtsgutachten, die Dabasch bezichtigten, islamische Glaubensgrundsätze zu verletzen. „Das ist eine Instrumentalisierung der Religion!“, sagt er empört. Die Juden seien ein Volk des Buches, mit dem Muslime zusammenarbeiten dürften.
Laut Umfragen denken viele Ostjerusalemer wie Dabasch. Rund 60 Prozent befürworten die Teilnahme an Lokalwahlen. Sie glauben, dass sie mehr davon profitieren, wenn sie für Rechte in Israel kämpfen als für die Utopie eines Palästinenserstaats.
Die Haltung von Ramadan Dabasch zur friedlichen Koexistenz überrascht. Seine Biographie hätte ihn zum Terroristen machen können. Er wuchs in Zur Baher als eines von 14 Geschwistern auf. Als er 12 Jahre alt war, schickten seine Eltern ihn in die jüdischen Stadtteile, um Eis zu verkaufen. Mit 15 fand er einen Job als Kellner in einem Hotel im Westen der Stadt. Sein Weg führte an einem Jeep des Grenzschutzes vorbei. In einem täglichen Ritual misshandelten Soldaten ihn mit mehreren Ohrfeigen bevor sie ihn ziehen ließen. „Das erzeugte bei mir viel Hass.“ Doch seine Eltern bewahrten ihn davor, Rache zu suchen. „Sie brachten mir bei, dass der Islam für Toleranz steht.“
Außerdem machte Dabasch positive Erfahrungen mit Israelis, in deren Hotel er arbeitete: „Die waren nett zu mir und behandelten mich mit Respekt. Mir wurde klar, dass diese Soldaten nicht den Staat Israel repräsentieren, sondern nur sich selbst. Böse Menschen sind auf beiden Seiten eine Minderheit.“ Heute arbeitet ­Dabasch mit Juden und Arabern zusammen: Als Fürsprecher seines Wohnorts, als Dozent an israelischen Universitäten, oder als ­Eigentümer einer Baufirma, die 22 Angestellte beschäftigt.
Er spricht perfekt Hebräisch, gehört zu rund 20.000 Palästinensern Ostjerusalems, die die israelische Staatsbürgerschaft annahmen. Den meisten Antragsstellern ging es dabei um handfeste Vorteile wie Israels Krankenversicherung.
Doch Dabasch klingt wie ein Zionist: „Ich liebe Israels Demokratie.“ Er stellte seinen Antrag 1995, als die Hoffnung auf Frieden am größten war und es schien, als werde bald ein Palästinenserstaat gegründet und Jerusalem geteilt. „Mir war klar, dass Palästina nie demokratisch wird. Deswegen gab ich meinen jordanischen Pass ab und schwor Israel die Treue.“ Er wurde gar Mitglied der Regierungspartei Likud, Hochburg israelischer Nationalisten: „Mir ist egal von wem ich meine Rechte bekomme. Der Likud ist die stärkste politische Kraft im Land, er kann hier viel verändern.“
Dass er Israeli geworden ist können Ostjerusalemer wohl nachvollziehen, seine Mitgliedschaft im Likud indes kaum. Die Partei gilt hier als Wurzel allen Übels. Dabasch bekundet deshalb, er habe seine Mitgliedschaft „eingefroren“, und wechselt schnell das Thema. Doch er identifiziert sich eindeutig mit Israel. Anders als arabische Knesset-Abgeordnete habe er „kein Problem damit, Israels Nationalhymne zu singen“. Dabei heißt es in einer ihrer Verse: „In meinem Herzen singt eine jüdische Seele“. „Jüdische Seele, muslimische Seele – das ist dasselbe“, meint er.
Seit Jahrzehnten wird Zur Baher von einem Ältestenrat verwaltet, der von den vier größten Sippen gestellt wird. Vor vier Jahren erhielt Dabasch den Vorsitz. Seither arbeitet der Rat mit dem Rathaus zusammen. So habe er umgerechnet fast 100 Millionen Euro für Zur Baher erhalten, behauptet Dabasch. Das Geld komme von Vertretern der „rechtesten Koalition in Israels Geschichte“. Tatsächlich investiert die mehr in Jerusalems Araber als je zuvor. Da das Friedenslager eine Teilung Jerusalems erwog, wollte es kein Geld auf Ostjerusalem „verschwenden“. Doch ein neuer Regierungsplan will in den kommenden fünf Jahren rund 500 Millionen Euro in Ostjerusalem investieren – zum Wohl der Bewohner, und um Israels Kontrolle zu stärken.
Ramadan Dabasch empfängt seine Interviewpartner in einem Gemeindezentrum das mit israelischen Geldern errichtet wurde und von ihm geführt wird. Bewohner von Zur ­Baher steckten es als Symbol israelischer Kontrolle anfangs in Brand, Dabasch baute es mit anderen Anwohnern wieder auf. Heute finden hier Tanz-, Fußball- und Kochkurse statt, sowie Hebräisch-Unterricht für Erwachsene und Kinder: „80 Prozent der Ostjerusalemer sprechen kaum Hebräisch. Sie brauchen die Sprache, um sich im Arbeitsmarkt zu integrieren.“
Niemand weiß, wie viele der rund 180.000 arabischen Wahlberechtigten im Oktober ­Dabaschs neue, ausschließlich arabische Wahlliste Al Kuds lil Makdissijin – Jerusalem den Jerusalemern wählen werden. Abend für Abend besuchen ihre rund 20 Kandidaten potenzielle Wähler. Für einen Sitz brauchen sie etwa 10.000 Stimmen.
„Viele werfen mir vor, ich normalisiere die Beziehungen zur Besatzung oder handle wider den Islam“, sagt Dabasch. „Das ist Quatsch. Mir geht es um lokale Belange wie bessere Infrastruktur, Bildung und eine Regelung der Bebauungspläne arabischer Stadtteile.“ Palästinenser kooperierten ohnehin mit Israel „wenn sie Steuern zahlen, sich in israelischen Krankenhäusern behandeln lassen. Nur wählen sollen sie nicht? Welchen Sinn macht das?“ Deswegen sei seine Kandidatur keine Häresie. „Und auch kein Verrat!“ Sie ist aber eine klare Abkehr vom bisherigen Denken.
Ramadan Dabasch will, dass Jerusalem „eine ungeteilte Stadt unter israelischer Herrschaft bleibt, weil es keine besser organisierte Kraft gibt, die den Bewohnern Jerusalems dienen könnte.“
Wenn er mit einer solchen Agenda tausende arabische Wähler für sich gewinnt, wäre das für Palästinas Nationalisten ein schwerer Schlag.

Kontextspalte