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Im Fadenkreuz der Doppelmoral

Es gibt gute Gründe, in der Welt von heute Menschen aus dem arabischen Raum als Hauptopfer extremistischer Gewalt zu sehen. In Syrien und im Irak morden arabische Muslime andere arabische Muslime. Es gibt auch gute Gründe, diesen Raum als Rückzugsgebiet religiöser Intoleranz zu sehen. In manchen arabischen Ländern dürfen nicht-muslimische Gotteshäuser nicht errichtet werden. Es gibt ebenso gute Gründe, die Diskriminierung von Frauen nirgendwo sonst so schlimm zu finden wie eben im arabischen Raum.

 

Gibt es deshalb eine Boykottbewegung, die das Öl aus den Golfstaaten, aus dem Irak oder Libyen  betrifft? Natürlich nicht. Gibt es Forderungen, Sanktionen gegen Ägypten zu verhängen, weil dort eine demokratisch legitimierte Regierung – die erste überhaupt in der Geschichte des Landes – durch einen Militärputsch hinweggefegt wurde? Natürlich nicht. Boykottaufrufe gibt es gegen Israel. Und viele denken laut darüber nach, gegen Israel Sanktionen zu verhängen.

Nun gibt es Grund genug, die Politik des Staates Israel kritisch zu beobachten. Die Siedlungspolitik der Regierung macht das Bekenntnis zur Zweistaatenlösung immer weniger glaubwürdig. Und jüdische Extremisten machen deutlich, dass eine philosemitische, pro-israelische Einseitigkeit ganz gewiss nicht am Platz ist. Juden sind deshalb noch keine besseren Menschen, weil sie Juden sind. Aber wie steht es mit der antiisraelischen Einseitigkeit, die ermordete Muslime nur dann als Opfer sieht, wenn die Schuld an der Gewalt Israel zugeschoben werden kann? Die meisten Muslime, die heute getötet werden, sind die Opfer muslimischer Gewalt.

Die krasse Einseitigkeit der Wahrnehmung der Opfer- und Täterrollen im Nahen Osten spricht für eine intellektuelle und moralische Unredlichkeit. Und diese hat eine lange Vorgeschichte. Es macht wenig Sinn, diese Einseitigkeit a priori mit der Etikette „antisemitisch“ zu versehen. Aber sie steht in einer langen Tradition eines vor allem europäischen, sich vor allem aus christlichen Wurzeln nährenden Judenhasses.

Israel ist ein Staat, der – gestützt auf einen Beschluss der Vereinten Nationen – seit 1948 besteht und diplomatische Beziehungen mit den meisten Staaten der Welt hat. Doch von den Regierungen einiger Staaten wird Israel prinzipiell das Recht auf Existenz abgesprochen. Da geht es nicht um den Respekt der Grenzen entlang der Waffenstillstandslinie von 1948. Regierungen wie die des Iran und „Bewegungen“ wie Hamas und Hezbollah treten offen für die Vernichtung Israels ein – unabhängig von seinen Grenzen, unabhängig von der Politik seiner Regierung. Und auch wenn mit historischen Vergleichen sorgfältig und vorsichtig umzugehen ist: Wer kann da nicht an die Vernichtungspolitik des NS-Regimes denken, oder zumindest an den Patriarchen in Lessings Nathan der Weise, der alle Argumente immer nur mit dem Satz beantwortet: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt“.

Immer wieder führen Reaktionen in aller Welt vor, dass Israel an besonderen Maßstäben gemessen wird, die für andere Staaten nicht gelten. Dass 1948 aus Israel Menschen geflohen sind und auch vertrieben wurde, daran wird die Welt ununterbrochen erinnert. Menschen, deren Großeltern vertrieben wurden – und die nie selbst in Israel gelebt haben, müssen seit mehr als einem halben Jahrhundert in Flüchtlingslagern leben. Sie sind eine Propagandawaffe gegen Israel. Dass im Zusammenhang mit der Gründung Israels zehn-, ja wahrscheinlich hunderttausende Jüdinnen und Juden aus muslimischen Ländern ebenfalls vertrieben wurden oder einfach flohen, das bleibt zumeist unerwähnt. Denn diese zweite Gruppe der Flüchtlinge ist längst integriert – sei es in Frankreich oder in den USA oder – und das vor allem – in Israel. Flüchtling ist nicht Flüchtling. Dass der Zugang für Muslime zu den Moscheen des Tempelberges in Jerusalem von israelischen Sicherheitskräften gelegentlich unterbunden wird, wird kritisch festgehalten. Dass aber während der jordanischen Besetzung Ostjerusalems alle Jüdinnen und Juden aus der Stadt vertrieben wurden – wie auch aus Hebron und anderen Städten der Westbank, dass sie also gar keine Gelegenheit erhielten, ihre heiligen Städten zu besuchen, das ist offenbar vergessen.

Besetzung und Siedlungstätigkeit: Diese Themen werden zurecht kritisch diskutiert. Aber man muss doch auch zumindest Verständnis dafür aufbringen, dass Israel nach den Erfahrungen mit dem Abzug aus Gaza – als der israelische Rückzug mit Raketenangriffen aus Gaza beantwortet wurde – über seine Sicherheitslage und über die Folgen eines Rückzug aus den besetzten Gebieten mit besonderer Vorsicht nachdenkt.

Wer Frieden im Nahen Osten will und die Friedensparolen nicht nur als Schutzschild für eine auf die Vernichtung Israels gerichtete Politik genutzt sieht, muss die Doppelmoral der gängigen Israel-Kritik thematisieren. Das einseitige Narrativ, das immer nur die arabische Seite als Opfer und nicht auch als Täter sieht, steht dem Frieden nur im Wege – wenn ein solcher ein Friede mit Israel sein soll.

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