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Genosse Jude

Zu der von Gabriele Kohlbauer-Fritz und Sabine Bergler kuratierten und von Stefan Fuhrer gestalteten Ausstellung „Genosse. Jude – Wir wollten nur das Paradies auf Erden” im Jüdischen Museum Wien ist auch ein zweisprachiger Katalog erschienen. Die Ausstellung ist bis 1. Mai 2018 zu sehen.

Die Lebensentwürfe eines westeuropäischen, vor allem eines deutschen oder österreichischen Juden im Vergleich zu einem russischen Juden des frühen 20. Jahrhunderts konnten verschiedener nicht sein.


Im Westen waren Juden in allen Berufen vertreten, sie konnten Handwerker oder Politiker, Ärzte oder Rechtsanwälte, Bankiers und Industrielle sein. Sie konnten in die Aristokratie einheiraten, sie konnten evangelisch, katholisch werden oder Israeliten bleiben, sie konnten politisch kaisertreu, konservativ, liberal, Sozialdemokraten oder kommunistische Revolutionäre sein. Bürgerliche Freiheiten und Rechte waren ihnen gesichert, sie konnten wohnen, wo es ihnen behagte. Sie konnten Wohlstand erwerben, praktisch niemand von ihnen gehörte dem Proletariat an, denn selbst der kleine Gewerbetreibende, der manchmal an der Grenze der Armut leben mochte, war stolz darauf „selbstständig“ zu sein und zählte sich dem Bürgertum oder dem Mittelstand zugehörig. Juden waren alle – wenn auch nur peripher – Teile der großen, aufstrebenden Gesellschaft, sie hatten vor allem die berechtigte Hoffnung, dass ihre Kinder  aufsteigen könnten. Anders in Russland.


Ihre Wohnsitze waren auf bestimmte Gebiete beschränkt, Juden waren, wenn auch nicht immer, so doch oft genug Pogromen und oft genug einer intensiveren und rücksichtslosen Russifizierungspolitik ausgesetzt, die sich aus der aggressiven orthodoxer Religiosität speiste. Es gab diskriminierende Zugangsbeschränkungen zu den Bildungsinstitutionen – vor allem den Universitäten.  Egal welchen Beruf sie ausübten, blieben sie doch immer am unteren Rand der Gesellschaft angesiedelt und hatten jedenfalls nie Zugang zu einem höheren Sozialstatus.


Von der staatlichen Verwaltung und gar der politischen Willensbildung waren Juden praktisch zur Gänze ausgeschlossen. Politisch hatten sie kaum eine andere Orientierung als den Sturz des Zarentums und die Revolution.  


Innerhalb der revolutionären Bewegung hatten jüdische Verbände verschiedene Zielsetzungen. Die Zionisten z.B. verlangten: Freiheit zur Auswanderung. Hauptziel der stärksten Fraktion, des Bundes, hingegen war es, alle jüdischen Arbeiter in einer Sozialistischen Partei zu vereinigen. Der Bund wollte sich mit der russischen Sozialdemokratie verbünden, um sozialistische und demokratische Veränderungen in Russland zu erreichen. Ziel war die gesetzliche Anerkennung der Juden in Russland als eigene Nation mit Minderheitenstatus.


Diese Auffassungen versuchte er auch noch im Sowjet-Russland einzubringen. Als eine säkulare Partei kritisierte der Bund die „reaktionäre Natur des traditionellen jüdischen Lebens in Russland“ und widersetzte sich hartnäckig dem Zionismus, mit der Argumentation, dass die Emigration nach Palästina eine Form des Eskapismus sei. Die bolschewistische Revolution und vor allem Lenin waren ausgesprochen judenfreundlich – allerdings nicht gegenüber dem Bund, der für ihn eine politische Konkurrenz-Organisation darstellte. Jede Volksgruppe oder Minderheit, die vom Zarenregime verfolgt worden war, galt automatisch als antizaristisch und zuverlässig revolutionär und so waren Angehörige von Minderheiten, wie z. B. Polen (Dscherzinsky) oder Georgier (Ordchonikize, Stalin) und eben auch Juden (Trotzki, Semjonow, Litwinow) in prominenten Funktionen der Bolschewiken vertreten.


Mit der Machtergreifung Stalins änderte sich das Klima. Die Wirklichkeit des stalinistischen Sowjetstaates war bald nicht nur für Bauern, Arbeiter, Intellektuelle, Demokraten und Menschewiken enttäuschend, ja mörderisch, sondern auch und  nicht zuletzt für die Juden. Nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker war es nur logisch erschienen, den Juden den Status eines Volkes einzuräumen.


So wies Stalin ihnen wohl ein eigenes Siedlungsgebiet – Birobidjan – an und im fernsten Nowhere des unwirtlichen Sibirien gelegen. Das war zwar kein Gulag, aber kaum viel weniger und schließlich mündete Stalins mörderische Politik in dem als Kosmopolitismus verhüllten Antisemitismus der Schauprozesse der russischen nachrevolutionären Zeit und nach Ende des Bürgerkriegs.
Erstaunlicherweise hat der Kommunismus stalinistischer Prägung auch zahlreiche Juden in Westeuropa und auch in Österreich fasziniert. Freilich weniger die Arbeiter, als die Intellektuellen, deren ekstatische Selbstkastration am Deutlichsten mit dem Diktum des Egon Erwin Kisch zum Ausdruck kam „Für mich denkt Stalin“, als ihn Friedrich Torberg einst zum Hitler-Stalin-Pakt befragte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg propagierten viele Kommunisten unter den exilierten Juden die Rückkehr nach Österreich zwecks Aufbaus eines neuen, freien Österreichs – worunter sie natürlich ein kommunistisches Österreich nach sowjetischem Muster verstanden. Und mit dem Köder des Antifaschismus gelang es ihnen auch in der Israelitischen Kultusgemeinde eine starke Position einzunehmen, um diese als organisatorische Plattform für eine breite Massenbewegung zu benutzen. Der Kalte Krieg vereitelte diese Absicht.


Der außerordentlich aufwändig gestaltete zweisprachige Ausstellungskatalog ist  mehr als ein Führer, sondern kann für sich allein in Anspruch nehmen, das Thema sehr einprägsam und fast erschöpfend gestaltet zu haben.

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