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Frauen für Demokratie

Die Kämpferin symbolisiert ein Phänomen, das Potentaten und große Teile der Bevölkerung in der Region gleichermaßen fürchten: Menschen, die gleiche Rechte einfordern und für sie kämpfen.

Selbst Beobachter, die die grausamen Hinrichtungen des Islamischen Staates gewöhnt sind, fanden dieses Video außergewöhnlich barbarisch: In den kurzen Mitschnitten, die von der Türkei unterstützte Freien Syrischen Armee Anfang Februar online stellte, sah man die geschändete Leiche Barin Kobanis am Boden liegen, eine kurdische Kämpferin, die gefangen genommen worden war. „Kämpfer“ entblößten ihren Oberkörper und verstümmelten ihn. Ein Soldat trat mit seinem Stiefel auf ihre linke Brust und sagte: „Die ist schön.“ „Die Säue der PKK sind unsere Kriegsbeute“, kommentiert dies ein anderer.


Warum verhielten sich die Soldaten so grausam? Weil ihr Hass auf Barin Kobani enorm war. Denn sie stand nicht nur für den Willen der Kurden, sich gegen türkische oder arabische Fremdherrschaft aufzulehnen. Die Kämpferin symbolisiert ein Phänomen, das Potentaten und große Teile der Bevölkerung in der Region gleichermaßen fürchten: Menschen, die gleiche Rechte einfordern und für sie kämpfen, weil es Frauen sind.


Von Marokko bis Irak, von Syrien bis zur Südspitze Arabiens – der gesamte Nahe Osten befindet sich seit Jahren in einer existenziellen Krise. Soziale Unterschiede und gesellschaftliche Spannungen nehmen zu, ethnische Konflikte eskalieren, Staaten kollabieren. Armut und politische Unfreiheit grassieren. Der Klimawandel schreitet hier schneller voran als in den meisten anderen Erdteilen, seine Folgen bedrohen das Überleben der rund 425 Millionen Bewohner dieser Region.


So wurden Instabilität und Terror nach Erdöl und Datteln zu ihren wichtigsten Exportgütern. Die Ursachen für diesen Zustand sind komplex. Aber der beste Lösungsansatz ist überraschend simpel: Wer Arabien und seinen Nachbarn mehr Demokratie, Wohlstand und eine sicherere Zukunft bescheren will, muss, wie Barin Kobani, die Emanzipation fordern.


Europäer sollten Araber nicht belehren

Eines voran: Zwar ist die Gleichberechtigung der Frauen nirgends so fortgeschritten wie in Westeuropa. Dennoch sollten Europäer Arabern nicht von der hohen Kanzel predigen. Selbst 100 Jahre, nachdem Großbritannien Frauen endlich das Wahlrecht einräumte, bleibt der Westen von einer Gleichheit der Geschlechter weit entfernt. In der OECD liegen die Gehälter von Frauen im Durchschnitt immer noch 16 Prozent unter denen der Männer, nur 2 Prozent der Frauen sind Unternehmerinnen. Das Weltwirtschaftsforum bestätigte im Jahr 2016: Auch wir haben noch einen weiten Weg vor uns bis zur völligen Emanzipation.


Das ist ein allgemeines Problem: 90 Prozent aller Staaten führen Paragrafen in ihren Gesetzbüchern, die Frauen diskriminieren. Es geht aber gar nicht darum, moralisch zu argumentieren. Wer Emanzipation verlangt, verteidigt harte realpolitische europäische Interessen. Nur wenn Frauen in Nahost gleichberechtigt werden, lassen sich weitere Kriege, Armut, Terror und neue Flüchtlingswellen nach Europa verhindern.


Denn um die Frauen dieser Region steht es schlecht. Dafür muss man nicht Extrembeispiele wie Saudi Arabien zur Hand nehmen. Frauen sind in keinem arabischen Staat gleichberechtigt. Laut dem Weltwirtschaftsforum werden weibliche Menschen nirgends mehr diskriminiert als in Nahost. Rima Khalaf, Sekretärin der Kommission für Wirtschaft und Gesellschaft in Westasien der UNO (ESCWA) sagte einmal, es gebe reichlich Anlass Erfolge arabischer Frauen in Wissenschaft, Literatur und Kunst zu feiern. Vor allem aber sollte man „ihrer Fähigkeit huldigen, zu überleben.“


Schwangerschaft als häufigste Todesursache für Mädchen

Das blanke Überleben ist vielerorts tatsächlich eine Errungenschaft. Vor allem wenn man bedenkt, wie verbreitet Kinderehen in arabischen Staaten sind. Jedes siebte Mädchen ist hier vor dem Erreichen des 18. Lebensjahres bereits Ehefrau. Im Libanon werden 41 Prozent der Mädchen syrischer Flüchtlinge im Kindesalter geehelicht, im Irak sind 25 Prozent der Frauen mit 18 bereits verheiratet, in Ägypten sind es 17 Prozent. Manche von ihnen werden von den eigenen Eltern an reiche Golfaraber in „temporäre Hochzeiten“ gegeben – islamischer Euphemismus für religiös sanktionierte Prostitution – um ihre wirtschaftliche Situation aufzubessern. Für die Bräute ist das verheerend: Schwangerschaft ist weltweit die häufigste Todesursache für Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Zudem haben Kinderbräute ein erhöhtes Risiko mit HIV angesteckt oder Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Aber die Tragik dieser Praktik geht weit über das Schicksal der weiblichen Individuen hinaus. Sie ist der Ausgangspunkt eines Teufelskreises, der die gesamte arabische Welt abwärts zieht.


Die Heirat zwingt Minderjährige oft, ihren Bildungsweg abzubrechen – falls ihr misogynes Umfeld es ihnen überhaupt gestattete, ihn anzutreten. Junge, ungebildete Mütter sind für jede Staatswirtschaft eine Bürde: Sie bringen mehr Kinder zur Welt, denen sie weniger Bildung mit auf den Weg geben können. Wenn sie aufwachsen, gesellen sie sich zu einem Heer ungebildeter, arbeitsloser Arbeitskräfte. Laut einer Schätzung der UNESCO 2008 waren 40 Prozent der arabischen Erwachsenen – 70 Millionen Menschen – Analphabeten. Doch im 21. Jahrhundert, in dem Apple wahrscheinlich doppelt so viel wert ist wie der Ölgigant Saudi Aramco, können Staaten nicht mehr reich werden, indem sie Rohstoffe in alle Welt verkaufen. Breiter Wohlstand entsteht nur wenn alle neues Wissen schaffen und weltweit vermarkten. Doch wie soll die arabische Welt mit diesem Bildungsstand das nächste iPhone erfinden? Zumal sie im Vorhinein auf die Hälfte ihres menschlichen Potentials verzichtet – nur 24 Prozent arabischer Frauen dürfen zur Arbeit gehen. Das ist die niedrigste Rate weltweit.


Mangelnde Bildung hat auch politische Konsequenzen. Der Gesellschaftsvertrag westlicher Demokratien beruht auf der Maxime der amerikanischen Revolution: „No taxation without representation.“ Eine breite Mittelschicht trägt den Staat mit ihren Steuern. Der ist seinen Bürgern verpflichtet, Dienstleistungen in der Form von Sozial- und Krankenversicherung, Infrastruktur, Bildung und persönlicher Sicherheit anzubieten. Doch in Staaten, in denen die Mehrheit der Bevölkerung bitterarm ist und Eliten den Staat finanzieren – seien es absolutistische Golfscheichs, denen die Ölquellen ihrer Länder gehören oder die Generäle von Ägyptens Armee, die 40 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) erwirtschaftet – gilt ein anderer Gesellschaftsvertrag. Hier sollen Untertanen den Mund halten, weil der Herrscher alle Kosten trägt. Die Polizei mutiert vom Freund und Helfer zum Instrument der Unterdrückung. Dass Arabiens Männer heute arm und unfrei sind, rührt aber eben auch daher, dass sie ihren Frauen Freiheit, Bildung und Wohlstand vorenthalten. Das schlägt sich letztlich auch in der Außenpolitik nieder. Wie das Buch Sex and World Peace festhält, besteht eine eindeutige Korrelation zwischen dem Status der Frauen eines Staates und dessen Friedfertigkeit. Je emanzipierter eine Gesellschaft, desto stabiler, friedlicher und toleranter ist sie, und desto weniger Kriege führt sie. Frauenrechte korrelieren eng mit der allgemeinen Lebenserwartung, dem Fehlen von Korruption und der Regierbarkeit eines Landes. Und ja: Je emanzipierter ein Land, desto wohlhabender ist es auch.


Mit Emanzipation könnte eine Kettenreaktion beginnen

Emanzipation ist kein politisches Allheilmittel, aber zu diesem Zeitpunkt wohl das beste Äquivalent dazu. Würden alle Frauen der Welt gleichberechtigt, wüchse die Weltwirtschaft bis 2025 um 12 Billionen US-Dollar – so, als wären plötzlich die Wirtschaften der USA und Chinas gleichzeitig dazugekommen. Dies gilt besonders für Arabien, wo Frauen am meisten diskriminiert werden: Die Integration von Frauen im Arbeitsmarkt würde das BSP Ägyptens laut Schätzung des Internationalen Weltwährungsfonds in wenigen Jahren um 34 Prozent steigern.


Emanzipation könnte der Beginn einer Kettenreaktion sein: Sie führt zuerst zu mehr Bildung. Gebildetere Frauen haben dann weniger Kinder. Arbeitende Mütter, die ihren Bildungsweg vollendeten, investieren zudem, wie zahlreiche Studien belegen, weitaus mehr als Väter in Gesundheit, Ernährung und Bildung ihrer Kinder. Und in den Erfolg ihrer Arbeitgeber: Laut Studien sind Firmen, in denen Frauen mehr vertreten sind, erfolgreicher – mit einer durchschnittlich 47 Prozent höheren Eigenkapitalrendite als die chauvinistische Konkurrenz. Emanzipation wäre also der Beginn allgemeinen Wohlstands in der arabischen Welt.


Emanzipation würde auch die reaktionäre politische Kultur dieser Region revolutionieren. Wären sunnitische Männer erst einmal gezwungen, Frauen als gleichwertig zu akzeptieren, müssten sie auch die bislang dominante radikale Interpretation des Islams neu auslegen. Ein solcher Islam würde dem internationalen Terror die ideologische Grundlage entziehen. Er könnte es möglich machen, andere „Andere“ zu tolerieren – seien sie Schiiten, Christen, Jesiden, Kurden, vielleicht sogar Juden. Ehedem labile Staaten würden konsolidiert, marode Wirtschaften saniert, Kriege und Konflikte weniger wahrscheinlich. Die Motivation für eine Flucht nach Europa würde geschmälert.


Kultureller Relativismus ist gefährlich: Jedes Verständnis für misogyne Praktiken und Bräuche, wie z.B. Genitalverstümmelung, Polygamie oder Ehrenmorde bis hin zum Kopftuchzwang, schadet dem nationalen Sicherheitsinteresse. Selbst manche Eliten Arabiens erkennen das inzwischen: von Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi, der vergangenen Sommer die „Gleichheit von Frauen vor dem Gesetz“ forderte, bis hin zu Saudi Arabiens Kronprinz Muhammad bin ­Salman, der Frauen dieses Jahr endlich das Recht einräumen will, Auto zu fahren.


Europa muss solche Anstrengungen entschiedener unterstützen. Wer Emanzipation fordert, vertritt nicht (nur) einen moralischen Standpunkt, sondern existenzielle, realpolitische Interessen. Die Strategie der Hilfsorganisation Millenium Challenge Corporation kann als Beispiel dienen. Die macht ihr Engagement davon abhängig, ob Frauen im Empfängerstaat Verträge unterschreiben, ein Geschäft eröffnen, arbeiten, einem Haushalt vorstehen oder frei reisen dürfen. Dies hat in manchen Fällen bereits zum MCC-Effekt geführt – durch Reformen, die erlassen wurden, um US-Gelder zu erhalten.
Europa muss bei jeder Transaktion, vor allem mit arabischen Staaten, ähnliche eindeutige Vorgaben machen und Richtlinien erstellen. Europäische Firmen sollten nur noch Fabriken errichten dürfen, in denen Frauen am Band mitarbeiten und in den Chefetagen mitreden können. In Joint Ventures sollten Frauen beider Seiten an Board sitzen. Regierungskooperation darf nur im Gegenzug zur Annullierung frauenfeindlicher Gesetze erfolgen. Nicht nur um der Freiheit arabischer Frauen Willen, sondern um Europa selbst wohlhabender, sicherer und, ja – vielleicht sogar ein bisschen moralischer zu machen. 

 

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