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Bilanz des Schreckens

2015 jährt sich der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum 70 Mal. Erstmals wurden Minister, Militärführer und Funktionäre eines Regimes, aus der Kriegswirtschaft sowie Organisationen vor einem internationalen Gericht für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen.

 

Heute pilgern Touristen um die Weihnachtszeit in die zweitgrößte Stadt Bayerns zum Christkindlmarkt, doch auch während des Nationalsozialismus war die Stadt einmal im Jahr ein begehrtes Reiseziel, denn dort fanden die Reichsparteitage statt, die vor allem der Selbstdarstellung des Regimes und Adolf Hitlers dienten. 1935 wurden dort die Nürnberger Rassengesetze „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre” beschlossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Heimat Albrecht Dürers, Hans Sachs oder der Meistersinger in Schutt und Asche. Die Schriftstellerin Elsa Triolet beschrieb die Nachkriegssituation folgendermaßen: „Eine völlig zertrümmerte Stadt – stellen Sie sich ein Porzellanservice in einem Korb vor, den man aus großer Höhe hat fallen lassen –, eine Trümmerlandschaft, in der hier und da ein Haus zu sehen ist, merkwürdig wie eine unversehrte Tasse nach einem solchen Fall...” Während die Russen den Kriegsverbrecherprozess in Berlin durchführen wollten, schlugen die Amerikaner Nürnberg mit dem unversehrten Justizpalast samt nahe gelegenem Gefängniskomplex vor. Bereits 1943 beschlossen die Alliierten in der Moskauer Erklärung, die Hauptverantwortlichen der NS-Verbrechen vor Gericht zu stellen. 1945 bekräftigten die Staatschefs der Alliierten – Franklin D. ­Roosevelt, ­Winston Churchill und Josef Stalin – auf der Konferenz von Jalta ihren Willen, die Kriegsverbrecher einer schnellen Bestrafung zuzuführen. Während der darauffolgenden Londoner Konferenz wurde der Nürnberger Prozess von Vertretern der Vereinigten Staaten von Amerika, der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sowie der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vorbereitet und das weitere gemeinsame Vorgehen festgelegt.

Der internationale Gerichtshof setzte sich aus Vertretern nebst Stellvertretern der Siegermächte, also acht Richtern, zusammen. Die Alliierten stellten auch eine eigene Anklagevertretung, als Hauptankläger vor Gericht fungierten der Amerikaner Robert H. Jackson (der zuvor schon maßgeblich an der Organisation und an der Ausarbeitung des Prozesses beteiligt war), der Brite Sir Hartley Shawcross, der Russe Roman A. Rudenko und der Franzose François de Menthon (ab Jänner 1946 Auguste Champetier de Ribes).

Angeklagt waren 24 hochrangige nationalsozialistische Einzelangeklagte sowie Organisationen wegen Verschwörung (1), Verbrechen gegen den Frieden (2), Kriegsverbrechen (3) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (4).

Schon früh wurde der Prozess im Justizpalast in der Fürther Straße kritisiert, weil die gesetzlichen Grundlagen erst im nachhinein geschaffen wurden, es sei Siegerjustiz und ein nach angloamerikanischem Recht durchgeführtes Verfahren, es sei kein Gericht der Deutschen für deutsche Verbrecher. Später wurde kritisiert, dass nur wenige der hochrangigen Angeklagten gehenkt und die „Kleinen” unbehelligt gelassen wurden. Auf jeden Fall steht fest, dass dieser Prozess Vorbildfunktion hatte für das Russell-Tribunal, zur Untersuchung der US-Kriegsverbrechen in Vietnam (das aber keine Mittel zur Durchsetzung seiner Beschlüsse hatte) und den Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag und somit für Prozesse gegen Kriegsverbrecher in Ruanda oder Ex-Jugoslawien.

 

Auf der Anklagebank

Nummer 1 auf der Anklagebank war – nachdem Adolf Hitler und Joseph Goebbles bereits vor Kriegsende, Heinrich Himmler in Gefangenschaft Selbstmord begangen hatten – Reichsmarschall Hermann Göring, mit einem „an einen halbleeren Luftballon erinnernden Aussehen des fetten Mannes, der zu schnell und zuviel Gewicht verloren hat” (John Dos Passos). Hitlers Stellvertreter in der NSDAP Rudolf Heß litt während des Prozesses angeblich an Gedächtnisschwund und ließ an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Erich Kästner fand, er hätte sich verändert. „Es ist, als sei der Kopf halb so klein geworden. Dadurch wirken die schwarzen Augen geradezu unheimlich.” Angeklagt waren u. a. auch Außenminister Joachim von Ribbentrop oder die für die Verbrechen in den besetzten Gebieten und insbesondere in Konzentrationslagern Verantwortlichen Arthur Seyß-Inquart, der zur Zeit des Anschlusses in Österreich Bundeskanzler war, oder Hans Frank, der Henker von Polen. Letzterer wälzte alles auf Himmler ab und stellte sich als Zwerg in der Verwaltung dar. „Dieser Zwerg verschlang täglich zehntausende von Menschen.” (Ilja Ehrenburg) Baldur von Schirach machte auf Kästner einen bleichen und bedrückten Eindruck – er hatte die Hitlerjugend ideologisch indoktriniert und ging 1940 als Gauleiter nach Wien, das er zwei Jahre später als judenfrei meldete. Den Herausgeber der Wochenzeitung Der Stürmer Julius Streicher erklärten Fachärzte nach einer Untersuchung für zurechnungsfähig, hatte er doch behauptet, nie gegen die Juden gewesen zu sein und in der Judenfrage immer den zionistischen Standpunkt eingenommen zu haben. Gegen Martin Bormann wurden in Abwesenheit verhandelt, Robert Ley beging am 25. Oktober 1945 im Gefängnis Selbstmord und die Verhandlung gegen Gustav Krupp von ­Bohlen und Halbach wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Ernst Kaltenbrunner erlitt zu Beginn des Prozesses eine Gehirnblutung, konnte dann aber am Prozess teilnehmen. Daher saßen auf der Anklagebank oftmals nur 20 oder 21 Personen, aber alle waren sich einig, sie waren nicht schuldig. Angeklagt als verbrecherische Organisationen waren die Reichsregierung, das Führerkorps der NSDAP, SS und SD, SA, Gestapo sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht.

Vor den Angeklagten saßen ihre Anwälte, die Verteidiger wurden entweder von ihnen selbst gewählt oder auf deren Verlangen vom Gerichtshof ernannt. Eine wichtige Rolle spielten über 400 DolmetscherInnen und ÜbersetzerInnen. Die Nürnberger Prozesse gelten als Geburtsstunde des modernen Dolmetschens, insbesondere des Simultandolmetschens – ein von IBM eigens für das Verfahren entwickelte Anlage kam zum Einsatz. Die Anklageschrift wurde verlesen und dauerte den ganzen Tag. „Aus den Stimmen der Staatsanwälte, aus den gespannten atemlosen Stimmen der Dolmetscher formt sich in unseren Ohren langsam ein Refrain: ... Erschießungen, Verhungern lassen, Folter ... gefoltert und ermordet ... Erschießungen, Prügel und Erhängungen ... Erschießungen, Verhungern lassen, Folter...’”, so Dos Passos...

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