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Amos Oz in München

Vor drei Jahren wurde die Abteilung für jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, um ein Zentrum für Israel-Studien erweitert. Der Initiator und höchst erfolgreiche Netzwerker, der Historiker Michael ­Brenner, der vor Jahren schon die Installation eines Lehrstuhls für mittelalterliche jüdische Geschichte initierte, dachte auch hörbar über eine Gastprofessur für jüdische Literatur nach. Gesagt, getan. Ende Mai 2018 konnte er als ersten Gastprofessor den israelischen Schriftsteller Amos Oz willkommen heißen. Oz habe nicht nur die zeitgenössische israelische Literatur geprägt, so gut wie alle renommierten Literaturpreise erhalten und an der Ben-Gurion- Universität unterrichtet: „Wer die Geschichte Israels nicht nur lernen, sondern auch verstehen möchte, muss das Werk von Amos Oz lesen.“ Es genüge nicht, ihn in den Fußnoten der Werke von Historikern auszumachen, die ohne ihn gar nicht auskämen. Alle Facetten der Geschichte Israels kämen in seinen Erzählungen und Romanen vor.
Dann legte Amos Oz, unprätentiös, humorvoll und in klarstem Englisch los und begann in seinem unterhaltsamen Monolog Where My Stories Are Coming From gleich als Geschichtenerzähler.
Jeden Tag stehe er gegen vier Uhr morgens auf, sommers wie winters, und gehe spazieren. Früher, als er noch im Kibbuz lebte, ging es in die Dunkelheit hinaus, heute in Tel Aviv nur in den Park. Nachts würden die Dinge anders aussehen. Er sehe den Zeitungsauslieferer oder auch einen jungen Mann, dessen Hund den Kopf auf sein Bein legte. Diesen Moment empfange Oz wie den „Embryo einer Geschichte“. Jedes Motiv, oder Geräusch verleitet ihn dazu, sich Gedanken zu machen. Das Beobachten von Menschen, das Zuhören, das Aufschnappen von Wortfetzen, rege ihn an.
Den Ursprung zu dieser Gabe vermutet Amos Oz in seiner Kindheit, wo in der, von Büchern überquellenden, kleinen Wohnung ständig Erwachsene zusammenkamen und über bedeutende, ihn überfordernde Fragen diskutierten. Nicht zu stören und still zu halten, wurde oft mit dem Luxus eines Eis belohnt, wenn die Debatte in einem Café fortgesetzt wurde. Die treibende Kraft für einen Schriftsteller sei – so Oz – die Neugier, „grausame Vorbedingung für jede intellektuelle Arbeit“. So gesehen sei er wohl ein bisschen besser geeignet als Partner, als Nachbar, ja sogar als Autofahrer, weil ein neugieriger Mensch sich leichter in seinen Nächsten hineinversetzen und dessen Verhalten voraussehen könne.
Für Oz ist sein Beruf der eines „Geschichtenerzählers“, darum hat er auch seine Autobiographie so betitelt, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Menschen hätten einander von jeher Geschichten erzählt, voll Weisheiten, Empfindungen, Albträumen. Und dies lange, bevor es die Schrift gab. In jeder Generation gehöre das Geschichtenerzählen dazu, von Anfang an, wenn man den Kindern Einschlafgeschichten erzähle.
Zum Erzählen gehöre auch „Gossip“ dazu, die Cousine des Erzählens. Denn das Unbekannte hinter der Fassade wecke die Phantasie. Die Literatur bringe uns dazu, die Welt aus dem Blickwinkel des Nächsten zu sehen. Dabei denkt Oz an den Titel eines Textes, den er vor ewigen Zeiten las: All our secrets are the same. Alle unsere Geheimnisse ähneln einander. Und die Sexualität spiele dabei eine große Rolle, jede sexuelle Begegnung eines Paares bedeute eine Geschichte. Menschliche Beziehungen sieht Oz weniger wie John Donne (Niemand ist eine Insel), sondern vielmehr als Halbinsel. Man sei angebunden und gleichzeitig der Umwelt ausgesetzt. Die romantischen Vorstellungen, denen die meisten Menschen nachhängen, könnte Familie nicht befriedigen. Oz zitiert den ersten Satz aus Tolstois Anna Karenina: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“
Oz, der die Weltliteratur von Faulkner über Tschechow bis Marques kennt, assoziiert das Neuhebräische mit dem Zustand des Englischen zu Zeiten von Shakespeare. Hebräisch sei sehr alt und gleichzeitig sehr modern. Ein „eruptiver Vulkan, befeuert von den Sprachen und kulturellen Mitbringseln (Beiträgen) von Juden aus aller Welt.
Im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Rachel Salamander gab Amos Oz zu, seine früheren Werke nicht wieder zu lesen. Es sei eine frustrierende Sache. Entweder würde er etwas für schlecht befinden oder müsste fürchten, es nie wieder so gut hinzukriegen. Der Bogen reichte von dem Buch Wo die Schakale heulen, das in die Anfänge von dreißig Jahren im Kibbuz zurückreicht, bis zu seinem letzten Roman Judas.
Amos Oz bekennt, dass er ein erotisches Verhältnis zur Sprache habe. Im Roman gebe es verschiedene Menschen mit verschiedenen Lebenserfahrungen und Lebenserwartungen. Im Laufe einer Erzählung veränderten sich die Dinge und Beziehungen. Für seine politischen Essays verwendet Oz, wie er sagt, „einen anderen Stift“. Da gehe es um klare, starke Positionen. Da weiß er genau, was er aussagen will. Zuletzt befasste sich Oz nicht nur mit Judas, sondern mit der Beziehung zwischen „Jesus und Judas“, wie er seinen Zwischenruf, 2018 im Patmos Verlag erschienen, betitelte. Oz hält die Geschichte vom Verrat des Judas für „eine vergiftete Geschichte, die den Antisemitismus geboren hat“ und die auch keinen vernünftigen Sinn mache. Denn Judas stammte aus wohlhabenden Verhältnissen und habe es gar nicht nötig gehabt, um Geldes willen den Gefährten zu verraten. Für Amos Oz ist Judas vielmehr ein Fanatiker, der an die Erfüllung von Jesus‘ Botschaft glaubt – um jeden Preis, während Jesus zweifelt.
Auf die Weise, wie Amos Oz Wissen über sein Land und die Literatur vermittelt, hat er nicht nur einen fulminanten Auftakt zur Gastprofessur für Hebräische Literatur gesetzt, sondern gezeigt, dass man auch in Zeiten aufgeregter Debatten Zeichen setzen kann für Verständigung, gegen Antisemitismus und gegen Antizionismus.

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