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Pessachschrift

Ausgabe Februar / März 2007

 

Aus dem Inhalt der aktuellen Ausgabe

Oelbild von Naftali Salomon
Naftali Salomon: Alt-Jerusalem, 2001

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Brennpunkt Nahost

Kommentar von Gil Yaron

Wer heute den Nahen Osten stabilisieren oder gar befrieden will, kämpft gegen brillante Gegner, zum Beispiel der legendäre britische Premier Winston Churchill. Egal ob von Jordanien, Ägypten, Saudi Arabien oder Syrien die Rede ist, ganz zu schweigen von Brennpunkten wie dem Libanon, Irak und Palästina: die gesamte Region samt ihren rund 280 Millionen Bewohnern ist ein Konglomerat regionaler Konflikte. Diese drohen jeden Augenblick in offenen Krieg auszuufern, wären da nicht totalitäre Herrscher, die ihre eigene Bevölkerung mit eiserner Faust unterdrücken.

Ein Zitat aus den zwanziger Jahren ist Sinnbild für die eigentliche Ursache der Probleme, die eine der strategisch wichtigsten Regionen der Welt plagen: „Ich habe Jordanien an einem Sonntag Nachmittag in Kairo mit einem Federstrich geschaffen“, rühmte sich der damalige britische Kolonialminister Winston Churchill. Die Kolonialmächte erfanden Anfang des 20. Jahrhunderts die arabischen Nationalstaaten nach eigenem Gutdünken. Dabei nahmen sie keine Rücksicht auf die Wünsche oder Bestrebungen der örtlichen Bevölkerungen.

Ganz im Gegenteil, sie richteten sich viel eher nach der alten römischen Maxime „di vide et impera“, also teile und beherrsche. Bis auf Ägypten wurden die Grenzen mit der ausdrücklichen Absicht gezogen, heterogene Bevölkerungen zu schaffen, deren innere Streitigkeiten stets äußere Einmischung notwendig machen würden. Keiner der arabischen Staaten, mit der eventuellen Ausnahme Ägyptens, ist historisch organisch gewachsen. Sie wurden aus dem Boden gestampft. So sind sie weder Ausdruck einer gemeinsamen Geschichte noch dienen sie als Instrument, um der Bevölkerung ein besseres Leben zu gewähren. Stattdessen werden sie von den amtierenden Herrschern wie Familienunternehmen geführt: Ägypten bereitet sich darauf vor, von Hosni Mubarak seinem Sohn Gamal vererbt zu werden, nachdem dasselbe bereits in Syrien, Jordanien, Marokko und den Golfanrainern geschah. Der Strom begabter Einwanderer aus Arabien macht es deutlich: die arabischen Nationalstaaten sind wegen der Korruption ihrer Führungen und wegen ihrer prekären ethnischen Zusammensetzung als Mittel der Selbstverwirklichung ihrer Bürger kläglich gescheitert.

Neunzig Jahre moderner Nahostpolitik, von Kolonialismus über Kalten Krieg bis hin zum engagierten Dialog mit dem Iran, haben vor allem deswegen ihr Ziel einer Stabilisierung der Region verfehlt. Auch der letzte Ansatz der US-Politik, die Regime der Region demokratisieren zu wollen, ist im kargen Wüstensand verlaufen. Ganz im Gegenteil, die Region fällt einem fortwährend radikaleren Islamismus anheim, der für Europa eine existentielle Gefahr darstellt. Der implodierende Irak und der kurz vor einem Bürgerkrieg stehende Libanon und Palästina machen deutlich, dass im Nahen Osten die Loyalität der Menschen nicht modernen staatlichen Gebilden, sondern anderen Strukturen wie Familienclans oder ethnischen oder religiösen Gruppierungen gilt.

So fantastisch es heute klingen mag: es ist Zeit, über eine Neuordnung der Region nachzudenken. Zwar garantiert Internationales Recht die Integrität von Nationalstaaten, doch nur um der Stabilität zu dienen und Kriege zu verhindern. Im Nahen Osten erreicht Aufrechterhaltung der Staaten aber das Gegenteil: wer Kurden, Schiiten und Sunniten im Irak in ein Staatskorsett zwingt, darf sich nicht wundern, wenn er im Gegenzug Bürgerkrieg erhält. Ein progressiver Libanon ist ebenso wenig mit der Hisbollah in Einklang zu bringen wie eine Zweistaatenlösung mit der Hamas. Ein neuer Naher Osten muss her, in dem Menschen einen Staat bilden, weil sie zusammenleben wollen. Nur dann werden sie ihre Energien in Aufbau statt Zerstörung stecken. Eine Reorganisation der Region birgt große Gefahren in sich, wird sie doch auf Widerstand korrupter Eliten stoßen. Doch wenigstens bietet sie die Chance, die Kooperation mit Autokraten nicht bieten kann, nämlich die Aussicht auf eine bessere Zukunft. So sollte man laut Churchill bezüglich des Nahen Ostens optimistisch sein: Ein Optimist sieht eine Gelegenheit in jeder Schwierigkeit; ein Pessimist sieht eine Schwierigkeit in jeder Gelegenheit.  

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Die Abenteuer des Rabbi Arye

Von Henryk M. Broder

Der Tag fing gut an. Um halb zehn Frühstück bei Meinl am Graben mit Magdalena T., danach ein Spaziergang mit Sammy durch den 1. Bezirk mit kurzen Besuchen im „Schwarzen Kameel“ in der Bognergasse („Partyservice- Köstlichkeiten“), bei „Trzesniewski“ in der Dorotheergasse („Die unaussprechlich guten Brötchen“) und einem kurzen Step-in bei „Hawelka“.

Henryk M. Broder
Henryk M. Broder

 Dann Mittagessen im „Österreicher“ am Stubenring mit Gery Keszler, dem Erfinder und Organisator des „LifeBall“, der größten AIDS-Benefiz-Gala Europas. Danach waren wir mit Andreas Laun, dem Bischof von Salzburg, auf einen Topfen-, Millirahm- oder Mohnstrudel verabredet. Aber es sollte anders kommen.

Als uns Gary an der Ecke Laurenzerberg/Schwedenplatz absetzen will, läuft uns ein kleiner, schwarz gekleideter Mann über den Weg. „Das ist er!“ ruft Sammy, „den hab ich heute früh schon in der U-Bahn gesehen.“

Ich kralle meine NIKON Coolpix 5000, die ich letztes Jahr zum halben Preis in Haarlem gekauft habe, winde mich aus dem Mini und rufe in akzentfreiem Hebräisch: „Rega, Adon Friedman, rega echad!“ Friedman bleibt stehen, ich stelle mich vor und frage ihn, ob er Zeit für ein kurzes Gespräch hätte, alles auf Hebräisch. Friedman schaut, als hätte ich ihm aus der japanischen Ausgabe von „Max und Moritz“ vorgelesen. Er versteht mich nicht. Moishe Arye Friedman, „Oberrabbiner“ der orthodoxen antizionistischen Gemeinde von Wien, versteht kein Hebräisch.

 Ich wiederhole meinen Spruch auf Englisch, dann auf Deutsch, in Friedmans blasses Gesicht kehrt das Blut zurück. „Give me your number“, sagt er, und während er sich meine Nummer notiert, fährt die NIKON das Objektiv aus. Friedman will mir die Kamera aus der Hand reißen, ich weiche zurück, er verkrallt sich in meine Lederjacke und schreit „Polizei! Polizei!“ Dann „Geh doch nach Israel!“, und wieder „Polizei! Polizei!“ Ein paar Wiener bleiben stehen, aber keiner unternimmt was. Moishe Arye Friedman, Freund des iranischen Staatspräsidenten, ist für seine kleinen Open Air Performances in Wien schon eine Weile bekannt. Friedman lässt mich los, hebt mit der rechten Hand eine Plastiktüte hoch, um sein Gesicht zu verdecken, mit der anderen greift er in seine Kaftantasche, holt ein Handy raus und ruft die Polizei an.

Die Nummer hat er offenbar eingespeichert. „Man hat mich überfallen! Man will mich entführen!“ schreit er ins Telefon. „Kommen Sie gleich!“ Das nächste Polizeirevier ist gleich um die Ecke. Zwei Minuten später sind drei Beamte da, eine Polizistin und zwei männliche Kollegen. Die Polizistin führt das Wort. „Was ist passiert?“ will sie wissen. „Das sind zwei israelische Terroristen“, sagt Friedman, zeigt auf Sammy und mich, „die haben mich überfallen“, er sei ins Gesicht geschlagen worden, seine Brille sei zu Bruch gegangen, nur mit größter Not habe er Sammy und mich abwehren können. „Man sieht aber nichts“, sagt die Polizistin und empfiehlt Friedman, am nächsten Tag zum Amtsarzt zu gehen, um seine Verletzungen begutachten zu lassen. Sie nimmt ihn zur Seite und schreibt ein Protokoll. Da ich ein Ausländer bin, muss ich mit zur Wache. Inzwischen ist Bischof Laun eingetroffen und begleitet mich zur Dienststelle. Er hat in seinem Leben schon vieles erlebt, aber noch nie einen israelischen Terroristen zur Polizei begeleitet.

Die Beamtin ist nett, hat nur Schwierigkeiten mit dem Computer und dem Drucker. Nach 20 Minuten ist die Niederschrift „Betreff Körperverletzung“ abgeschlossen, die Beamtin fragt, ob ich noch etwas sagen möchte. Ich sage: „Ich kann die Wiener Polizei jedermann nur empfehlen“, Bischof Laun grinst, er kennt das Zitat.  Um 15.10 verlassen wir die Station.

Oberrabbiner Friedman ist inzwischen verschwunden. Schade, ich hätte ihm gerne ein paar Fragen gestellt. Wo er gelernt und wo er die „Smicha“ zum Rabbiner bekommen hat, was es auf der Holocaust-Konferenz in Teheran zu essen gab, wer seinen Flug und sein Hotel bezahlt hat, bei welchem Kostümverleiher er sein Outfit holt, wo seine Gemeinde ist und wie viele Gläubige sie zählt. Wovon er lebt, warum ihn seine Frau verlassen hat und wie ihm die „Abenteuer des Rabbi Jakob“ mit Louis de Funes gefallen haben.

Bischof Laun und ich verschieben unseren Cafehaus-Termin, ich erwische den 15.30 Bus nach Schwechat, checke bei Berlin Air ein, kaufe noch ein paar Dosen Mozartkugeln und falle im Flugzeug sofort in einen Tiefschlaf. In zehntausend Meter Höhe träume ich, ich sei Oberrabbiner Moishe Arye Friedman in Wien auf der Straße begegnet. Ein Alptraum, den ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen möchte.

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Kein Ariernachweis für das Automobil

Ehrenrettung für Siegfried Marcus

Siegfried Marcus

Jemand, der versucht, aus einem  technischen Nachschlagewerk neueren Datums zu erfahren, wer denn nun wirklich das Automobil erfunden hat, wird feststellen, dass dort entweder von Carl Benz oder von Gottlieb Daimler die Rede ist. Den Verbrennungsmotor hat angeblich auch ein gewisser August Otto erfunden. Die Tatsache, dass dieser von August Otto konstruierte Leuchtgasmotor nie funktioniert hat, stört heute niemanden mehr. Man spricht trotzdem vom Otto-Motor, wenn von einem Benzinmotor die Rede ist. An Daimler und Benz wagt ohnehin kaum jemand zu zweifeln. Beim Studium eines alten Lexikons aus den dreißiger Jahren hingegen entdeckt man, dass dort diese Tatsachen richtig beschrieben sind, und als Erfinder des Kraftwagens der in Mecklenburg geborene, später in Wien lebende Siegfried Marcus aufscheint.

Dass dieser Umstand vielleicht etwas mit dem Dritten Reich zu tun haben könnte, daran denkt wohl niemand. Jedenfalls bediente sich der Führer zeitlebens mit großer Begeisterung einer in mehrfacher Hinsicht jüdischen Erfindung, dem Automobil. Diese Erfindung konnte unter gar keinen Umständen den Ariernachweis erbringen, da der Erfinder des Automobils, Siegfried Marcus, nun eben Jude war.

So wurde der Kraftstoff Benzin vom Naturwissenschaftler, Erfinder, Ingenieur, Konstrukteur und Mechaniker Siegfried Marcus gefunden, für die motorische Verbrennung aufbereitet und bereits 1864 in einem Versuchsmotor erfolgreich erprobt.

Ebenso wurde der Viertakt-Benzinmotor mit all seinen Nebenaggregaten, wie dem Vergaser (1865), der elektrischen Zündung (1864) ohne Vorbild, von Siegfried Marcus erfunden, und bereits um 1870 in Betrieb genommen. Diese Erfindung stammt daher nicht von August Otto, wie manche Historiker fälschlicherweise behaupten. Otto hat niemals einen „Otto-Motor“ nach unserem Verständnis geschaffen.

Marcus Wagen

Die Erfindung des ersten viersitzigen Ur- und Gesamtautomobils mit vier Rädern stammt von Siegfried Marcus aus dem Jahre 1875, also genau elf Jahre vor Daimler und Benz. Das erste von Marcus gebaute, mit Benzin betriebene Gefährt stammt aus dem Jahr 1864.

Die automobile Grundform der nationalsozialistischen Staatskarossen schuf der österreichische General-Konsul in Nizza, Emil Jelinek (1904), der ebenfalls Jude war. Die Tochter des Generalkonsuls hieß mit Vornamen „Mercedes“.

Da dem Führer sicher nicht von Anfang an bekannt war, welche Religionszugehörigkeit der bereits seit längerem tote Siegfried Marcus hatte, stellt sich die Frage, was Hitler dazu bewegt haben könnte, sich persönlich um diese Angelegenheit zu kümmern, und per Verordnung den Namen Siegfried Marcus einfach  „aus dem deutschen Schrifttum auszumerzen“.

Die Antwort ist relativ einfach. Ein bedeutendes Industrieunternehmen, welches nicht verwinden kann, dass das Automobil nicht von einem ihrer Mitbegründer erfunden wurde, versuchte von Anfang an, die Erfindung Siegfried Marcus’ etwas weiter hinten einzureihen, und versucht dies bis heute mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Da der wahre Erfinder nicht arisch war, erwies sich Adolf Hitler als ein sehr willkommener Helfer. 

Auch mit diesen Themen befasste seriöse Historiker, sehr oft Direktoren diverser Technischer Museen, oder Professoren anerkannter technischer Universitäten, übernehmen in vielen Fällen solche von einschlägigen Industriekonzernen vorgegebene Fakten. Das Problem ist, dass die Direktorin eines technischen Museums, oder der Leiter eines Institutes einer Universität, es sich in einer Zeit, in welcher selbst bedeutende Museen keine öffentlichen Subventionen mehr bekommen, gar nicht leisten kann, einen eventuellen Sponsor des Museums zu verärgern. Bei der technischen beziehungsweise der industriellen Geschichte sind eben auch seriöse Historiker gezwungen, historische Wahrheiten zu verbiegen, um damit den Fortbestand eines Museums zu sichern.

Ob eine der bedeutendsten Firmen in der Industriegeschichte derartiges nötig hat, ist eine andere Frage. (Helmut Klein)

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Ein Schloss am See

Das Sommerhaus von Max Liebermann wurde zum Museum

Liebermann-Haus
Liebermann-Villa am Wannsee

Ein „Schloss am See“ nannte der Maler Max Liebermann sein Sommerhaus, das direkt an den Berliner Wannsee grenzt. Diese Villa in der Colomierstraße war sein Sommerquartier, während er den größeren Teil des Jahres in dem von seinem Vater 1882 geerbten Stadtpalais auf dem Pariser Platz 7 wohnte. 1909 erwarb Liebermann das ca. 7260 m2 große Grundstück um 145.000 RM in der Kolonie Alsen. Er beauftragte den Alfred Messel-Schüler Paul Otto Baumgarten mit dem Bau seines Hauses. Die Pläne des Architekten wurden immer wieder von Liebermann, der genaue Vorstellungen von seiner zweigeschossigen Villa hatte, überarbeitet. Das Haus, das sich in der Mitte des Grundstücks befindet und mit dem Garten eine Einheit bildet, wurde 1910 vom 63-jährigen Künstler und seiner Familie bezogen. Links vom Speisezimmer aus gelangte man in den Salon, rechts in die Loggia. Im ersten Stock befanden sich das Atelier des Malers sowie Privaträume. Der Kunsthistoriker und Leiter der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, beriet den Maler bei der Gestaltung des Gartens. Die Ausführung der Arbeiten übernahm Albert Brodersen, der seit 1910 Stadtgartendirektor von Berlin war. Im seeseitigen Garten blickte der Künstler auf eine Blumenterrasse, eine große Wiese, Heckengärten und eine Birkenallee. Vor den Fliederbüschen wurde der Fischotterbrunnen des Bildhauers August Gaul platziert. Straßenseitig befand sich der Vordergarten mit Gärtnerhäuschen, Blumen- und Gemüsegarten. Ein gerader Weg teilt die Beete vertikal. Im Garten fand der Maler Motive für rund 200 Gemälde. Bis zu seinem Lebensende 1935 gehörten Haus, Garten und die Familie in Wannsee zu den bevorzugten Sujets des deutschen Impressionisten.

Nach dem Tod Liebermanns wurde die Villa von seiner Frau Martha zunächst an einen ehemaligen Gärtner verpachtet. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde sie enteignet und 1940 zwangsverkauft, wobei die Erbin nichts von dem Geld erhielt. Zuerst wurden die Räume der Villa von der Reichspost benutzt, gegen Ende des Krieges als Lazarett und nach 1945 als Chirurgische Abteilung des Städtischen Krankenhauses Wannsee. Wo Liebermann einst malte, wurde nun operiert. Der Vordergarten musste kurzerhand einem Parkplatz weichen. Im Rahmen der Restitution wurde 1951 das Grundstück mit dem Haus an die in den USA lebende Tochter Käthe Riezler zurückgegeben, die einen Mietvertrag mit dem Krankenhaus abschloss. 1958 verkaufte deren Tochter Maria White das Haus an das Land Berlin. Nach dem Auszug des Krankenhauses 1969 stand die Villa zwei Jahre leer. Dann wurde das Grundstück an den Deutschen Unterwasser-Club verpachtet. Am Haus wurden bauliche Veränderungen vorgenommen. 1987 wurde der fragmentarisch erhaltene Garten in die Denkmalliste eingetragen und 1995 setzt e die im selben Jahr gegründete Max-Liebermann-Gesellschaft durch, dass das Haus unter Denkmalschutz gestellt wurde. Zur selben Zeit wurde der Pachtvertrag mit dem Tauchclub verlängert, was zu öffentlichen Protesten führte. 1997, zum 150. Geburtstag Max Liebermanns, beschloss auf Initiative der Max Liebermann-Gesellschaft der Berliner Senat, die Villa einer musealen Nutzung zuzuführen, vorausgesetzt, die öffentliche Hand würde dadurch nicht belastet. Fünf Jahre später bekamen die Taucher ein Ersatzgrundstück, und sie zogen aus. Die Gesellschaft begann im Sommer 2002 das Haus zu restaurieren und den Garten zu rekonstruieren. Obwohl sehr viel im Laufe der Jahre zerstört wurde, ist einiges an originaler Substanz erhalten geblieben: Stützmauern und Treppen, die Lindenreihe im Vorgarten, andere Bäume, sowie Reste der Hainbuchenhecken des Heckengartens.

Gartenbank, Oelbild
Die Gartenbank, 1916

Seit Ende April 2006 sind Haus und Garten für BesucherInnen zugänglich. Durch das Gärtnerhäuschen, in dem die Kassa und der Museumsshop untergebracht sind, in dem es Postkarten, Bücher bis zu einem Modell einer Gartenschere, die Liebermann benutzte, zu kaufen gibt, gelangen die BesucherInnen in den Vordergarten. Im Haus zeigt in der unteren Etage eine Dokumentation das Leben der Liebermanns und das Haus in historischen Fotografien und Grafiken. Dort ist auch Raum für Veranstaltungen. Weiters lädt das Museumscafé Max zum gemütlichen Verweilen.

 

Im Obergeschoss ist eine Ausstellung mit Gemälden, Pastellen und Grafiken von Max Liebermann zu besichtigen. Einige sind vor Ort entstanden, wie die Bilder von der Blumenterrasse, vom Staudengarten, Birkenhain, von den Heckengärten oder die Gartenbank unter der Kastanie. Dies ermöglicht den BesucherInnen, die Landschaft und die Gebäude direkt, sowie malerisch reproduziert zu betrachten und zu vergleichen – oftmals genügt nur ein Blick aus dem Fenster. Weiters sind Gemälde der Familie und Porträts bekannter Persönlichkeiten ausgestellt. Zentraler Raum ist das restaurierte Atelier des Malers mit wiederhergestellter tonnengewölbter Decke. Die angrenzenden ehemaligen Wohn- und Schlafräume sind mit Durchgängen miteinander verbunden. Neben dieser Dauerausstellung werden immer wieder thematische Sonderausstellungen zum Werk Liebermanns und seiner Zeitgenossen gezeigt.

Der rekonstruierte Garten gibt einen Eindruck von der Entstehungszeit wieder. Er wurde nach Bildern, Fotografien und Briefen, in denen Liebermann den Garten beschrieb und auch skizzierte, gestaltet. Auch finden sich dort selten gewordene Pflanzen wie die Tithonie. Damals wie heute werden nicht nur Blumen, sondern auch u. a. Kohl, Bohnen und Tomaten angepflanzt. Die bunten Gartenbilder Liebermanns geben sehr gut diese Farbenpracht der diversen Pflanzen wieder, was heutzutage wieder nachvollziehbar ist, sofern man nicht im Winter anreist. Vor dem Garten, der auf der Seeseite gelegen ist, befinden sich eine Terrasse und davor die oft von Liebermann gemalte Blumenterrasse mit im Rasen eingebetteten Schmuckbeeten. Liebermann saß auf einer Bank in einer Loggia zwischen zwei kannelierten Säulen, deren Wände er 1911 selbst bemalt hatte, und konnte auf das Wasser blicken. In den 20er Jahren ließ er das Wandgemälde übermalen. Durch die Restaurationsarbeiten wurde diese Ausmalung wiederentdeckt und aufwändig restauriert. Buchcover

Liebermann schlenderte auf einem hufeisenförmigen Weg um die Grünfläche. Auf der rechten Seite durchstreifte er das Birkenwäldchen. Wenn er den See entlang ging, gelangte er zu einem Teehaus. Es ist Ende der 50er Jahre abgerissen worden. Nur das Fundament der sechseckigen Holzkonstruktion ist noch erhalten. Am 1. September 2006 wurde der neue, von den ausführenden Firmen gestiftete Pavillon eröffnet; obwohlleicht versetzt, nähert er den Garten einen weiteren Schritt an Liebermanns Original. Auf dem Weg zurück zum Haus durchkreuzte der Maler drei Heckengärten, die von Hainbuchen umrahmt waren, von denen Originalreste erhalten sind. Durch den Rosengarten, den mittleren Heckengarten mit einem runden Blumenbeet in der Mitte und einen Lindenhain mit in Kastenform geschnittenen Kronen, die einen Baldachin bildeten, ging Liebermann zu der Gartenbank unter der Kastanie, auf der gerne saß und malte. Diese Bank wurde nach einem Gemälde rekonstruiert. Zur Deckung der Kosten von 980 Euro werden noch SponsorInnen gesucht. 

Haus und Garten von Max Liebermann konten nur durch die Hilfe von SponsorInnen rekonstruiert werden. Auch die Erhaltung des staatlich nicht geförderten Projekts ist von Spenden und Mitgliedschaften der Max-Liebermann-Gesellschaft Berlin E. V. abhängig. (Petra M. Springer)

Jenns Eric Howoldt, Uwe M. Schneede (Hg.): Im Garten von Max Liebermann. Ausstellungskatalog der Alten Nationalgalerie Berlin / Hamburger Kunsthalle, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 2. Auflage. 208 S., gebunden, € 30,80.

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"Leben? Oder Theater?"

Charlotte Salomon in der Innsbrucker Galerie im Taxispaalais

Die Galerie im Taxispalais in Innsbruck, geleitet von Silvia Eiblmayr, zeigt Arbeiten aus Charlotte Salomons Bilderzyklus „Leben? Oder Theater?“ Auf insgesamt 1325 Blättern zeichnete Salomon in dieser fiktionalen Autobiografie ihr Leben und das ihrer Familie. Salomon nannte ihn ein „Dreifarben Singespiel“, eine dramaturgisch aufgebaute Kombination von Malerei und Text, für den sie auch eine musikalische Begleitung vorsah. Dreifarben im Titel verweist auf Mischungen und Schattierungen der drei Grundfarben rot, blau und gelb. Die Wanderausstellung, die bereits in Ulm zu sehen war, wurde vom Joods Historisch Museum in Amsterdam zusammengestellt. In Innsbruck ist nun eine Auswahl von rund 280 Gouachen mit den dazugehörigen Texttafeln zu sehen.

Charlotte Salomon, 1917 in Berlin als Tochter des Chirurgen Albert Salomon geboren, schuf ihr Werk innerhalb von zwei Jahren: Zwischen 1940 und 1942 entstanden die Blätter im französischen Exil in Villefranche-sur-Mer, wohin sie, ihren Großeltern folgend, geflüchtet war. Etwa 800 der 1325 Blätter im Format 32,5x25 cm hat Salomon ausgewählt und nummeriert. Das Werk ist in seinem Aufbau einem Theaterstück vergleichbar und besteht aus Vorspiel, Hauptteil und Nachwort.

Malerei Salomon
Charlotte Salomon, Leben? Oder Theater?

Im Juni 1943 heiratete Salomon den österreichischen Emigranten Alexander Nagler, den sie nach ihrer Flucht kennen gelernt hatte. Nach der Besetzung Südfrankreichs durch deutsche Truppen 1943 wurden Charlotte Salomon und ihr Mann denunziert und verhaftet. Das Ehepaar wurde in das Sammellager Drancy bei Paris gebracht und von dort in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Charlotte Salomon, im fünften Monat schwanger, wurde vermutlich sofort nach ihrer Ankunft ermordet; ihr Ehemann starb an den Folgen der Zwangsarbeit. Salomons Werk wurde inzwischen in Frankreich versteckt. Albert und Paula Salomon, der Vater und die Stiefmutter der Malerin, hatten die Shoah in den Niederlanden überlebt und reisten 1947 nach Frankreich. Ottilie Moore, eine Amerikanerin, die Charlotte und ihre Großeltern aufgenommen hatte, übergab ihnen die Bilder sowie ein Selbstporträt. 1971 stifteten die Salomons das gesamte Werk dem Amsterdamer Joods Historisch Museum.

Die gemalte Geschichte behandelt die Geburt Salomons, erzählt vom Leben in Berlin, von ihrer Mutter, die sich das Leben nahm, und von ihrem Vater, der später die Sängerin Paula Lindberg heiratete. Salomon beschreibt politische Ereignisse wie die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, die zunehmenden antisemitischen Repressionen und schließlich ihre Flucht zu den Großeltern nach Südfrankreich. Wie im Comic versieht Salomon die Szenen mit Texten, entweder als eigenständige, unterhalb des Bildes dazugesetzte Texttafeln, oder sie schreibt sie direkt in das Bild hinein. Sie bedient sich bei ihrer Erzählform filmischer Mittel, wie der Rückblende und Montage, der Serialität, des Perspektivenwechsels oder der Großaufnahme.

Eine Filmreihe im April und Mai bereichert die Innsbrucker Schau: „Charlotte“ von Frans Weisz, ein Film, der auf der Lebensgeschichte Charlotte Salomons basiert, „Paula Paulinka“, in dem Christine Fischer-Defoy, Caroline Goldie und Daniela Schmidt die 96-jährige Paula Salomon-Lindberg, die Stiefmutter Charlotte Salomons, in Amsterdam besucht hatten und den Spuren der Lebensgeschichte der gefeierten Sängerin folgten, und „Die Liebe, mein Schatz ist bodenlos“ von Sabine Willmann, in dem Charlotte Salomons Bilderzyklus als Dokumentar-Spielfilm inszeniert wird. Nach der Eröffnung fand am 16. März eine Konferenz unter der Moderation der Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, unter Teilnahme zahlreicher international renommierter ExpertenInnen, statt. (Helene Maier)

Leben? Oder Theater? Charlotte Salomon in der Galerie im Taxispalais, Maria-Theresien-Straße 45, Innsbruck, 16. März – 3. Juni 2007. Di – So: 11 – 18, Do 11 – 20 Uhr.

Auf der Termin-Seite finden Sie weitere Ausstellungsberichte.

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Künstlerin, Mäzenin, Sammlerin

Boris Manner stelltin einem Bildband die Künstlerpersönlichkeit Broncia Koller vor.

Broncia Koller wurde 1863 als Bronislawa Pineles im galizischen Sanok am San geboren. Sie ist 1934 verstorben und wurde am Döblinger Friedhof begraben.

Holzschnitt

1870 übersiedelte die Familie nach Wien, der Metropole der Donaumonarchie. Ihren ersten Zeichenunterricht erhielt Koller vom Bildhauer Raab, der sie Kopien von Zeichnungen Holbeins und anderer Künster fertigen ließ. Nach dem Tod des Lehrers sprach sie bei Professor Leopold Carl Müller vor, der ihr Privatunterricht bei Alois Delug vermittelte. 1888 präsentierte sie bei der Internationalen Kunstausstellung in Wien erstmals ihre Werke. Durch die Anerkennung, die sie erhielt, bestärkt, ging sie nach München, das damals den Ruf einer Kunstmetropole hatte. Dort besuchte sie zwei Jahre lang die private Mal- und Zeichenschule Ludwig Herterichs. Nach Wien zurückgekehrt, richtete sie sich ein Atelier in der Wiener Piaristengasse ein. Die Malerin hatte Kontakte zur österreichischen Frauenbewegung und porträtierte auch die Frauenrechtlerin Julie Schlesinger. Auch mit Marie Lang und Rosa Mayreder war war die junge Künstlerin bekannt, obwohl sie sich selbst nie politisch für die Sache der Frauen engagierte. Lou Andreas-Salomé wurde zwei Mal von ihr gemalt.

Im Kreis der Wiener Brucknerianer lernte die Malerin den jungen Arzt und Physiker Hugo Koller kennen. Koller, ein Katholik, konvertierte, die beiden heirateten 1896, und sie bekamen zwei Kinder. 1898 übersiedelte die Familie nach Nürnberg. Dort setzte sich Broncia Koller mit grafischen Techniken auseinander. 1903 zog die Familie wieder zurück nach Wien und wohnte nun direkt neben dem Theater an der Wien. Weiters besaßen sie ein Landhaus in Oberwaltersdorf, das von Josef Hoffmann und der Wiener Werkstätte umgebaut wurde. Die Inneneinrichtung des Landhauses gestaltete Broncia Koller gemeinsam mit Kolo Moser. Dieses Haus wurde zu einem beliebten Treffpunkt für Künstler, Philosophen und Intellektuelle wie Franz von Zülow, Alma Mahler, Hermann Broch und Egon Schiele.

Broncia Koller war eine geistreiche Gastgeberin, Mäzenin und Sammlerin. Im Café Museum saß sie neben den Großen, neben Klimt, Moser, Wagner und Munch. Broncia Koller knüpfte Kontakte zu den Secessionisten und beteiligte sich mit der Klimt-Gruppe an den Kunstschauen 1908 und 1909. 1926 wurde sie von Albert Paris Gütersloh porträtiert.

Buchcover

Im Wiener Brandstätter Verlag ist ein Bildband erschienen, der die Künstlerpersönlichkeit wie auch die private Broncia Koller erstmals in einem größeren Umfang darstellt. Der Autor, Boris Manner, würdigt ihre Leistungen als Malerin und Grafikerin, mehr als 120 Abbildungen bestätigen das Urteil.

Boris Manner: Broncia Koller 1863–1934, Brandstätter, 2006. 272 S., ca. 170 Farb- und s/w-Abbildungen, € 39,90.

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Favoritner Erinnerungen an Gerhard Bronner

Von Wilhelm Bettelheim

Gerhard Bronner

Zu den sympathischsten Patienten meines Zahnarztvaters Dr. Wilhelm Bettelheim, in der Favoritner Laxenburgerstraße 32, gehörte Familie Bronner. Sie bestand aus dem Vater des Musikgenies, Jakob Bronner, Tapezierer aus Siprav in Galizien, seiner Frau Rosa aus Semetsbanya in Ungarn, sowie den Söhnen Robert und Gerhard. Jakob Bronner wurde 1885, Rosa Bronner 1887, Robert Bronner wurde 1912 und unser Gerhard 1922 geboren. Alle waren witzig, fortschrittlich und lebenslustig. Obwohl in den Jahren 1929 bis 1938 in Wien

Weltwirtschaftskrise herrschte, taten der Tapezierer und seine Frau Rosa, die Weißnäherin, alles für die Kinder und die Kultur. Robert war ein Aktivist der sozialistischen Partei, der sich oft mit meinen Geschwistern im Favoritner Arthaberpark zu charmanten Gesprächen traf. Vor seiner Verschickung nach Dachau verabschiedete er sich noch von meinen E1tern, ohne an seinen brutalen Tod in Riga im Jahre 1942 zu denken. Jakob und Rosa Bronner wurden 1942 in Minsk vergast.

Gerhard Bronner war schon als Kind sehr aufgeweckt und begabt. Er lernte mit sechs Jahren Klavierspielen, bis die armen Eltern das Instrument verkaufen mussten. Eine der nächsten Stationen des intellektuell frühreifen Buben aus der Senefeldergasse war Statist unter Michael Curtiz beim Monsterfilm „Sodom und Gomorrha“ am Laaerberg in Favoriten. Es handelte sich beim Laaerberg um ein Ausflugsgebiet der Favoritner der 30-er Jahre. Es folgte eine Lehre als Auslagendekorateur bei der später arisierten Firma Mohr und Weiß im zehnten Bezirk. Im Mai 1938 nahm Gerhard Bronner von seiner geliebten Mutter, der akuraten Wäschenäherin, Abschied für immer. Zu Fuß ging es über Brünn, Pressburg, Jugoslawien bis ins Donaudelta nach Constanza in Rumänien. Dort konnte Gerhard Platz auf dem berühmten Brichaschiff (zionistische Auswandererorganisation) „Draga“ finden. In zehn Tagen ging es nach Palästina, wo die Draga in Nethanya ankern konnte. Diese Reise wäre ohne Eingreifen der Haganah in Zypern nicht gelungen. Der Kapitän wollte nicht nach Palästina auslaufen. Ein unvergessliches Erlebnis für Bronner war ein griechischer Pope, der die Draga beim Auslaufen aus Kreta,wo gute Nahrung aufgenommen wurde, segnete. Ein Lichtblick in absoluter Finsternis des Gemütes. Auf der Reise starben hunderte Menschen an Seuchen und Entkräftung. In dieser Situation machte sich Bronners Hashomer Hatzairausbildung mehr als bezahlt. Er half auch unzähligen Bootsinsassen beim Verlassen des Armeseelendampfers. Diese Eindrücke sollten den geheimen Melancholiker und Ausnahmekünstler auf immer prägen. Da er Polnisch, Ungarisch, Tschechisch, Jiddisch und Hebräisch ausgezeichnet beherrschte, war sein Erfolg ein sehr, sehr großer. Als Musikoffizier der Royal Army bereiste er mit seiner Bigband Palästina, Ägypten, Libyen, Irak und den Persischen Golf.

Der Komponist des „Gschupften Ferdl“ und des „Rotweißkehlchens“ war bis zu seinem Tod, am 19. Jänner 2007, ein anspruchsvoller Schüler seines Idols Hermann Leopoldi. Schon in den 50er und 60er Jahren bereiste Bronner mehrmals die ganze Welt, bearbeitete und übersetzte Operetten und Musicals in Deutschland, England und den USA. Eine Krönung stellt sein Oratorium für vergaste behinderte jüdische Kinder dar. Bronner steht in einer Reihe mit seinen jüdischen Freunden und Vorbildern Harry James, Benny Goodman, Dinah Shore und Sheldon Harnick. Aber auch in der Nachfolge von Egon Friedell, Karl Farkas und Peter Herz. Der 19. Jänner 2007 befreite ihn von den ihm unverändert als schmerzlich empfundenen, Erinnerungen.

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„Österreich wird man nicht los,  auch wenn man Grönländisch schreibt.“

Eine Hommage an Jakov Lind von Silke Hassler

Im Jahr 1994 ging ich als Studentin der Vergleichenden Literaturwissenschaft nach London, um dort an meiner Diplomarbeit über Jakov Lind zu arbeiten. Mein wissenschaftlicher Betreuer gab mir einen guten Rat mit auf den Weg: Ich solle den Gegenstand meiner Betrachtung niemals persönlich begegnen, denn damit würde ich jegliche wissenschaftliche Objektivität einbüßen. Am Flughafen Heathrow angekommen, suchte ich sofort nach einem englischen roten Telefon, rief Jakov Lind an und fuhr direkt in seine Wohnung. Noch am selben Abend diskutierten wir – wie auch die folgenden Monate und Jahre – über Österreicher und Juden, fanatische Nazis und feige Mitläufer, über „das Dämonische und Miserable im Menschen“.

Jakov Lind
Jakov Lind † 2007

Jakov Lind sprach in den ersten Tagen nur Englisch, ich sprach ein österreichisches Deutsch mit einem starken Kärntner Akzent. Nach ein paar Tagen sprach er österreichisches Deutsch mit einer leichten Sprachfärbung der dreißiger Jahre, und ich sprach österreichisches Englisch mit Kärntner Einschlag. Er meinte, mein Kärntner Dialekt sei ihm sehr angenehm, denn er würde mitunter sehr jiddisch klingen. Am Ende kamen wir überein, uns auf „Denglish“ zu unterhalten, eine Mischung aus Englisch, Österreichisch, Kärntnerisch und Jiddisch.

Jakov Lind war, als er Anfang der sechziger Jahre mit seinem Erzählband „Eine Seele aus Holz“ die literarische Szene betrat, sowohl im deutschsprachigen als auch im englischsprachigen Raum – er lebte seit 1954 in London – eine literarische Sensation. Linds großes literarisches Thema war der Krieg, „sein Krieg, sein Überleben nach dem Überleben“, es war „ein Thema mit vielen Variationen.“ Für ihn war der Faschismus keineswegs ein singulär historisches, sondern ein allgemein menschliches Phänomen. Seine Methode, dies literarisch darzustellen, war die Übertreibung, die groteske Überzeichnung seiner Figuren, geschrieben in einem österreichisch-ausufernden Sprachduktus. Seine ersten drei auf deutsch verfassten Erzählbände und Romane, seine Theaterstücke und Hörspiele, unterschieden sich inhaltlich und ästhetisch vollkommen von der in den sechziger Jahren im deutschsprachigen Raum vorherrschenden künstlerischen Aufarbeitung dieses Themas: Weder kommen seine Werke einer dokumentarischen Herangehensweise nahe, noch verfolgen sie den entgegengesetzten literarischen Weg, den Schrecken durch die Entrückung, durch das literarische Experiment, zu bannen.

Die Euphorie der deutschen Literaturkritik wich – im Unterschied zur englischsprachigen, die Jakov Lind den ihm gebührenden Platz einräumte – nach und nach einem zunehmenden Unverständnis. Jakov Lind, der nicht in Deutschland oder Österreich lebte, „weil er nicht musste“, dem die tagespolitischen Entwicklungen „nur als Schauspiel etwas angingen“, und der immer betonte, „die Deutschen nicht als Jude, sondern als Österreicher gehasst zu haben“, ließ sich auch nicht in das gängige Schema von Opfer oder Ankläger einpassen. Die deutschsprachige literarische Welt ließ einen unbequemen Autor leichtfertig ein zweites Mal auswandern, dieses Mal in eine andere Sprache.

Jakov Lind wechselte aber nicht nur ins Englische, er wechselte auch in ein anderes Genre. „Counting my steps“ („Selbstporträt“) ist der erste Band seiner Autobiographie, der noch zwei weitere, „Numbers“ („Nahaufnahme“) und „Crossing“ („Im Gegenwind“), folgen sollten. In seinen Autobiographien beschreibt er die Stationen seines Lebens, seine Kindheit in Wien, die Zeit während des Krieges, die er in Holland und, mit gefälschten Papieren ausgestattet, in Deutschland verbringt, den fünfjährigen Aufenthalt in Palästina nach dem Krieg, die Rückkehr nach Wien und die endgültige Auswanderung nach London und später bis nach New York.

Als ich Jakov Lind Mitte der neunziger Jahre aufsuchte, war er weitestgehend aus dem deutschsprachigen literarischen Leben verschwunden, seine Bücher, die in vierzehn Sprachen übersetzt wurden, waren auf deutsch nicht mehr lieferbar. Mit Neuauflagen einiger seiner Bücher, mit der Aufführung eines seiner Theaterstücke am Wiener Volkstheater, wurde er in den letzten Jahren wiederentdeckt. Spät, aber doch. 

Hat Jakov Lind bei seiner literarischen Rückkehr nach Österreich seinen Frieden mit diesem Land gemacht? In einem unserer letzten Gespräche sagte er mir, nach sechzig Jahren sei es an der Zeit und außerdem sei er Optimist: Das Gegenteil kann ich mir nicht mehr leisten.

Am 16. Februar ist Jakov Lind kurz nach seinem achtzigsten Geburtstag in London gestorben.

Kleines Postskriptum: Der Betreuer meiner Diplomarbeit hatte vollkommen recht. Aus mir ist keine Wissenschaftlerin geworden, sondern eine Theaterautorin. Danke, Jakov Lind!

Silke Hassler schrieb (gemeinsam mit Peter Turrini, Musik: Roland Neuwirth) den Text zur Volksoperette „Jedem das Seine“, Uraufführung am 8. März am Klagenfurter Stadttheater. Ihr Theaterstück „Kleine Nachtmusik“ wird am 28. April im Landestheater Niederösterreich uraufgeführt. An der Neuen Bühne Villach wird im November 2007 ihr Stück "Qualifikationsspiel" (Inszenierung Werner Schneyder) aufgeführt.

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Letzte Änderung: 03.01.2012
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