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Alles vergessen?

Verdrängung im Gedenkjahr

Alexandra Bader (Chefredakteurin der Ceiberweiber) hat die Chefredakteurin der Neuen Illustrierten Welt, Joanna Nittenberg, in der TV-Sendiung "offen gesagt" vom 8. Mai gesehen und sich dazu ihre eigenen Gedanken gemacht.

Lesen Sie den Beginn:

Im Grunde brachte Rudolf Burger in "Offen gesagt" am 8.Mai 2005 (wo er herumschwafelnd viel mehr Redezeit hatte als die anderen DiskutantInnen) auf den Punkt, was viele so gerne hätten: In der europäischen Geschichte seien Kriegsgreuel immer vergessen worden, siehe Dreissigjähriger Krieg, damit die Menschen weiter miteinander leben können. Die jüdische Publizistin Joanna Nittenberg (Illustrierte Neue Welt) versuchte mehrmals, Burger mit dem Hinweis zu stoppen, dass der Holocaust ein einzigartiges Verbrechen sei, das nicht so einfach "vergessen" werden kann. Eitle "Vordenker" lassen sich aber durch nichts beirren und empfinden schon gar nicht einen Anflug von Betroffenheit, wenn sie einer Person gegenübersitzen, die zu jenen beinahe Ausgerottenen gehört, deren Schicksal wir "vergessen" sollen.

Burgers Art der Geschichtsbetrachtung ist aber erwünscht, ebenso wie "Aufarbeitung" gerne an SchülerInnen delegiert wird (wie auch in der Sendung selbst, wo eine 18jährige als Schlusswort sagen durfte "wir sollen verzeihen, aber nicht vergessen" - es ist wohl Entscheidung der Opfer, ob sie verzeihen wollen oder nicht und ihr gutes Recht, NICHT zu verzeihen!). Symptomatisch ist der Jubel über das Projekt "A Letter to the Stars" und die breite Unterstützung dafür. …

Den gesamten Kommentar finden Sie im Frauen Onlinemagazin Ceiberweiber.


Aus dem Inhalt der Ausgabe 4/5 2005


60 Jahre danach

von Joanna Nittenberg

Die diversen Jubiläen, die in diesem  Jahr so zahlreich begangen werden, lassen Jubelstimmung aufkommen. Die Geschichte der Zweiten Republik scheint von außen gesehen eine Erfolgsstory. 60 Jahre nach Kriegsende zählt  Österreich zu den reichsten Ländern der Welt – hat durch die Osterweiterung  stark profitiert und eigentlich könnte man zuversichtlich und optimistisch in die Zukunft blicken. Doch keine Zukunft ohne Vergangenheit und der Blick zurück sieht nun nicht ganz so rosig aus.

Vor 60 Jahren waren es vor allem die militärischen Maßnahmen der Alliierten, die die bestialische Naziherrschaft, die Europa  über 50 Millionen Tote kostete, beenden konnten Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges   haben die Alliierten und vor allem Amerika die richtigen Konsequenzen gezogen und beschlossen, das in Trümmer liegende Europa – sprich vor allem Deutschland und Österreich – wieder aufzubauen. Ohne den Marshallplan der Amerikaner gäbe es unseren  heutigen Wohlstand nicht. Wahrscheinlich wäre auch die Vereinigung  Europas nicht so schnell über die Bühne gegangen. Das ,Nie wieder Krieg‘ war es, das die ehemaligen Erzfeinde Frankreich und Deutschland näher rücken ließ. Heute blicken wir stolz auf Europa, doch der sich darin verbreitende Antiamerikanismus wirkt auf viele sehr bedrohlich, wird er doch meistens von sehr viel antisemitischen – die sich häufig in antizionistischen Klischees tarnen – Ressentiments begleitet. Antiamerikanismus kennzeichnet sowohl die europäische Linke als auch die extreme Rechte. Es ist erschreckend zu beobachten wie die Neonaziszene  in Deutschland immer mehr Anhänger findet.

Leider ist trotz anderweitigen offiziellen Beteuerungen der Antisemitismus und Rassismus auch in Österreich nicht zu übersehen, der sich in der oft einseitigen Betrachtung der Vergangenheit manifestiert. Die Theorie, Österreich als erstes Opfer zu sehen und sich vor allem auf die Kriegsschäden zu konzentrieren, – was im Zuge der Jubiläen verstärkt zu Tage tritt –lenkt von den ursprünglichen Ursachen  ab. Mit einer Selbstverständlichkeit wurden 1938 alle jüdischen Beamten,  Ärzte,  Rechtsanwälte und Angestellte gekündigt oder mit Berufsverbot bedacht, sowie alle Betriebe und  Geschäfte arisiert – ja sogar das Sitzen auf Bänken wurde verboten… Solch ein Raubzug soll unbemerkt von der Bevölkerung vor sich gegangen sein?

Da wundert es nicht, dass nach dem Krieg niemand zurückgeholt worden ist und eine Diskussion über die Rückgabe mit dem Vermerk „…schieben wir doch die Dinge auf die lange Bank“ kommentiert wurde. Auch heute scheint  vielen jede Forderung der Betroffenen oder ihrer Erben eine Zumutung. Aber nicht nur das Geraubte wurde legitimiert, auch die Mörder ließ man frei laufen, denke man nur an die vielen Freisprüche in den Geschworenenprozessen. Manchen gelang es auch hohe  Positionen im Medizin- und Justizbereich zu erlangen. Dass Naziopfer jahrzehntelang um eine Entschädigung kämpfen mussten, ist ein Aspekt dieser schwierigen Geschichtsbewältigung. Dass Täter ihre Zeit als Täter in die Pension eingerechnet bekommen, aber Deserteure, die unter Einsatz ihres Lebens tatsächlich ihre humanitäre Pflicht erfüllten, um die Anerkennung (und Pensions-Einrechnung) kämpfen müssen, ein anderer. Dass es nach wie vor Straßen und Plätze mit Namen von Nazisympathisanten gibt, noch ein weiterer. Die Liste ließe sich lange fortsetzen – es geht vor allem auch um Geisteshaltungen. Die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren Nazigrößen in diversen Gemeinden  immer noch Ehrenbürger waren und zahlreiche aktive Nazisympathisanten Ehrengräber haben, die von den Steuerzahlern finanziert werden, wirft ein zusätzliches Licht auf die Atmosphäre. Positiv ist dazu bemerken, dass nun  auch jüdischen Persönlichkeiten, die Wesentliches  für die Stadt Wien beigetragen haben – wie Arthur Schnitzler, Moritz Benedikt, Moritz Szeps, Otto Zuckerkandl und noch einige andere, nun ein Ehrengrab  erhalten, während  es anderen  aberkannt wird. Eine Aktion, die zu begrüßen ist – beweist  sie doch die Ansätze der Erkenntnis, dass eine gesicherte Zukunft nur durch aufgearbeitete Vergangenheit und nicht durch Verschweigen gewährleistet ist. Es wäre zu wünschen, wenn das Jubiläumsjahr 2005 dieses Motto in den Vordergrund stellt.

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Innenpolitische Zwänge gefährden den Friedensprozess

Sharon
Ariel Sharon

Beide Politiker, der israelische Premier Ariel Scharon sowie Palästinenserpräsident Machmud Abbas, scheinen nicht die Kraft zu haben, über den Schatten der hauseigenen Opposition zu springen und mit frischer Energie eine weitere Annäherung zu forcieren.

Auf israelischer Seite bestimmen zwei geschichtliche Erfahrungen die Parameter, aus denen sich die Taktik gegenüber den Palästinensern ergibt. Das eine Extrem symbolisiert der Oslo-Friedensprozess. Die israelische Lesart der Oslo-Misere ist eindeutig: hoffte man anfänglich, Palästinenserpräsident Yassir Arafat durch Zugeständnisse zur Zügelung der Extremisten zu bewegen, hatten alle Konzessionen letztendlich den gegenteiligen Effekt. Nicht die Pragmatiker wurden durch das geflissentliche Übersehen palästinensischer Vertragsbrüche gestärkt, sondern die Korruption und Befürworter der Gewalt. So habe die „weiche Hand“ letztendlich zur Intifada beigetragen. Die apokalyptischen Warnungen der Likud-Demonstranten der neunziger Jahre gegen die Bewaffnung der Sicherheitsdienste der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wurden in der zweiten Intifada zur bitteren Wahrheit: oft waren es gerade Polizisten der PA, die israelische Soldaten und Zivilisten mit ihren Dienstwaffen töteten.

Den Gegenpol dazu bildet die erste Amtszeit Abbas vor einem Jahr. Schon nach einer kurzen und unfruchtbaren Amtszeit wurde der Pragmatiker zum Rücktritt gezwungen. Obschon der allmächtige Arafat sicherlich seinen Beitrag zum Scheitern Abbas geleistet hatte, war auch Scharon an dessen Niedergang beteiligt. Abbas, seit dem Tod Arafats amtierender Präsident der PA, ist wegen seines entschiedenen Gewaltverzichts der Traumkandidat der gemäßigten Israelis, die sich von seiner Machtübernahme das Ende der Intifada erhoffen.

Wie der amtierende Stabschef Mosche Yaalon in einem internen Bericht der Armee bezeugte und Abbas in einem Interview bestätigte, machte Scharon gleich einen doppelten Fehler: zum einen wollte er Abbas offiziell stärken. So trafen Scharon und US-Präsident George W. Bush sich vor laufender Kamera mit Abbas und schüttelten ihm die Hand, während Arafat isoliert seinen belagerten Amtssitz in Rammallah hüten musste. Dass die medienwirksame Umarmung seitens der Todfeinde dem Palästinenser Abbas bei seiner eigenen Bevölkerung keine Pluspunkte einbrachte, hätte schon leicht im Vorhinein erkannt werden müssen. Trotz seiner „pro-israelischen“ Haltung kehrte Abbas jedoch letztlich mit leeren Händen heim. Die Unnachgiebigkeit Scharons gegenüber Abbas schwächte diesen im Kampf gegen die eigenen Extremisten. In der Bilanz konnte Abbas seinem Volk keine spürbaren Erfolge vorweisen. So schwand der anfängliche Zuspruch, dessen er sich erfreute, vor dem Hintergrund israelischer Repressalien rapide dahin.

Abbas
Machmud Abbas

Nun stehen Scharon und Abbas sich erneut gegenüber, doch scheinen beide von ihren Erfahrungen mehr gelähmt zu sein denn voller Wille, vergangene Fehler auszubügeln. Die Verhandlungen über die palästinensische Übernahme Jerichos, der bei weitem ruhigsten palästinensischen Stadt, wurden mehr als 10 Tage lang wegen Nichtigkeiten hinausgezögert: die Differenzen beschränkten sich auf das Verschieben einiger Betonblöcke, um die Fahrt von Fahrzeugen nach Rammallah zu erleichtern. Seit der Übergabe zweier Städte stecken die Verhandlungen fest, das wertvolle Momentum der von Abbas mühsam erzielten Waffenruhe geht verloren.

Beide Seiten sind durch die Einschränkungen ihres Gegenübers gebunden. Scharon steckt in einer taktischen Zwickmühle: zum einen will er den Wortbruch Abbas nicht ungeahndet lassen. Der hatte versprochen, alle von Israel gesuchten Aktivisten zu entwaffnen und sich für deren Gewaltverzicht verbürgt. Nichts dergleichen ist geschehen: die Bewaffneten pfeifen auf die Anweisung ihres Präsidenten und paradieren mit blitzenden Gewehren durch die Städte. So bleibt die Waffenruhe Geisel in den Händen dieser militanten wie kriminellen Elemente. Solange Abbas nicht entschieden gegen die Extremisten vorgeht, kann Scharon keine weiteren Zugeständnisse ihm gegenüber verantworten. Zum anderen darf Scharon Abbas nicht allzu sehr schwächen: jeder Tag ohne Fortschritt begünstigt die extremistische Hamas in den für den Sommer anstehenden Parlamentswahlen. Ein Wahlsieg der Islamisten könnte jeden Kompromiss unmöglich machen.

Andererseits sind Abbas durch Scharons Untätigkeit die Hände gebunden: auf Seiten der Palästinenser wächst die Kritik an Abbas. Er habe sich in seinem Kampf gegen die Korruption als unfähig erwiesen, heißt es zunehmend. Die scharfe Kritik findet sich in Leitartikel in der palästinensischen und freien arabischen Presse, die Abbas dazu auffordern, Reformen energisch voranzutreiben oder zurückzutreten. Doch dessen Vermögen, dies zu tun, ist fraglich: laut einem Bericht des israelischen Geheimdienstes werden viele von Abbas Anweisungen schlicht nicht ausgeführt. Abbas leide an Autoritätsmangel, heißt es. Er leide unter einem Mangel an Information, seine Berater sagten ihm oft nur einen Teil der Wahrheit, behaupten Quellen des Sicherheitsdienstes.

Im Vorfeld der für den Sommer angesetzten Parlamentswahlen herrscht unter den Palästinensern großer Unmut über die Korruption der Fatah und der PA. Dies bestärkt die Befürchtungen, dass gerade die Hamas von der Demokratisierung der PA profitieren wird. Bisher hat Abbas seiner Bevölkerung keine spürbare Besserung ihres Lebens bringen können, wie ein UN-Bericht festhielt, lebt inzwischen mehr als die Hälfte der Palästinenser unter der Armutsgrenze von rund 2 € täglich, die Arbeitslosigkeit steigt beständig. Solange Scharon ihm keine spürbaren Konzessionen macht, sondern im Gegenteil noch die Erweiterung der Jerusalemer Vorstadt Maale Adumim verkündet, fehlt es Abbas an interner Legitimation, eigene Kämpfer zu entwaffnen.

Wie die jüngsten gewaltsamen Zwischenfälle im Gazastreifen verdeutlichen, spielt die Zeit gegen die Pragmatiker. Jeder Tag bietet den Extremisten Gelegenheit, das Feuer aufs Neue zu schüren. Beide Seiten benötigen einen kraftvollen Anstoß von außen, um die internen Einschränkungen zu überwinden. Wie der internationale Friedensplan, die Road Map, festhält, kann nur die gleichzeitige Wahrnehmung der Verpflichtungen beider Seiten zu einem Fortschritt im Friedensprozess führen. Vor dem Hintergrund der jetzigen Pattsituation gewinnt der Ruf der israelischen Linken an Legitimation, die internationale Staatengemeinschaft aktiver in die Lösung des Nahostkonflikts einzubinden. Scharon und Abbas scheinen es nicht allein schaffen zu können.

Gil Yaron

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Vadimir Putin besucht Israel

Deutliche Anzeichen für eine Verbesserung der russisch-israelischen Beziehungen

Ende April fand der erste Staatsbesuch eines russischen Staatsoberhauptes in Israel statt und kurz danach wird Israels Staatspräsident in Moskau den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über Hitler-Deutschland beiwohnen. Das sind nur zwei von vielen Ereignissen, die eine gründliche Änderung in den russisch-israelischen Beziehungen unter Vladimir Putin kennzeichnen.

Der Antisemitismus im heutigen Russland ist nach wie vor lebendig, sorgt gelegentlich für skandalöse Schlagzeilen. Aber es handelt sich vorwiegend um den „alten Antisemitismus“, den von der Russisch-Orthodoxen Kirche seit Jahrhunderten genährten, religiös motivierten Judenhass und einen Antisemitismus von sozialem und ökonomischem Neid, der wenig mit dem „neuen“, gegen Israel gerichteten Antisemitismus zu tun hat. Antisemitische Abgeordnete der russischen Duma können einen Verbot jüdischer Organisationen initiieren, russische Glatzköpfe jüdische Gotteshäuser oder Friedhöfe mit Nazi-Parolen beschmieren, aber Chabads Oberrabbiner Lazar pflegt enge Beziehungen zum Kreml und Dutzende Chabad-Gemeinden wurden in allen Teilen Russlands aktiv.

Sogar von einer Rejudaisierung von Birobidschan ist neuerlich die Rede. Präsident Putin hat in den letzten Jahren – geradezu unbemerkt – die russische Haltung im Nahostkonflikt  grundlegend  reformiert. Zwar ist Russland nach wie vor ein Lieferant von Atomreaktoren an den Iran, oder Waffen an Syrien, gehört der russische Außenminister dem Quartett an, der die „Roadmap“ entwarf und interpretiert, aber Moskau lehnt es ab sich des zunehmend schrillen anti-israelischen Tones zu bedienen, der in großen Teilen Westeuropas als politisch korrekt gilt.

Während eines der Besuche des israelischen Ministerpräsidenten Scharon in Moskau betonte Putin vielmehr den Wunsch „Frieden und Sicherheit für die zahlreichen aus Russland und den GUS-Staaten stammenden Israelis” zu gewährleisten. Und auf dem Höhepunkt der Intifada, als Yassir Arafat an Russland um Hilfe gegen Scharons  Maßnahmen  zur Isolierung des Palästinenserführers in der Muqata von Ramallah appellierte, machte  Putin es ihm klar, dass „der Kampf gegen Terrorismus und Extremismus die derzeit wichtigste Aufgabe der Weltöffentlichkeit“ sei. „Die Sicht des Kreml war weit davon entfernt Arafat zu ermutigen“, kommentierte die „Iswestija“ damals.

Putin

Die russisch-israelischen Beziehungen sind gewiss nicht idyllisch. Israelische Bedenken und Besorgnis um Israels Sicherheit haben Putin nicht davon abgebracht mit Irans Mohammed Khatami ein 7 Milliarden Dollar-Waffengeschäft und das 800 Millionen Dollar-Abkommen über die Lieferung des Atomreaktors von Busher und 2000 Tonnen Uranium abzuschließen. Russische ökonomische Interessen bleiben vorrangig. Deshalb hatte Moskau auch Saddam Husseins Irak politisch unterstützt und wurde dafür im Rahmen des berüchtigten Oil-for-Food-Programmes großzügig belohnt.

Putin setzt auch die traditionell engen Beziehungen zu Damaskus fort, ist bereit das veraltete syrische Waffenarsenal aus der Sowjetära zu überholen und distanziert sich von dem massiven politischen Druck Washingtons auf das Regime Bashar Assads. Putins Haltung zu Israel ist nicht von Sentiments bestimmt, sondern von harten politischen Fakten. Die Politik Moskaus wird zum großen Teil vom Tschetschenien-Krieg beeinflusst, wie die Politik Frankreichs in der Vor-De-Gaulle-Ära vom Algerienkrieg bestimmt war. Als der einstige Leningrader KGB-Funktionär Putin zum sechsten Premierminister der Präsidentschaft Boris Jelzins aufstieg, schickte er prompt das russische Militär nach Tschetschenien, um die dortige islamische Rebellion zu liquidieren. Als Putin die Nachfolge Jelzins antrat und den Tschetschenien-Krieg intensivierte, wurde er von aller Welt kritisiert. Die Ausnahme bildete Israel. Der ehemalige sowjetische Dissident und nun israelische Minister Nathan Sharansky besuchte Moskau und sprach seine uneingeschränkte Unterstützung der Politik Putins  aus, keinerlei Verhandlungen mit Terroristen zu führen, sondern sie gnadenlos zu bekämpfen und zu besiegen. Die Parallele zwischen dem Konflikt Russlands mit den Tschetschenen und Israels Kampf mit den Palästinensern hat viel mit Putins gegenwärtiger Haltung zu Israel zu tun.

Ein Jahr nach dem Einmarsch der Russen in Tschetschenien waren die israelisch-palästinensischen Gespräche in Camp David gescheitert, brach die 2. Intifada aus. Arafat eilte im August 2000 nach Moskau, wo er von Putin zwar eine Erklärung zur Unterstützung des „palästinensischen Selbstbestimmungsrechts“ zu hören bekam, aber Außenminister Ivanow hatte es Arafat zugleich klar gemacht, dass  Moskau sich von dessen Absicht distanziert, einseitig die Gründung eines palästinensischen Staates zu proklamieren und Arafat nicht mit russischer Anerkennung seines „Staates“ rechnen dürfe.

Obwohl offiziell Mitglied des „Quartetts“, Russland engagiert sich wenig im Nahost-Konflikt, weil es jeden politischen Prozess meidet, den die Amerikaner dominieren. Die Russen blieben deshalb dem Gipfeltreffen von Scharm-el-Scheich im Oktober 2000 fern, machten aber klar, dass sie sich jeder Resolution des Sicherheitsrates über die Entsendung fremder Truppen nach Gaza und der Westbank widersetzen würden, solange Israel sie ablehnt. Dabei ging es den Russen weniger um Rücksichtnahme auf Jerusalems Wünsche, als um die Befürchtung, der Sicherheitsrat könnte dann auch internationale Beobachter nach Tschetschenien entsenden wollen.

Im Januar 2001 hatte Israels Staatspräsident Katzav Moskau besucht. Zusammen mit Putin betonten sie ihre totale Ablehnung „jeglicher Verhandlungen mit Terroristen“. Kurz danach fiel die Regierung Barak und Scharons Likud hatte die Macht in Israel übernommen. Westeuropa  startete so gut wie sofort eine laute verbale Offensive gegen Scharon und Israel.

Mit zwei wichtigen Staatschefs pflegte Scharon trotzdem freundschaftliche Beziehungen: George W. Bush und Vladimir Putin. Bush machte es von Anfang an klar, dass er nicht die aktive Rolle Clintons im Nahen Osten zu spielen gedenke und Putin betonte, dass es „keine grundsätzlichen Differenzen“ zwischen den USA und Russland in der Nahostfrage gebe und Moskau nicht versuchen werde Washingtons Rolle in diesem Konflikt zu übernehmen. Damit wurde Arafat die Wiederholung seines alten Tricks verpatzt, die Differenzen zwischen den beiden alten Rivalen aus der Zeit des Kalten Krieges zu nutzen.

Während eines Israelbesuches des Sprechers des russischen Oberhauses, Sergej Mironow, in Israel, im März 2002, stornierte er einen Besuch in Ramallah, um auf diese Weise gegen den palästinensischen Terror zu protestieren, den er mit jenem der tschetschenischen Rebellen verglichen hatte. Hanan Ashrawi erklärte  alsbald, die Palästinenser wären längst von den Russen enttäuscht, die immer mehr dem Beispiel Amerikas folgen.

Als der damalige israelische Außenminister Netanyahu im Dezember 2002 Moskau besuchte, wurde er dort viel freundlicher als in London und Paris empfangen. Im November 2003 besuchte Scharon wieder einmal Putin, den er als „echten Freund Israels“ bezeichnete. Putin kündigte seine Absicht an, in Moskau eine „der Tragödie des Holocaust“ gewidmete Dauerausstellung zu schaffen. Als die Russen im Januar 2004 beim Versuch scheiterten, die Palästinenser davon abzubringen, eine Resolution der UN-Vollversammlung zu initiieren, die den Internationalen Gerichtshof auffordert, die Legalität des israelischen Sicherheitszauns zu prüfen, enthielten sie sich – zusammen mit 73 anderen Staaten (einschließlich der EU) – der Stimme. Die Russen fürchteten wiederum einen Präzedenzfall – der IGH könnte etwa die Legalität der russischen Aktionen in Tschetschenien prüfen. Im April 2004, nach der Tötung des Hamas-Führers Ahmed Yassin, stellte der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des russischen Oberhauses, Michail Margelow, fest, die israelischen Sicherheitskräfte hätten lediglich „die Arbeit verrichtet, die die palästinensischen Sicherheitskräfte getan haben sollten – Terroristen zu liquidieren“.

Obwohl sich die russisch-israelischen Beziehungen erheblich verbessert haben, will Putin weder die traditionellen Beziehungen zur arabischen Welt schwächen, noch den Arabern zuliebe auf enge Beziehungen zu Israel verzichten, die derzeit eine Milliarde Dollar jährlich wert sind. Der Tschetschenien-Konflikt und die Terrorakte im Moskauer Theater (2002) und der Schule von Beslan (Sommer 2004)  trugen das ihrige bei. Dabei muss Putin aber auch die rund 14 Millionen Moslems in seinem Lande berücksichtigen, denen lediglich 230.000 Juden gegenüberstehen. Die Moralpredigten der westeuropäischen Gutmenschen, die selbst nach dem Terroranschlag von Beslan in erster Reihe auf die „Menschenrechte” der Tschetschenen bedacht blieben, gehen Putin ebenso auf die Nerven wie Scharon, wenn er aus Paris oder Brüssel nach Mordanschlägen in Jerusalem über die „Rechte“ der Palästinenser belehrt wurde.

Zeev Barth

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350 Jahre Juden in Amerika

Werden die nächsten Generationen Jüdische bleiben?

Wer in diesem Jubiläumsjahr die 350 Jahre jüdischer Präsenz in Amerika vor seinen Augen passieren lässt, kann nicht unbeeindruckt sein von dem vollbrachten Werk und der ununterbrochenen Erneuerung der jüdischen Präsenz. Prächtige Neubauten von Synagogen, Tagesschulen, Gemeindezentren und Seniorenheime sprechen ebenso eine deutliche Sprache wie die neuen Hillel-Studentenheime in den Universitäten, oder die Chabad-Synagogen und Bethäuser, die in jeder Stadt und jedem Bundesstaat den Bedürfnissen der orthodoxen Juden dienen. Das ausdrückliche Ziel der United Jewish Communities, der Dachorganisation lokaler jüdischer Föderationen, ist nichts weniger als „jüdische Renaissance und Erneuerung“.

In manchen Gemeinden, die von der rapiden kommunalen und regionalen Entwicklung profitierten, war in den letzten Jahren eine ausdrückliche Boom-Atmosphäre zu verzeichnen. Im letzten Jahrzehnt allein hat sich beispielsweise die Mitgliedschaft des Jewish Community Center von Atlanta, Georgia, auf 17.000 vermehrfacht, was einen Ausbau der Infrastruktur erforderte. Die Zahl der Synagogen wächst mancherorts schneller als die Fähigkeit der Gemeindefunktionäre, die Qualifikationen der neu angeheuerten Rabbiner zu prüfen.

In der Umgebung von San Francisco mussten in den letzten zwei Jahren mehrere neue jüdische Tagesschulen erbaut werden. Neue Gemeindezentren folgten. Das Geld dafür war in den Konjunkturjahren der 90-er reichlich vorhanden und die damalige Prosperität der sogenannten dot.com-Industrie hat sich auch auf die jüdische Philantropie ausgewirkt. Aber es war nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Geistes und des Unternehmertums. Während man sich zuvor vor allem auf die jüdische Erziehung der Kinder konzentrierte, ging es diesmal endlich auch um Erwachsenenbildung. Es gibt ausreichende Beweise dafür, dass gebildete Eltern für ihre Kinder eine höhere Qualität allgemeiner wie jüdischer Bildung anstreben, dass die in der Gemeindeführung aktiv werden und als positives Vorbild zu dienen trachten.

Was einst die ausschließliche Domäne der Vorbeter in der Synagoge war, der Rabbiner und Kantoren, wurde nun zum Teil des Gottesdienstes eines jeden durch Händeklatschen, Gesang, Musik oder Tanz aktiv mitwirkenden Synagogenbesuchers. Die Betenden lesen persönlich den Wochenabschnitt aus der Thora, der einst eher formale Gottesdienst wird zu einem spirituellen Erlebnis und gesellschaftlichem Ereignis.

Während die orthodoxen Gemeinden ihren traditionellen Formen und Beschränkungen treu blieben, haben sich die Konservativen und Reformgemeinden der neuen Zeit angepasst. Frauen sind in Führungspositionen in den Synagogen vorgedrungen, weibliche Rabbis übernehmen immer öfter die Seelsorge und kein Jude wird ausschließlich wegen seiner sexuellen Orientierung, kein nichtjüdischer Partner wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Trotz mancher Bedenken der Traditionalisten befindet sich der Geist der Inklusivität auf dem Vormarsch und alle Umfragen deuten darauf hin, dass die Mehrzahl der Juden dies lebhaft begrüßt und stolz auf ihr Judentum  ist.

All das kann die noch sehr undeutlichen Zeichen der Gefahr der Erosion jüdischen Lebens in Amerika nicht vertuschen. Der Antisemitismus in der Welt feiert ein besorgniserregendes Comeback und wenn er auch in den USA kaum zum Vorschein kommt, das Gefühl der Verletzbarkeit ist vorhanden.

Der Antisemitismus in der Fremde dient als Vorwand, die Problematik der Assimilation daheim zu verdrängen.

Vor Jahren hatte es kein jüdischer Funktionär, religiös oder säkular, je unterlassen von der Gefahr der Mischehen für die Zukunft des Judentums in Amerika zu reden. Und obwohl die Nationale Jüdische Bevölkerungsstudie von 2000 von einem  Mischehen-Anteil von 47 Prozent spricht, werden die Zahlen geflissentlich ignoriert. Angesichts der großen Anzahl von Mischehen betroffener jüdischer Familien – darunter auch der reichsten und einflussreichsten – unterlässt es die jüdische Führung, über die Konsequenzen für den Fortbestand künftiger jüdischer Generationen zu spekulieren.

Auch über die jüdischen Millionenspenden für verschiedenste universale  karitative Organisationen auf Kosten jüdischer Zwecke und Ziele zu sprechen, gilt als politisch unkorrekt. Jeder weiß, dass jüdische Philantropen unproportional großzügig sind, wenn es um die Unterstützung von Universitäten, Museen, Symphonieorchester und dergleichen geht, hingegen sparsamer mit den Geldern umgehen, die sie für jüdische Zwecke ausgeben. Die schrumpfende jüdische Bevölkerung wird es aber unter solchen Umständen schwierig finden, die rapid ansteigenden Kosten der jüdischen Tagesschulen, jüdischer Sommer-Camps, moderner Synagogen und mit allen Schikanen eines modernen Country Club ausgestatteten Gemeindecenter zu finanzieren. Und sie werden es auch immer schwieriger haben, qualifiziertes Personal für alle diese Einrichtungen zu finden, weil sie notgedrungen bescheidene Gehälter zahlen können.

Die Implikationen sind bedrückend. Jüdische Eltern, die ihr Leben lang darauf bedacht waren jüdisch engagiert zu bleiben, die ihre Kinder in jüdische Kindergärten, jüdische Tagesschulen und jüdische Sommer-Camps schicken, sie auf Besuchsreisen nach Israel mitnahmen, wissen nicht mehr, ob sie es riskieren können, ihre Kinder in die offene Gesellschaft einer amerikanischen Universität zu entlassen. Viele von ihnen beschließen, die Kinder zuerst für ein Jahr in eine Yeshiva oder Universität nach Israel zu schicken, quasi als eine Art präventive Maßnahme.

Bei aller Glorie  jüdischen Lebens in Amerika, der größten, freiesten und wohlhabendsten jüdischen Gemeinschaft auf Erden, ist es das Gefühl der Unsicherheit, der Verletzbarkeit, der Ungewissheit, das vielen Eltern schlaflose Nächte bereitet.

Karin Gil

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Gemeinsame Erziehung

Ein arabisch-israelisches Schulexperiment

Das Schulgebäude der „Yad bi Yad“ Schule im Arbeiterviertel Katamonim in Jerusalem mag von außen schäbig wirken, doch in dem kalten Betonbau wird eine hehre und herzerwärmende Idee zur Wirklichkeit. Wenn sich in der dritten Klasse die Kinder melden, kann niemand unterscheiden, wer Jude und wer Araber ist. Ganz gleich, ob die Frage in hebräisch oder arabisch gestellt wurde, die gleiche Anzahl kleiner Kinderfinger schnellt in die Luft, damit die Antwort des Schülers in der beliebigen Sprache über die eifrigen Lippen sprudeln darf. Die Wände sind mit arabischen und hebräischen Postern behangen, Mädchen und Jungen, Moslems Christen und Juden, pauken auf derselben Schulbank.

In kaum einem Staat grenzen sich Bevölkerungsgruppen so spürbar voneinander ab wie in Israel: Christliche und moslemische Araber, orthodoxe und säkulare Juden wohnen in eigenen Städten oder Wohnvierteln, sie arbeiten in verschiedenen Berufen, besuchen unterschiedliche Restaurants und Diskotheken. Jeder Sektor hat seine eigenen Kindergärten und Schulen und führt so zwangsweise dazu, dass sich die eigenen Kinder nicht mit den Kindern anderer treffen. Doch in „Yad bi Yad“, Hebräisch und Arabisch für „Hand in Hand“, versuchen wenige mutige Eltern und ihre Kinder, der Realität von Trennung und Entfremdung entgegenzuwirken, um eine neue Wirklichkeit des Verständnisses und des Zusammenlebens zu schaffen.

„Das Experiment begann vor sieben Jahren mit einem gemeinsamen Kindergarten“, erzählt Schuldirektor Ala Hatib. Im Jahr 2000 erhielt die Schule die offizielle Anerkennung des israelischen Erziehungsministeriums, seitdem wächst die Schule jedes Jahr um eine weitere Klasse. Die Idee ist ebenso einfach wie revolutionär für eine Region, die ethnische Unterschiede zum raison d’être erhoben hat: die Hälfte der Schüler soll Juden, die andere Hälfte Araber sein, Jungen wie Mädchen sind zur selben Anzahl in jeder Klasse anwesend. Alle Unterrichtsstunden werden gleichzeitig und gemeinsam von einem jüdischen und einem arabischen Lehrer in der jeweiligen Muttersprache erteilt. Über die Sprache soll so jeder die Kultur und die Religion des anderen schätzen lernen.

Der Zionismus ist ein wichtiger Teil in meinem Leben, erklärt der Israeli Giora Koretzki-Sabag, dessen zwei Kinder, Itamar (10) und Adi (9), hier zur Schule gehen. Israel ist ein jüdischer Staat und der Staat der Juden in meinen Augen. Trotzdem sollen meine Kinder lernen, dass es um sie herum auch andere Menschen gibt, die das gleiche Recht haben, hier zu leben“, so Sabag, „Toleranz muss vorgelebt werden. Hatem Matar, dessen Töchter Amal (9) und Malam (8) die Schule besuchen, nickt zustimmend: Als ich von der Idee gehört habe, habe ich nur darauf gewartet, meine Töchter hierher zu schicken. Es ist vielleicht eine Seifenblase, aber sie ist mit Hoffnung gefüllt.

Sabag erinnert sich noch gut daran, wie seine Familie entsetzt reagierte, als er und seine Frau ihren Entschluss bekannt machten. Viele hatten Angst davor, dass das hier ein Mischmasch wird und dass unsere Kinder ihre Identität verlieren werden. Aber es ist genau das Gegenteil geschehen: die eigene Identität kristallisiert sich noch viel deutlicher heraus. Zum einen setzen sich die Kinder mit dieser Frage viel intensiver auseinander, zum anderen haben sie ein Gegenstück, von dem sie sich differenzieren können, so Sabag. Toleranz reicht hier weit über die gesellschaftlichen Normen hinaus. So erklärt Matar, dass es ihn nicht stören wird, sollte seine Tochter eines Tages einen jüdischen Freund nach Hause bringen: Meiner Meinung nach sollte man sich da nicht einmischen.

Der gemeinsame Weg ist nicht leicht. Alle religiösen und säkularen Feiertage werden eingehalten. So lernen die Kinder, welcher Tag wem gehört, und was der Feiertag für den anderen bedeutet, so die stellvertretende Schulleiterin Daliah Peretz. Manche Feiertage sind jedoch heikel: der israelische Unabhängigkeitstag und der Gedenktag für die gefallenen israelischen Soldaten sind zentrale Bestandteile des jüdischen Lebens in Israel, die meisten Araber würden sie am liebsten ignorieren. Sie gedenken der Staatsgründung mit dem Tag der „Nakba“ (Katastrophe), der an die Vertreibung der Palästinenser erinnern soll. An diesen Tagen trennen sich die Klassenkameraden: Juden nehmen an obligatorischen Gedenkfeiern teil, Araber haben Unterricht.

Die Eltern sind sehr im Schulleben involviert, und machen so selber auch einen Lernprozess durch. Am Anfang gab es zwischen den Eltern große Streitereien darüber, wie diese Feiertage aussehen sollen. Jede Seite wollte, dass ihre Ansicht besonders hervorgehoben wird. Aber das haben wir hinter uns gebracht, sagt Sabag lächelnd. Die Ecken sind heute schon viel runder als früher. Matar erklärt: Jedes Kind darf wählen, wo es sein will. Man darf nur die anderen nicht verletzen. Durch die Kinder haben sich auch neue Freundschaften zwischen jüdischen und arabischen Eltern gebildet. Es sind sehr intensive Beziehungen entstanden. Wir organisieren gemeinsame Ausflüge und treffen uns auch oft ohne die Kinder, erklärt Sabag.

Die Schule hat schwere Zeiten überlebt, einen Monat nach der Eröffnung im September 2000 brach die Intifada aus. Wir haben uns gefragt, ob das alles hier nicht auseinander brechen wird. Dass wir heute noch bestehen ist Beweis dafür, dass die Idee stärker ist als der Hass und die Angst, so Sabag. Die Zustimmung wächst beständig. Einmal hatten wir einen „Tag der offenen Tür“ an einem Tag, an dem morgens ein Bus in die Luft gejagt wurde. Anfangs dachte ich: niemand wird kommen. Aber wir waren überfüllt, so Matar. Die Schule wächst beständig, war vor fünf Jahren nur von einer Klasse mit 25 Schülern die Rede, besuchen heute schon 350 Kinder „Yad bi Yad“, die Warteliste für Neuankömmlinge ist lang. Für eine Schulgebühr von rund 1000 e im Jahr erhalten die Kinder eine überdurchschnittlich intensive Erziehung: nicht nur zwei Sprachen werden gelehrt, die Klassen sind im Vergleich zum israelischen Durchschnitt kleiner, Kinder haben im Gegensatz zu öffentlichen Schulen einen langen Schultag.

Mit viel Energie treiben die Initiatoren von „Yad bi Yad“ ihre Idee voran: zwei weitere Schulen sind nach demselben Modell in Israel gegründet worden, in naher Zukunft soll die Stadt Jerusalem der Schule ein neues und größeres Gebäude zur Verfügung stellen, so Hatib. Im Kindergarten und in den Schulklassen scheint sich der Traum der Eltern zu verwirklichen: jüdische und arabische Kinder sitzen nebeneinander, sie spielen miteinander in hebräisch und arabisch, laden einander gegenseitig nach Hause ein. Arabisch ist die Geheimsprache meiner Kinder zu Hause geworden, erklärt Sabag. Doch die Vision ist ambitiöser: Ich wünsche mir, dass eines Tages die getrennten Schulen in Israel die Sonderschulen sein werden. Michael.

Ben Dan

Eine Ergänzung des Artikels durch die Jerusalem Foundation:

Die Jerusalem Foundation baut das neue Zentrum für jüdisch-arabische Erziehung. Zur Zeit ist die Hand in Hand Schule als Untermieterin in einem Gebäude untergebracht, das sie mit einer anderen Erziehungseinrichtung teilt.

Für eine Erweiterung fehlt der Platz. Die Jerusalemer Stadtverwaltung stellt für den Neubau das Grundstück zur Verfügung und ist am Betrieb der Schule beteiligt.

Bisher erhielt die Jerusalem Foundation für den Bau des Schulzentrums großzügige Beiträge aus Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein und England.

Zwar werden für die Sporthalle noch Zuwendungen benötigt, doch ist der Baubeginn des neuen Schulkomplexes für die zweite Hälfte des Jahres 2005 vorgesehen und soll bis Anfang

2007 abgeschlossen sein. Zudem beruht die jüdisch-arabische Erziehung an der Hand in Hand Schule auf der absoluten Gleichwertigkeit der betreffenden Kulturen und der beiden Sprachen. Das bezieht sich auch auf das Lehrpersonal, und daher gibt es auch zwei gleichberechtigte Direktoren: Frau Daliah Peretz ist die jüdische Schuldirektorin, und Herr Ala Khatib ist der arabische Direktor der Schule.

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Das neue Museum in Yad Vashem

Aussschnitte aus der Rede von Staatssekretär Franz Morak anlässlich der Eröffnung nach Renovierung und Ausbau

Museum innen

 

Solch ein Aufgebot politischer Prominenz hat seit dem Begräbnis von Yitzhak Rabin vor ungefähr zehn Jahren  Israel  nicht gesehen. Angeführt von Kofi Annan, dem Generalsekretär, kamen  hochrangige Vertreter aus mehr als dreißig Staaten nach Jerusalem, um an der Eröffnung des renovierten und ausgebauten Museums Yad Vashem teilzunehmen.

Außerdem nahmen Shoah-Überlebende und „Gerechte der Völker“ sowie Freunde des Yad Vashem an der ergreifenden Zeremonie teil. Das neue Museum ist ein authentischer Aufschrei derjenigen, die ihre Geschichte erzählen, meint Avner Shalev.

Jahrelang haben wir versucht die Geschichte der Opfer darzustellen. Bruchstücke sind das einzige, was von den Menschen übrig geblieben ist.

Israels Präsident  Moshe Katzav sprach von der Verpflichtung des jüdischen Volkes, das Gedenken an die Shoah weiterzugeben um zu verhindern, dass so etwas Grauenvolles nochmals geschehen könnte. Katzav appelliert auch an die EU, wirksamere Maßnahmen gegenüber dem erwachenden Nazismus und wachsenden Antisemitismus zu setzten. Europa schulde es sich selbst, dass die menschlichen Ideale gewahrt werden.

Kofi Annan versicherte, dass der Holocaust einen einzigartigen Platz in der Geschichte der UN einnehme, denn die Vereinten Nationen seien aus der Asche der Shoah entstanden.

Nebenstehend bringen wir Ausschnitte aus der Rede, die Staatssekretär  Franz Morak bei einer Sondersitzung „Remembering the Past“ in Yad  Vashem gehalten hat.

Ich möchte den Verantwortlichen von Yad Vashem namens und in Vertretung des österreichischen Bundespräsidenten Dr. Heinz Fischer den Dank und die Anerkennung dafür aussprechen, mit welcher eindrucksvollen Präzision und mit welchem didaktischen Weitblick es gelungen ist, mit dem neuen Museum eine einmalige Dokumentation der Shoah und der Wurzeln, die zu ihr führten, zu gestalten. Als Österreicher fühle ich mich durch die Ausstellung in mehrfacher Weise angesprochen. Was unmittelbar nach dem Ende der staatlichen Existenz Österreichs im März 1938 in meiner Heimat geschah, hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Präzedenzfall gehabt. In Wien und anderen österreichischen Städten setzte ein spontanes Pogrom gegen die jüdischen Mitbürger ein. In seiner Autobiografie hat es der Schriftsteller Carl Zuckmayr eindrucksvoll beschrieben: „Hier war nichts losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und der Hass richtete sich gegen alles durch Natur oder Geist Veredelte. Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlichen Würde.“

Mit diesen Ereignissen im März 1938 begann die tragische Verwicklung vieler Österreicher in die Shoah. Für rund 70.000 jüdische Mitbürger führte sie in die Gaskammern von Auschwitz, Sobibor, Madjanek oder Treblinka. Zahlreiche Österreicher luden als Schergen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie maßgebliche Verantwortung und Schuld an diesem größten Verbrechen der Menschheit auf sich.

Österreich hat lange gebraucht, um sich einzugestehen, dass es nicht bloß Opfer der nationalsozialistischen Aggression war, sondern dass auch Österreicher unter den Tätern waren und viele den Nationalsozialismus aktiv unterstützt oder zumindest gebilligt haben.

Es gab aber auch Österreicher, die unter Einsatz ihres Lebens den Geist der Humanität hochhielten und sich ohne Ansehen ihrer Person für ihre verfolgten Mitbürger einsetzten. Es waren – um einen Buchtitel Erika Weinzierls zu zitieren – „Zu wenig Gerechte“, die ihrem Gewissen folgten. Ich möchte Yad Vashem aber dafür danken, dass es auch den Anteil jener, die sich für die Würde der menschlichen Existenz und des menschlichen Lebens eingesetzt haben, zu würdigen gewusst hat.

Als ich vor einigen Jahren das erste Mal die Gelegenheit hatte, die Gedenkstätte Yad Vashem zu besuchen, wurde ich am Ende des Rundgangs durch das Areal eingeladen, meine Empfindungen in das Gästebuch einzutragen: „Memory is our fortune, our only fortune.“ Dieser Satz Elie Wiesels schien mir am besten das auf den Punkt zu bringen, was Yad Vashem für die Staaten dieser Welt im 21. Jahrhundert verkörpert: Ein Gedächtnisort, der uns an die tiefsten Abgründe dessen erinnert, wozu die Perversion menschlichen Denkens in der Lage war.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Eröffnung des heutigen Museums wird von meinem Land auch als Auftrag verstanden, das Vermächtnis der Shoah von Generation zu Generation weiterzureichen. Ihr kommt gerade in gemeinsamen Aktivitäten im Bereich der Erziehung eine besondere Bedeutung zu. Die Erziehung reicht in jede Schule und in jedes Heim. Daher werde ich mich dafür einsetzen, dass die Kooperation, die zweimal jährlich österreichische Pädagogen und Lehrer nach Yad Vashem führt und sich in den vergangenen Jahren bewährt hat, fortgeführt und intensiviert wird. Auch die Zusammenarbeit mit dem Nationalfonds der Republik Österreich möchte ich in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen. Schließlich sei auch jenen Österreichern gedankt, die von privater Seite in den letzten Jahren bedeutende Beiträge für die Gedenkstätte Yad Vashem geleistet haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, am heutigen Tag wird uns in Yad Vashem vor Augen geführt, was wir verloren haben und was zerstört wurde. Yad Vashem ist aber auch eine Mahnung dafür, was wir tun müssen, um eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft zu schaffen.

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In memoriam Doron Grossman s. A.

D. Grossman

Am  4. April 2005 wurde Doron Grossman, einer der begabtesten, jungen Diplomaten Israels, auf dem Berg der Ruhe – Har Hamenuchot – in Jerusalem zu seiner ewigen Ruhe gebracht. Noch nicht einmal 49 Jahre alt,  zählte Doron schon zu der ersten Reihe der Botschafter, die den Staat Israel mit Würde und Auszeichnung vertreten konnten. Bevor er seinen dritten Botschafterposten, nach Senegal und Äthiopien, in Pretoria, Südafrika, antreten konnte, ist er einem anscheinend unheilbaren Darmkrebs erlegen. Kurz vor seinem geplanten Abflug von Addis Abeba nach Tel Aviv, wo die besten Fachärzte ihn erwarteten, um dringende Heilungsversuche zu beginnen, hat Doron sich selbst das Leben genommen, damit die lange Qual von schmerzvollen Behandlungen ihm, seiner nächsten Familie und seinen engsten Freunden und Kollegen erspart bleibt.

Doron begann seine ausgezeichnete diplomatische Karriere vor 14 Jahren in Wien, wo er unter drei Botschaftern als erster Botschaftsrat und dann Gesandter die wichtigen politischen Kontakte hegte und auch umfangreiche Verbindungen und Projekte im Presse- und Kulturleben Österreichs schaffen konnte. Mit seiner außergewöhnlich menschlichen und unaufdringlichen Art und Weise, die vollkommen uncharakteristisch für einen in Israel geborenen „Sabre“ war, konnte Doron sehr bald die Freundschaft und Anerkennung vieler ausschlaggebenden Menschen  im politischen, intellektuellen und kulturellen Wien gewinnen. Seine Vorliebe für klassische Musik und Oper war Legende und seine überzeugenden intellektuellen Darstellungen und Analysen konnten öfters Verständnis für Israels komplizierte Problematik, auch in den schwierigsten politischen Umständen, finden.

Es war fast selbstverständlich, dass Doron einen aktiven Anteil in der Vorbereitung und Durchführung der umfangreichen Veranstaltungen anlässlich des 100. Jubiläums der „Illustrierten Neuen Welt“ hatte.

Mit dem Antritt seines ersten Botschafterpostens in Dakar, als einer der jüngsten Botschafter Israels, entwickelte sich sehr bald Dorons Interesse und Liebe für Afrika und seine Menschen. Dorons gewissenhafte Gründlichkeit und intellektuelle Neugierde sorgten immer dafür, dass er in jedem Gebiet seiner weitgehenden Tätigkeit sehr bald zu einem der bestinformierten Menschen zählen konnte.

Am letzten Tag seines Lebens hielt Doron in Addis  fast ununterbrochen Sitzungen mit Vertretern der Jewish Agency und des Joint, um das Schicksal der über 20.000 Mitgliedern der Falasch-Mura-Gemeinde Äthiopiens zu erleichtern und ihren Weg nach Israel zu beschleunigen. Keiner der Teilnehmer an diesen Sitzungen, die auch gute Freunde von Doron waren, konnte ahnen, wie fortgeschritten sein Leiden schon war. Wie immer behielt er seine persönlichen Probleme und Fragen nur für sich. Dorons langjährige Lebensgefährtin, Margrit-Margalit Bertrand, war der einzige Mensch, dem er die Geheimnisse seines Leidens und seiner anscheinend unheilbaren Krankheit anvertraute. Er ist von seinem 81-jährigen Vater Zeev und seiner jüngeren Schwester Vered überlebt worden.

Mit Dorons so frühzeitigem Tod ist eine brillante diplomatische Karriere zu einem tragischen Ende gekommen und zahlreiche Freunde in vielen Ländern haben einen besonders nahestehenden und einzigartigen Mensch verloren.

Ari Rath

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Wer Aktien prügelt, meint oft "die Juden"

Die Geschichte der Wiener Börse

Von den 320 Milliarden Euro Geldvermögen der Österreicher entfällt vergleichsweise ein geringer Teil auf Aktien. Die Oesterreichische Nationalbank führt diese Wertpapierskepsis auf „ein anhaltendes Sicherheitsdenken der Österreicher zurück“. Im selben Atemzug relativiert die Notenbank diesen sparpsychologischen Befund, indem sie darauf hinweisen, dass in Österreich die im Vergleich zum Euro signifikant riskanteren momentan „billigeren“ Fremdwährungskredite, vor allem in Schweizer Franken, sehr beliebt sind. Milliarden, die in Lotto, Toto, TV-Telefonglückspiele, Rubellose, im Casino und in Wettcafés und so weiter und so fort verspielt werden, sind eher auch ein Ausdruck für den Mut zum Risiko.

Die bescheiden Aktienkultur in Österreich hat jedenfalls neben der Risikoversion viele andere Väter, wie Dr. Johann Schmit in seinem Buch „Die Geschichte der Wiener Börse“. Warum es Aktien in Wien schon immer schwer hatten.

Zum einen wurde die Wiener Börse am 2. September 1771 keinesfalls als Risikomarkt für Unternehmensbeteiligungen, sondern ausschließlich zur Finanzierung des Staatshaushaltes gegründet. Aktieneinführungen und Anteilshandel wurden von Anfang an als unerwünscht ausgebremst. Die Monarchie kannte für die Finanzierung ihrer chronischen Defizite nur zwei Wege: In den Friedensjahren – mit relativ niedrigen Fehlbeträgen – wurde der Kapitalmarkt für Anleiheemissionen in Anspruch genommen, in den Kriegs- und Revolutionsjahren der Schuldenberg via Notenpresse in die Höhe getrieben. Für die Bedienung dieser „schwebenden Schulden“ mussten dann zusätzliche Anleihevolumen herhalten. In dieser Finanzierungslandschaft blieben die Felder für Risikokapital sehr klein.

Die einzigen Liquiditätsstützen des öffentlichen Haushaltes waren die Privatbanken, vor allem die „Hoffaktoren“, wie die „Hofjuden“ des Barockzeitalter jetzt respektvoll genannt wurden.

Zum anderen ist Österreich ein katholisches Land. Das katholische Glaubensbekenntnis und ein Nahverhältnis zum Hof waren in der Monarchie eine unabdingbare Vorbedingung für Unternehmer, die Manufakturen übernehmen wollten. Die gestalterische Macht des Glaubensdreiecks Katholiken, Calvinisten und Juden darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden. Auf der einen Seite die bestimmenden Katholiken, die brav die diesseitige Kargheit für das jenseitige Glück in Kauf nahmen. Auf der anderen Seite die fleißigen Calvinisten, die alles daran setzen, gottgewollt mit irdischem Wohlstand den Weg ins Paradies zu ebnen und schließlich das Feindbild „Börsenjude“ – wahrlich kein Nährboden für einen prosperierenden Aktienhandel.

Symbolbild Boerse

Der „Börsenkrach“ von 1873 tat sein Übriges. Niemals zuvor oder danach boomte der Hochliberalismus so extrem wie in den „sieben fetten Jahren“ von 1867 bis 1873. Das Gründungsfieber, eingebettet in einem ungeregelten Freihandel, einer unabhängigen Landwirtschaft, einem freien Gewerbe sowie der Freiheit des Arbeitsmarktes ließ das Börsegeschäft im wahrsten Sinne des Wortes explodieren.

Dieser Wirtschaftsliberalismus wurde nach dem „Schwarzen Freitag“, dem Wiener Börsekrach vom 9. Mai 1873, von einem aktienfeindlichen „gebundenen Wirtschaftssystem“ abgelöst. Schutzzölle, Kartelle griffen in die Speichen der freien Marktwirtschaft. Aktiengesellschaften wurden steuerlich krass benachteiligt. Die Gewerbetreibenden und die Sozialdemokratie stemmten sich gegen das Großkapital. Die Banken konzentrierten sich auf ihr business as usual und mieden den riskanten Wertpapierhandel.

Nicht nur in dieser Zeit spielte der Antisemitismus eine ganz traurige Rolle. So wurde die „Börse als Ort des jüdischen Kapitals“ gegeißelt. Durch die Börse, so der christlich-soziale Kampfruf, „werden viele Kapitalien absorbiert – oder rennen sich fest – die sonst der Industrie und anderen Wirtschaftszweigen zugewendet worden wären…“, so der Gründer der deutschen Arbeiterbewegung Ferdinand Lassalle; mit dem Nachschlag aus dem nationalen Lager „… die Kapitalien an der Börse sind zu neun Zehntel in jüdischem Besitz“.

Die Hasstiraden des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger verstiegen sich in Forderungen, wie „den Börsianern das Wahlrecht zu entwenden“ und in Beschuldigungen „die Besteuerung der Börsegeschäfte sei nicht anderes als etwas von dem Raub zurück zu verlangen, das (sic!) sich die Spielhölle Börse vorher vom Volkseigentum geholt hatte“. Zwischenrufe im Wiener Landtag, wie „hängt 300 Börsejuden und ihr werdet sehen wie morgen die Brotpreise fallen,“ waren keine Seltenheit.

In der Zwischenkriegszeit musste der Markt für Beteiligungskapital einige schwere Schläge einstecken. Die gescheiterte (weiche) Krone/(harte) Franc-Spekulation, die darauf folgenden Bankenschließungen, die Hyperinflation, der New Yorker „Schwarze Freitag“ vom 25. Oktober 1929, die Wiener Creditanstalt-Krise und schließlich der Zusammenbruch der größten Versicherung Österreichs, der Phönix, waren die größten Feinde eines intensiven Wiener Börsehandels der Zwischenkriegszeit.

Das Österreich der Nachkriegszeit war sich vielfach seiner Geborgenheit in einem ziemlich stabilen eingezäunten Wirtschaftsraum innerhalb der Festung Europas gar nicht so bewusst. Der Beamtenstaat hatte eine jahrhundertelange Tradition. Die höchste Verstaatlichtenquote der freien Welt war daher nicht so etwas Ungewöhnliches. Über hundert Kreditförderungsaktionen, attraktive steuerliche Förderungen für die Tugend eines Anleihekaufes, massive steuerliche Begünstigungen für die Innenfinanzierung der Betriebe waren die unumstrittenen tragenden Säulen der aktiven Nachkriegs-Wirtschaftpolitik. Das alles ließ aber wenig Raum für die Aktie.

Erst in den letzten Jahren gelang es der Wiener Börse, dank einer Reihe von eigenkapitalfördernder Maßnahmen bezüglich Börsekapitalisierung, Handelsvolumen und vor allem Kursperformance, wieder internationales Aufsehen zu erregen.

David Landtmann

Dr. Johann Schmit: Die Geschichte der Wiener Börse. Ein Vierteljahrtausend Wertpapierhandel. Bibliophile Edition, 2003, 240 S., zahlreiche Abb. Euro 31,90.

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Das Gedächtnis der Haut

Christian Buckard sprach mit David Grossman

david grossman

Israelische Schriftsteller haben es nicht leicht: Wann immer sie ihr neues Werk vor einem ausländischen Publikum vorstellen möchten, werden sie, ganz gleich was das Thema ihres Buchs ist, mit Fragen zur Situation in Israel konfrontiert. Keinen Autoren anderer Länder  dürfte dies mit einer derart entnervenden Regelmäßigkeit geschehen. Und keine Autoren anderer Länder werden ständig für die Handlungsweisen ihrer Regierung verantwortlich gemacht, egal ob sie deren Politik unterstützen oder nicht.

Als ich mit David Grossman über sein neues Buch „Das Gedächtnis der Haut“ spreche, fühle auch ich mich genötigt, ihn zunächst  über die politische Situation im Lande zu befragen. Schließlich, so rechtfertige ich mein Vorgehen vor mir selbst, gehört der 50-jährige David Grossman  zu den bekanntesten engagierten Intellektuellen Israels.

INW: Herr Grossman, sind die Chancen auf eine israelisch-palästinensische Verständigung mit Arafats Tod größer oder geringer geworden?

DG: Das ist sehr schwer vorherzusagen. Ich persönlich gehe davon aus, dass es erst einmal keine Stabilität  innerhalb der palästinensischen Autonomiebehörde geben wird. Und wenn es schließlich einen palästinensischen Präsidenten geben wird, so ist zu befürchten, dass er seinen Leuten erst einmal beweisen muss, dass er mehr Arafat ist, als Arafat selbst es war. Und dies wird den Dialog mit Israel noch komplizierter gestalten.

INW: Glauben Sie, dass die palästinensische Bevölkerung überhaupt emotional bereit dazu ist, die Existenz eines jüdischen Staates neben einem palästinensischen zu akzeptieren?

DG: Es fällt allerdings schwer, dies zu glauben.  Ich erwarte ja gar nicht, dass die Palästinenser  uns lieben werden. Liebe gibt es zwischen Menschen, nicht zwischen Nationen. Aber die Zeit wird kommen, vielleicht dauert es gar nicht mehr so lange, da die Mehrheit der Palästinenser die Existenz eines jüdischen Staats akzeptieren wird. Bei uns hat es auch einige Zeit gedauert, bis wir akzeptiert haben, dass die Palästinenser ein Volk sind. Selbst der Dickkopf Scharon hat das inzwischen akzeptiert. Die Palästinenser können von einem Frieden nur profitieren. Ihre Gesellschaft ist völlig ruiniert, liegt am Boden, zwei oder drei Generationen sind in einem Klima der Gewalt aufgewachsen. Und wenn man mit der Gewalt lebt, dann korrumpiert das. Auch wenn es um eine im Grunde gerechte Sache geht.

INW:  Das führt mich zu meiner nächsten Frage. Inwieweit beeinflusst das Klima der Gewalt, die tägliche Angst vor dem Terror, das Privatleben der Israelis?

DG: Der Staat Israel existiert seit 57 Jahren. Und es ist ein Wunder, was wir in dieser Zeit alles erreicht haben. Doch seit 1967, seit dem Beginn der Besatzung, kann man spüren, dass etwas furchtbar falsch gelaufen ist.

INW: Was bedeutet dies genau?

DG: Wir leben in einem Klima der Gewalt. Sie ist in unsere inneren Organe eingedrungen. Wir sind viel gewalttätiger als früher und zwar in jeder Beziehung: In der Art wie wir Auto fahren, miteinander reden, unsere Kinder erziehen. Man kann das nicht trennen, wie man sich jahrelang dem Gegner gegenüber verhält und wie man sich zu Hause benimmt. Die Gewalt sickert überall ein.

Wenn die Situation so bleibt, werden noch viel mehr Leute als bisher das Land verlassen. Gerade junge Leute finden es völlig unmöglich, hier ihr Leben zu leben. All diese Anspannung, die zerstörte Wirtschaft, die Not, alle zehn Jahre für etwas in den Krieg ziehen zu müssen, wovon wir nicht restlos überzeugt sind.

Nach all den Jahren ist Israel noch immer kein wirkliches Heim, es ist nicht, was es sein könnte. Es herrscht hier kein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit, selbst in unserem eigenen Staat fühlen wir uns verfolgt. Wir fühlen, dass wir das Leben, das wir führen möchten und das uns doch zusteht, nicht führen können. Und das ist sehr traurig.

INW: In Ihrem neuen Buch „Das Gedächtnis der Haut“ ist von all dem nichts zu spüren, obwohl der Schauplatz der Handlung Israel ist. Wollten Sie ein Stück Normalität in die israelische Literatur einbringen? Ein Buch schreiben, das eben nichts mit dem jüdisch-arabischen Konflikt zu tun hat, der ein normales Leben ja fast unmöglich macht?

DG: Das war keine bewusste Entscheidung. Ich wollte genau dieses Buch jetzt schreiben. Aber Sie haben recht: Die Last der Geschichte, der vergiftenden Realität ist manchmal so furchtbar schwer. Ich hasse es, wenn alles, was ein israelischer Schriftsteller schreibt, immer sofort als Analogie oder Methaper des politischen Konflikts betrachtet wird. Als mein Buch in Italien herauskam wurde ich von einem italienischen Journalisten gefragt, ob die erste Geschichte, in der Shaul und Esthi mit dem Wagen durch die Nacht fahren, keine Metapher für die Situation von Juden und Palästinensern sei.

INW: Was haben Sie geantwortet?

DG: Ich war wütend. Ich habe ihm gesagt: Auch wenn wir Israelis sind, so haben wir doch ein Recht darauf eifersüchtig und unangenehm zu sein oder uns zu lieben. Dieses Recht können Sie uns nicht absprechen!

Ich habe gerade begonnen, einen neuen Roman zu schreiben. Falls ich diesen Roman beenden werde – und das weiß man ja nie – wird er in der äußeren Realität, dem Alltagsleben, angesiedelt sein. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis ich soweit war, einen solchen Roman in Angriff zu nehmen. Es handelt sich schließlich um keinen Artikel für eine Zeitung. Ich musste mich in diesem Leben mitten in einer Katastrophenzone erst einmal zurechtfinden. Ich musste erst einmal begreifen, inwieweit diese Situation das Leben der Menschen, ihre Beziehungen untereinander, beeinflusst und infiziert. Und das konnte ich erst, nachdem ich die privaten Bücher „Das Gedächtnis der Haut“, „Wohin Du mich führst“ und „Sei Du mein Messer“ geschrieben hatte.

INW: Das Thema Ihres neuen Buches ist das Geschichten erzählen und das Zuhören, die Identifikation mit dem anderen.

DG: Ja, völlig richtig. Das Buch zeigt, wie das Erzählen der Geschichte den Erzähler verändert. Und es geht um das Zuhören. Wir haben so eine furchtbare Angst, die ganze Geschichte des anderen zu erfahren. Natürlich, wir sind alle wunderbare Menschen, wir sind gut zu unseren Ehefrauen, Ehemännern, Kindern, Eltern und Freunden. Doch manchmal glaube ich fast, dass es so etwas wie einen Instinkt gibt, der uns vor diesem wirklichen Chaos, das im anderen wütet, beschützt. Wir wollen mit der Hölle des anderen nicht wirklich konfrontiert werden. Wir geben vor, dass wir ihn verstehen und mit ihm fühlen, nur um uns selbst zu schützen. Es ist so furchtbar selten, dass jemand sich selbst in der Krankheit des anderen erkennen kann, den Leprakranken küssen möchte, wie Anatole France es ausdrückt. Und wenn ich schreibe, dann habe ich das Gefühl, dass ich es kann.

INW: Alle starken Charaktere in Ihrem neuen Buch sind Frauen. Ist das ein Zufall?

buchcover

DG: Nein, das ist überhaupt kein Zufall. In allen meinen Büchern sind es die Frauen, die stark sind. Ich meine nicht die Stärke von Ariel Scharon, eher die von Janusz Korczak. Aufgrund meiner Erfahrung, die ja nur begrenzt ist, möchte ich es so formulieren: Frauen verfügen über einen stärkeren Kontakt zu den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit. Das ist natürlich eine ganz furchtbare Verallgemeinerung. Aber tatsächlich waren es immer Frauen, die mir etwas beigebracht haben, mir geholfen haben mich zu öffnen. Es waren Frauen, die mir beibrachten, keine Angst vor Widersprüchen zu haben.

INW: Schreiben Frauen anders?

DG: Hierzu sind mir schon sehr viele unterschiedliche Meinungen zu Ohren gekommen. Ich persönlich bin der Ansicht, dass eine Frau zumindest nicht anders schreiben sollte. Wenn eine Frau über einen Menschen schreibt, dann muss sie vollkommen dieser Mensch werden. Dasselbe gilt für männliche Schriftsteller. Man muss immer beides sein können, sowohl Mann als auch Frau. Nur so kann man schreiben. Und nebenbei gesagt, ist dies eine der Freuden, die einem das Schreiben bereitet. Man kann jemand sein, der ganz anders ist als man selbst. Und wenn du davon sogar leben kannst, was willst du mehr verlangen?

David Grossman: Das Gedächtnis der Haut. Aus dem Hebräischen von Verena Loos und Naomi Nir-Bleimling. Hanser, 2005, 328 S. Euro 22,10.

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Weiblickeit als Maskerade

Die Freud-Schülerin Joan Riviere

Sigmund Freud, Ernest Jones und Melanie Klein sind als PsychoanalytikerInnen allgemein bekannt. Den dreien gemeinsam ist eine Analysandin namens Joan Riviere.

Den Namen Riviere kennen möglicherweise einige als Übersetzerin der Schriften Freuds ins Englische oder auch als Gründungsmitglied der British Psychological Society. Ihre eigenen Publikationen als Laienanalytikerin sind allerdings wenig bekannt, mit Ausnahme eines Textes, nämlich „Womanliness as a Masquerade”, der, von feministischen  Filmanalytikerinnen Mitte der 70-er und Anfang der 80-er Jahre aufgegriffen, gerade heutzutage äußerst aktuell ist und vielseitig rezepiert wird, nicht nur in Bezug auf die Erforschung dessen, was denn Weiblichkeit nun sei, sondern auch in Bezug auf die aktuell boomende Männlichkeitsforschung. „Weiblichkeit als Maskerade”, herausgegeben von Liliane Weissberg, bzw. „Männlichkeit als Maskerade”, von Claudia Benthien und Inge Stephan, verweisen bereits im Titel auf den von Riviere 1929 publizierten Text. Für die erste der vorstehend genannten Publikationen hat Ursula Rieth Rivieres Text neu übersetzt, allerdings ohne korrekte Verwendung psychoanalytischer Termini – obwohl bereits seit 1929 eine deutsche Version existiert, die auch Lilli Gast – allerdings erst zwei Jahre später – in ihrem Buch „Joan Riviere: Ausgewählte Schriften”, übernahm.

Rieviere

Dieser Aufsatz, der beschreibt, dass die intellektuelle Frau in einem traditionell männlichen Beruf die Maske der Weiblichkeit aufsetzt, um der Zurückweisung bzw. der Bestrafung durch Männer zu entgehen, ist mit höchster Wahrscheinlichkeit von Riviere selbst auf deutsch verfasst, da ÜbersetzerInnen in der von Freud herausgegebenen Zeitschrift üblicherweise genannt wurden: Riviere veröffentlichte 1929 die englische Version im International Journal of Psychoanalysis (Bd. 10, Heft 2-3) und die deutsche in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago (Bd. 15, Heft 2-3). Da leider nur in der englischen Version die Erscheinungsmonate, nämlich April bis Juli, aufscheinen, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden, welche Fassung zuerst publiziert wurde – vermutlich erschienen sie aber zeitgleich. Jedenfalls schrieb Freud bereits am 9. 9. 1928 in einem Brief an Riviere: „I welcome your promise soon to write something for the publication. Anything you write about yourself personally is sure of my interest.” Laut Athol Hughes, der Herausgeberin der Briefe Freuds an Riviere, handelt es sich bei diesem zur Publikation angebotenen Text um „Weiblichkeit als Maske”.

Riviere wurde am 28. Juni 1883 als Joan Hodgson Verrall in Brighton geboren. Als 17-jährige verbrachte sie ein Jahr in Gotha, wo sie sich profunde Deutschkenntnisse aneignete. Daraufhin arbeitete sie als Modellschneiderin. Intellektuell gefordert wurde sie vermutlich bei ihren Besuchen in Cambridge, wo ihr Onkel Arthur Woolgar Verrall eine Professur für Altphilologie innehatte und ihre Tante Margaret Dozentin für Klassische Literatur am Newnham Frauencollege war. 1906 heiratete sie den Londoner Anwalt Evelyn Riviere, einen der Söhne des Malers Briton Riviere, und 1908 wurde ihre Tochter Diana geboren. Als ein Jahr später ihr Vater, dem sie sehr nahe stand, starb, traf sie dies sehr hart, und sie erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Daraufhin begab sie sich 1916 bei Ernest Jones in Analyse und begann bald selbst ihre Arbeit als Analytikerin – als erste Laienanalytikerin in England. Die Beziehung der beiden entwickelte sich aufgrund von Übertragung und Gegenübertragung problematisch, worauf die Analyse abgebrochen und Riviere ab 1922 von Sigmund Freud in Wien analysiert wurde – die Folge waren Spannungen zwischen Jones und Freud. Riviere hatte bereits 1920 ihre erste Freudübersetzung und auch eigene Beiträge veröffentlicht. Sie arbeitete als Übersetzungsredakteurin für das International Journal of Psycho-Analysis und gehörte zum Outer Circle der Bloomsbury Group, dem Londoner Intellektuellen- und KünstlerInnenzirkel.

Anfang der 20-er Jahre lernte sie Melanie Klein kennen, wodurch eine Freundschaft zwischen diesen beiden unterschiedlichen Frauen begann. Klein beschäftigte sich wie Anna Freud mit der Kinderanalyse, nur vertraten die beiden unterschiedliche Lehrmeinungen, was nun zu Konflikten zwischen Wien und London führte, da Riviere Kleins Auffassung teilte. Freud schrieb daraufhin einen langen Brief an Riviere, in dem er seine Position darlegte und die Theorien seiner Tochter verteidigte. Riviere versuchte in ihrer Arbeit nicht, eindeutige Position einzunehmen, sondern freudianische und kleinianische Theorien zu verbinden. Freud bedankte sich schlussendlich brieflich für ein Exemplar des Buches „Hate, Greed and Aggression”, das Riviere zusammen mit Klein schrieb. 1930 wurde Riviere offiziell Lehranalytikerin und hielt regelmäßig Vorlesungen und Seminare im Ausbildungsausschuss des British Institut of Psycho-Analysis. Während sie einerseits als Mentorin und Förderin fungierte – wie für Hanna Segal und Herbert Rosenfeld –, war sie andererseits aufgrund ihres intellektuellen Anspruches gefürchtet. In einer Rede – Riviere starb am 20. Mai 1962 an den Folgen eines Lungenemphysems –, die James Strachey 1963 in der British Psycho-Analytical Society hielt, sagte dieser: „The fact is that notwithstanding our many contacts I really didn’t know her very well. Perhaps I was afraid of her. A lot of people were. I often felt sure, for instance, that Ernes Jones was.”

Lilli Gast fasst sehr gut in ihrem Buch über Riviere zusammen: „Waren die Jahre 1915 [sic!]–1922 die Zeit der ,Analysandin Joan Riviere’, der Abschnitt 1921–1927 schwerpunktmäßig die Zeit der ,Freud-Übersetzerin Joan Riviere‘, so könnte man die Jahre 1927–1936 als die Epoche der ,öffentlichen Joan Riviere‘ resp. ,Joan Riviere in ihrer Eigenschaft als Funktionärin der Britischen Vereinigung und Architektin des englischen Kleinianismus in öffentlicher Mission‘ bezeichnen [...].”

Riviere kann, obwohl Texte wie „Die innere Welt in Ibsens Baumeister Solness”, „Zur Genese des psychischen Konfliktes im frühen Lebensalter” oder „Beitrag zur Analyse der negativen therapeutischen Reaktion” kaum bekannt oder rezipiert wurden, als klare und scharfsinnige Denkerin angesehen werden, deren Leben äußerst interessant verlief, wobei leider eine ausführliche Biographie bis heute nicht geschrieben wurde.

Petra M. Springer

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Der Maler Julius Graumann

Die Wiederentdeckung eines Verschollenen

Dem Theaterwissenschaftler und Kunstgeschichtler Peter Kertz, selbst aus einer Malerfamilie stammend, ist in einer detektivischen Meisterleistung den Spuren des Malers Julius Graumann nachgegangen. In einer fein illustrierten Biografie (Deutscher Kunstverlag) würdigt der emeritierte Musikprofessor Leben und Werk des lange vergessenenn Künstlers.

Graumann wurde 1878 in Fürth als Sohn des Bankiers Gerson Graumann und Marie Bambergers geboren. 1889 zog die Familie nach Nürnberg, wo bereits eine Filiale der Privatbank existierte. Julius Graumann besuchte nach der Grundschule die Real- und Handelslehranstalt Institut Gombrich, des Mitbegründers der „Liberalen Vereinigung für Deutschland”. Anschließend übersiedelte er nach München und besuchte die von Heinrich Knirr geleitete Mal- und Zeichenschule, die zwei Jahre später auch Paul Klee aufsuchte. Damals war München ein Anziehungspunkt für KünstlerInnen – beispielsweise lebten dort Wilhelm Leibl, Max Liebermann oder Lovis Corinth –, und der Andrang in den Klassen der Akademie, wo unter anderen Franz von Stuck und Carl von Marr unterrichteten, war immens. Dadurch gelang es selten, beim ersten Versuch an der Akademie aufgenommen zu werden – auch Kandinsky wurde 1896 von Stuck abgewiesen und an eine private Malschule verwiesen. Die Zeit damals war geprägt einerseits von einem starren Festhalten an der Tradition und andererseits von dem Kunstverständnis der Moderne, den Impressionisten oder Namen wie Cézanne, Gaugin oder van Gogh. Es kam zu einer Spaltung zwischen dem konservativen und dem modernen Lager und in diesem Kontext wurde 1892 die Münchner Sezession gegründet und in weiterer Folge kam es zur Gründung von „Die Brücke“ 1905 der Expressionisten.

Am 18. Oktober 1898 wurde Graumann an der königlichen Akademie in der Klasse des Historienmalers Carl von Marr, der dem konservativen Lager angehörte, aufgenommen. Er studierte dort bis 1906. Graumann blieb aber nicht in der traditionellen Malerei seines Lehrers verhaftet, sondern nahm Modernes in sein Werk auf. Er war kein Historienmaler, sondern seine Begabung lag in der Landschaftsmalerei, der „Plein air“-Malerei, bäuerlichen Genre-Bildern und Porträts – so porträtierte er auch den letzten bayrischen König Ludwig III. Später entdeckte er seine Vorliebe für Großstädte und Masken in vielen Ausprägungen – Kinderspielzeug, Marionetten und Puppen.

Nicht unwesentlich in seiner künstlerischen Entwicklung war die Freundschaft mit dem Maler Adolf Kertz, den er schon aus Nürnberg kannte. Kertz wurde bereits im Alter von 14 Jahren von Adolf Hölzel in Dachau unterrichtet. Graumann hielt sich regelmäßig einige Sommermonate in Dachau auf, und es ist naheliegend, dass er durch Vermittlung von Kertz am Malunterricht Hölzels teilnehmen konnte und dadurch auch mit modernen Strömungen konfrontiert wurde. 1907 stellte Graumann 17 seiner Werke im Folkwang-Museum in Hagen in einer Gruppenausstellung mit dem Bildhauer Georg Kolbe und den Malern Heinrich Nanen und Henri Matisse aus, wodurch er erstmals Bilder des Hauptmeisters der Fauvisten sah. Im selben Jahr wurden dort „Die Brücke“ – Maler und Gemälde von Raoul Dufy, Georges Braque und Paul Cézanne in einer Schau gezeigt – Julius Graumann ist somit eingereiht unter die großen Maler der damaligen Avantgarde. Im Anschluss an die Ausstellung in Hagen stellte Graumann, der inzwischen der Münchner Künstlergenossenschaft angehörte, im Münchner Glaspalast aus. 1907/08 gründete er zusammen mit Adolf Kertz die „Schule für Malerei und Ornamentik“. In dieser Zeit hatte sich die Maltechnik beider Künstler einander angenähert, wodurch nicht signierte Werke heutzutage schwer namentlich zuschreibbar sind.

Während des Ersten Weltkrieges wurde der Unterricht eingestellt, und der Tod von Kertz 1918 bedeutete auch das Ende der Malschule. Graumann entging aufgrund einer Zellengewebeentzündung am linken Fuß und der daraufhin attestierten allgemeinen schwächlichen Körperkonstitution dem Militärdienst an der Front und wurde zur bayerischen Fleischversorgungsstelle abkommandiert. Die Nachkriegsjahre waren von allmählicher Verarmung der Bevölkerung geprägt. Graumann malte sehr viel, um Bilder zu verkaufen, um in diesen schwierigen Zeiten überleben zu können. Interessanterweise befindet sich auf der Rückseite eines Porträts einer Dame mit Kette ein nicht vollendetes Porträt eines Mädchens, was vermutlich auf Mangel an Malmaterial bzw. Leinwand schließen lässt. Die Zeit von 1921 bis 1931 kann als Höhepunkt in seinem Schaffen gesehen werden – mit gleichzeitiger Anerkennung durch eine breitere Öffentlichkeit. Unverwechselbar ist nun sein pastoser Malstil. Mit dem Pinsel setzte er schmale Rechtecke nebeneinander.

In dieser Zeit waren bereits verstärkt antisemitische Tendenzen spürbar, und in München etablierte sich die „Nationalistische Gesellschaft für Deutsche Kunst“. 1930 veröffentlichte die Zeitschrift „Jugend“ auf der Titelseite Graumanns Porträt „Bildnis Dr. H.“. Die restlichen Seiten sind gefüllt mit antisemitischen Darstellungen und Judenkarikaturen in literarischer und grafischer Form. 1931 brannte der Münchner Glaspalast aus – eine wichtige Basis für die Präsentation und den Verkauf von Kunstwerken, in dem Graumann regelmäßig ausstellte.

Als Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde und die Pogrome gegen Juden und Jüdinnen zunahmen, emigrierte Graumann über Zürich nach Paris und anschließend nach Bagnères-de-Luchon. Er ließ viele Werke in München zurück – er übergab sie zur Aufbewahrung dem Schneidermeister Karl Schweiger. 1941 schieb ein Gesetz Judenzählungen in den nicht besetzten Zonen vor, worauf eine Welle von Massenverhaftungen folgte – es ist kaum anzunehmen, dass Graumann dieser Maßnahme entkommen ist. Der systematischen Suche nach Juden fiel er spätestens im Herbst 1942 zum Opfer. Über Drancy wurden Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert. Eichmanns Privatsekretär Alois Brunner stellte die Transporte nach Auschwitz zusammen. Eine Karteikarte mit Graumanns Namen aus Drancy ist erhalten, ebenso eine von Brunner unterschriebene Namensliste für den Transport Nr. 75 am 30. Mai 1944. Graumann erhielt die Nummer 22876. 624 Personen der 534 Männer, 470 Frauen und 104 Kinder, unter ihnen alle über 60-jährigen, wurden sofort in die Gaskammer geführt. Graumann war damals 66 Jahre alt.

Petra M. Springer

Peter Kertz: Der Maler Julius Graumann (1878-1944) Die Wiederentdeckung eines Verschollenen. Deutscher Kunstverlag, 2004. 36 S., 29 farbige, 43 sw Abbildungen. 29,90 Euro

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Letzte Änderung: 03.01.2012
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