Dezember 2011 / Jänner 2012

Aus dem Inhalt der aktuellen Ausgabe

Coverbild A. Kiefer
Anselm Kiefer: „Samson“ (2011),
Öl, Emulsion, Acryl, Schellack, Kreide,
Gips, Metall, Blei und Palmblätter
auf Leinwand. 280 x 380 cm.

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Balanceakt

Kommentar von Joanna Nittenberg

Die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten lassen durchaus gegensätzliche Empfindungen aufkommen. Einerseits ist da der positive Aspekt. Es könnte vielleicht doch gelingen, Frieden zwischen Israel und den Palästinenser zu erreichen und damit den Willen eines großen Teils beider Völker umzusetzen. jedes Volk sehnt sich nach Frieden, es sind meistens verantwortungslose Staatsoberhäupter, denen es gelingt, die Bürger in einen Krieg zu hetzen.

Die Entwicklungen im Nahen Osten werden heute von den derzeit stattfindenden Umwälzungen geprägt, deren Ausgang niemand vorhersehen kann. Der Iran spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in diesen Prozessen. Israel ist zu Recht besorgt und fürchtet um seine Existenz, zumal die Machthaber im Iran keine Gelegenheit auslassen, die Vernichtung „des zionistischen Gebildes" zu betonen. Was vor allem die westliche Welt scheinbar vergisst ist die globale Drohung, die allumfassend ist und nicht nur Israel betrifft.
Beunruhigend auch die immer sich stärker manifestierende Abneigung Europas zu den USA, die mitunter offen ausgetragen wird. Wenngleich diverse auch berechtigte Kritikpunkte vorhanden sind, so darf nicht vergessen werden, dass trotz aller Mängel in Demokratien die besten Lebensbedingungen herrschen. Der Weg dahin ist jedoch ein mühsamer und langwieriger. Die Fehleinschätzung vieler westlicher Politiker besteht in der Annahme, dass freie Wahlen bereits Demokratie bedeuten. Vorher müssten Auf- klärungsmaßnahmen, wie freie Meinungsäußerung, Vielfalt von Medien sowie Errichtung diverser Institutionen entstehen, um eine faire Wahl zu garantieren, andernfalls werden Populisten und Scharlatane, die im Stande sind das Volk am besten zu verführen, die Oberhand gewinnen.

Westliche Demokratien sind nun gefordert mehr Einigkeit in der Verteidigung demokratischer Prinzipien zu demonstrieren. So ist auch die zögernde Haltung angesichts der jüngsten Attacke des iranischen Regimes gegen die britische Botschaft in Teheran nur schwer zu verstehen. Jetzt wäre es an der Zeit, die schon längst fälligen Sanktionen rigoros durchzusetzen. Die Blockade nähme zwar den Iran nicht in einen völligen Würgegriff, weil die Russen und Chinesen sie umgehen würden. Bei der katastrophalen Lage der iranischen Wirtschaft würde sie das Regime trotzdem hart genug treffen. Es gilt den Einfluss des Irans im Nahen Osten so weit es geht zu minimieren, was jedoch als zukünftige Atommacht fast unmöglich ist, es sei denn, dass es im Iran zu einem Regimewechsel käme.
Bis vor kurzem schien es, dass nur die Errichtung eines Palästinenserstaates den Frieden in diesem Gebiet sichern kann.

Heute muss man erkennen, dass dies zwar ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung dieser Region ist, aber sicher nicht der einzige und auch nicht der wesentlichste. Die Rolle de Palästinenser ist eine sehr ambivalente. Während sie sich der Welt gegenüber friedfertig und kompromissbereit präsentieren, werden laut des jüngsten Berichtes von Palestinian Media Watch PMW, einem israelischen Forschungsinstitut, das die palästinensische Gesellschaft und deren Führung durch ihre arabischsprachigen Medien untersucht, systematisch Hasstiraden der Palästinensischen Autonomiebehörde PA auf Israel geführt.

Auch der immer stärker werdende Einfluss der Moslembrüder stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar. Dan Schueftan, Historiker und israelischer Sicherheitsberater, meint dazu: „Assad ist nicht gut, aber die Muslimbrüder wären viel schlimmer. Sie wären verbündet mit den Muslimbrüdern in Gaza und sind vielleicht in Kontakt mit den Muslimbrüdern, die potentiell das Regime in Jordanien übernehmen. Ein Zusammenschluss von Muslimbrüdern im Nahen Osten könnte insgesamt noch schlimmer sein als Assad und Mubarak." Welche Entwicklungen diese krisenhafte Gegend einschlägt, wird die Zukunft weisen. Die Weichen sind in beide Richtungen gestellt.

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Ein langer arabischer Winter

Kommentar von Moshe Arens, Mitglied des Likud, ehemaliger Außenminister und ehemaliger Verteidigungsminister des Staates Israel.

moshe Arens

Der „Arab Human Development Report" des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen hat 2002 „tief verwurzelte Missstände" in arabischen Ländern festgestellt. Mit anderen Worten, die arabischen Gesellschaften sind krank. Diese Krankheit spiegelt sich, so der Bericht, in dem Mangel an „Respekt für Menschenrechte und Freiheiten", dem Status der arabischen Frauen und dem mangelhaften Stand der „Aneignung von Wissen und seiner effektiven Nutzung" wider.

Der „Arab Human Development Report" von 2003 erklärte: „Echte Demokratie existiert nicht und wird dringend benötigt. Das Bildungssystem ist ernsthaft zurückgeblieben: Schulen produzieren ignorante junge Männer und Frauen. Viele arabische Intellektuelle haben realisiert, dass, auch wenn sie es abstreiten, die meisten Feststellungen aus dem letzten „Arab Human Development Report zutreffend sind.“
Wer jedoch dachte, der sogenannte arabische Frühling stelle für all das eine Lösung dar, lag falsch. Es sieht so aus, als würde dem arabischen Frühling ein arabischer Winter folgen, und auf den zweiten Blick war diese Entwicklung bereits vorher ganz klar abzusehen: Die Islamisten werden das Zepter der Diktatoren übernehmen. Zine El Abidine Ben Ali in Tunesien, Hosni Mubarak in Ägypten und Muammar Gaddafi in Libyen waren korrupte Diktatoren, und ihr Ende war lange überfällig. Sie alle haben die islamistischen Bewegungen in ihren Ländern unterdrückt und waren somit auf perverse Art und Weise auf Seiten der Säkularen. Das gleiche gilt für Bashar Assad in Syrien, dessen Vater Hafez 1982 in Hama 20.000 Menschen ermorden ließ, um einen Aufstand der Muslimbruderschaft niederzuschlagen. Sein Sohn, der kein Deut weniger skrupellos ist, scheint nun den Weg von Ben Ali, Mubarak und Gaddafi einzuschlagen.

Die Demonstrationen in Tunesien und Ägypten wurden von säkularen Gruppen initiiert, von gebildeten jungen Menschen, versiert im Umgang mit Internet, Facebook und Twitter. In Ägypten standen sie Seite an Seite mit den koptischen Christen, die zehn Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen. Logischerweise forderten sie nach der Absetzung von Mubarak demokratische Wahlen. In Libyen hat ein zusammengewürfelter Haufen gemeinsam mit der NATO den „mad dog of the Middle East", wie Ronald Reagan ihn einst nannte, gestürzt, und es ist unvorstellbar, dass diesem Blutbad keine demokratischen Wahlen folgen werden, selbst unter den chaotischen Bedingungen, die nach Gaddafis Sturz dort herrschen.

Doch wer wird diese Wahlen in Ägypten, Libyen und vielleicht sogar Syrien gewinnen? Es gibt bereits eine Vorschau: In Tunesien, dem Land, das das säkularste und westlichste der arabischen Staaten war, hat die islamistische Partei Ennahada gewonnen, während die Verteidiger eines säkularen Tunesiens weitaus schlechter abschnitten. Die westlichen Medien versuchen nun, gute Miene zu diesem enttäuschenden Ergebnis zu machen und bezeichnen Ennahada als „moderat islamistisch". Doch die Fakten sind klar: Tunesien wird unter die Herrschaft der Islamisten fallen. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Ergebnisse von Wahlen in Ägypten, Libyen oder Syrien anders ausfallen werden.  Eine Welle der islamischen Herrschaft mit allem, was dies zur Folge hat, überschwemmt die arabische Welt. Sie ersetzt säkulare Diktaturen durch islamistische. Wir hätten nichts anderes erwarten sollen. Auch demographische Aspekte spielen hier eine Rolle: Während der langjährigen Herrschaft der totalitären Regime in den arabischen Staaten ist die religiöse Bevölkerungsschicht viel schneller gewachsen als die säkulare. Mittlerweile sind verschleierte Frauen in der Überzahl gegenüber denjenigen, die willens sind, ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen – und das in einem Ausmaß, dass man nicht mehr die Auszählung der Stimmzettel abwarten muss.

Die Wahlergebnisse in den arabischen Ländern sind klar, bevor die Stimmen abgegeben wurden. Beobachter könnten sich selbst zum Narren halten und daran glauben, dass die islamistischen Parteien „moderat islamisch" oder „gemäßigte Islamisten" seien, doch ihre Führer sind weder moderat noch gemäßigt. Es ist klar, dass die grundlegenden Missstände, die im „Arab Human Development Report" der Vereinten Nationen beschrieben werden, unter der Herrschaft der islamistischen Parteien nicht verbessert werden. Die Umstände werden sich eher noch weiter verschlechtern und das Gesetz der Scharia, mit allem was dazu gehört, wird sich durchsetzen.

Der Sturz der arabischen Diktatoren war unvermeidlich. Doch leider ist ebenso unvermeidlich, was ihrem Sturz folgen wird: Es sieht so aus, als stünde uns ein langer arabischer Winter bevor.

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Mit der CIA gegen die Pasdaran

Reza Kahlili – Doppelagent bei den iranischen Revolutionswächtern

Kein Mensch vermag derzeit mit Gewissheit zu sagen, ob die Mitte Oktober öffentlich gewordenen Anschlagspläne auf den saudischen Botschafter sowie die saudische und die israelische Botschaft in Washington, vom iranischen Regime oder nur von einzelnen Fraktionen der sich permanent bekämpfenden Rackets im Iran ausgegangen sind. Auffällig ist allerdings, wie schnell von den üblichen „Iran-Experten" und den einschlägigen Lobbyisten des iranischen Regimes jegliche Beteiligung Teherans ausgeschlossen wurde. Dass auch Angriffe in und gegen die USA zumindest eine Option für das Regime in Teheran darstellen, sollte außer Zweifel stehen.

Selbstverständlich wären die Anschläge mit dem Risiko einer militärischen Konfrontation sowohl mit den USA als auch mit Saudi-Arabien oder Israel verbunden gewesen. Aber genau darauf bereitet das Regime die iranische Bevölkerung immer unverhohlener vor. Hassan Rahimpour Azghandi, als Mitglied des „Höchsten Rates für die Kulturrevolution" ein wichtiger Ideologe des iranischen Regimes, dessen Reden regelmäßig nach der Freitagspredigt im Staatsfernsehen verbreitet werden, verkündete Ende September: „Wir müssen uns auf weltweite Operationen vorbereiten. Wir müssen uns auf einen globalen Konflikt vorbereiten. Alle, die im Geheimdienst und in subversiver Tätigkeit arbeiten, müssen bereit sein. … Die Front unseres Krieges befindet sich nun überall auf der Welt."

Einer jener Exiliraner, die seit Jahren nachdrücklich auf die Gefahren hinweisen, die vom iranischen Regime ausgehen, ist Reza Kahlili, dessen Autobiografie über sein Leben als Doppelagent der CIA bei den iranischen Revolutionswächtern nun auf deutsch vorliegt. Kahlili hat unter dem Schah in den USA studiert, kehrte nach 1979 voller Illusionen über die „Islamische Revolution" in den Iran zurück und landete über Vermittlung eines Jugendfreundes als Computerspezialist bei den Revolutionswächtern, jener Elitetruppe des Regimes, die sowohl für den Revolutionsexport und die Repression gegen die Opposition als auch für das Nuklearwaffen- und Raketenprogramm des Regimes verantwortlich ist. Doch schnell ist er von der neuen Realität entsetzt: Seine Schilderungen von Steinigungen und aus dem Evin-Gefängnis sind ein Blick auf jenes Grauen, vor dem jegliche Sprache versagen muss. Im Bewusstsein, dass die Iraner allein kaum gegen das neue Regime ankommen werden, entschließt er sich für eine Agententätigkeit für die CIA und wird über Jahre einer der wichtigsten Informanten der USA. Schon Anfang der achtziger Jahre berichtet er ihnen von Atombombenplänen der Ajatollahs.

Ausgehend von seinem Insiderwissen illustriert er, dass Attentatspläne wie jener in Washington für die Revolutionswächter alles andere als ungewöhnlich sind. Er berichtet von den zahllosen Anschlägen im Nahen Osten, die auf ihr Konto gehen und immer wieder auch direkt auf die USA zielten, sowie von der Freude der Revolutionswächter, als sie „die Zustimmung mehrerer europäischer Regierungen" bekamen, „die Opposition zu verfolgen, solange wir nicht die Sicherheit dieser Länder … gefährden", was dazu führte, „dass die Revolutionswächter Hunderte von ihnen in Europa und im Rest der Welt ermordeten“. Kahlili berichtet unter Verweis auf seine heute noch aktiven Quellen im Iran von Kontakten der Quds-Brigaden zu Al-Kaida und deutet eine Involvierung der Pasdaran in den Anschlag auf jene Pan-Am-Maschine an, die 1988 über Lockerbie gesprengt wurde.
Kahlili informierte die CIA nicht nur über Kontakte der Pasdaran zu islamistischen Terrorgruppen, sondern auch nach Nordkorea und China, zur PLO, der Japanischen Roten Armee und zur ETA sowie über sporadische Verbindungen zur RAF in Deutschland. Immer wieder berichtete Kahlili seinen Auftraggebern in den USA von den Aktivitäten eines Mannes: Ahmad Vahidi, dem langjährigen Geheimdienstchef der Revolutionswächter. Auf Grund seiner Verantwortung für den Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires 1994, bei dem 85 Menschen ermordet wurden, wird er bis heute von Interpol mit internationalem Haftbefehl gesucht. Ahmadinejad hat Vahidi 2009 zum Verteidigungsminister ernannt, was ein Ergebnis davon war, dass seine Ernennung zum stellvertretenden Verteidigungsminister im ersten Kabinett von Ahmadinejad keine nennenswerten Proteste und keinerlei Konsequenzen seitens des Westens nach sich gezogen hat. Die Abgeordneten des iranischen Pseudoparlaments wissen, was sie an diesem antisemitischen Massenmörder haben: als er 2009 im Majles bestätigt werden sollte, wurde er mit stehenden Ovationen und „Tod Israel"-Rufen begrüßt.

Kahlili schildert das praktizierte Märtyrertum im Iran-Irak-Krieg, bei dem iranische Jugendliche als lebende Minenräumkommandos zu Zehntausenden den Tod fanden, und er verdeutlicht, wie der eliminatorische Antizionismus des Regimes maßgeblich dafür verantwortlich war, dass dieser Krieg noch Jahre weiterging, nachdem die Eroberungsversuche Saddam Husseins bereits abgewehrt waren: „Khomeini und der herrschende Klerus drängten auf … die Eroberung des Irak und die Einigung derMuslime in einem größeren, heiligeren Krieg gegen Israel."Á⁄Kahlili betont, dass der Glaube an die Wiederkunft des Mahdis vom Regime keineswegs allegorisch gedeutet wird, sondern für seine Politik unmittelbare Bedeutung hat: „Sie glauben wirklich, dass der Islam eines Tages die Welt erobern wird", schreibt er in seiner Autobiografie, in die sich leider einige Übersetzungsfehler eingeschlichen haben. So wird aus der „flag of Islam", die der langjährige Pasdaran-General und spätere Präsidentschaftskandidat Moshen Rezaei schon in den achtziger Jahren „in all corners of the world" hissen wollte, „die Flagge des Iran", was angesichts der aktuellen Streitereien zwischen einem iranisch-nationalistischen und einem islamisch-religiösen Flügel im Regime ein bedeutender Unterschied ist.
Trotz seiner Tätigkeit für die CIA und seiner wiederholten Forderung, dass „der Westen" etwas zur Befreiung des Iran „tun muss", macht sich Kahlili keine Illusionen über die Politik der USA. Er kritisiert nicht nur die langjährige Unterstützung des Schahs, sondern auch jene von Suharto in Indonesien, Pinochet in Chile und der Mudschaheddin in Afghanistan. Doch besonders empört er sich über die fortgesetzte Dialogbereitschaft der unterschiedlichen US-Administrationen gegenüber den Mullahs. Scharf verurteilt er Obamas Iran-Politik, von der im vorhinein klar gewesen sei, dass das iranische Regime sie „als Schwäche auslegen und sich angetrieben fühlen würde, noch radikalere Schritte zu unternehmen“. Genau das ist seit dem passiert.

Buchcovr

Kahlili lebt heute unter einem falschen Namen in Kalifornien und ist zum Christentum konvertiert, was für die Apostatenjäger in Teheran nur ein weiterer Grund ist, ihm nach dem Leben zu trachten. Er formuliert explizit die Hoffnung, dass die USA „sich einschalten" werden, wenn es darum geht, jenen Gefahren zu begegnen, die vom iranischen Regime ausgehen und die er in seiner Autobiografie nochmals eindrucksvoll dargestellt hat. Die Schaffung eines „freien und demokratischen Iran" betrachtet er als einzig möglichen Weg „zu einem dauerhaften Frieden im Mittleren Osten." Leider scheint das mittlerweile aber auch in den USA kaum noch jemand so zu sehen, wenn man einmal vom ehemaligen UN-Botschafter John Bolten absieht, der die aufgeflogenen Attentatspläne von Washington und die verhaltene Reaktion der US-Regierung abermals zum Anlass genommen hat, mit Obamas Iran-Politik scharf ins Gericht zu gehen.           

Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Uni Wien, wissenschaftlicher Mitarbeiter von STOP THE BOMB und Mitherausgeber von „Iran im Weltsystem.Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung" (Studien-Verlag, 2010)

Reza Kahlili |Feind im eigenen Land. Mein Doppelleben als CIA-Agent bei den Iranischen Revolutionsgarde,. München: riva 2011, 400 Seiten; € 20,60.

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Amerikanisches Panorama

Ruth Beckermann besuchte mit der Kamera Menschen in den USA

Wahlkampf Barak Obamas und der Finanzkrise, wissen wie es um den Amerikanischen Traum bestellt ist. In einer zweijährigen Entdeckungsreise drehte sie den Dokumentarfilm „American Passage". Mit der Euphorie nach der Wahl Obamas zum Präsidenten von Amerika beginnt der Film „American Passage", doch der positive Ton hält nicht an. Der Zusammenbruch der Wirtschaft hat den Amerikanischen Traum – Alles ist machbar, jeder hat das Recht sein Glück zu suchen – in Frage gestellt.

Durch insgesamt elf Bundesstaaten ist Beckermann gereist, nicht um Orte zu filmen, sondern um Menschen zu treffen, aus deren persönlichen Statements der Zustand Amerikas heraus zu lesen ist. Das Bild ist fragmentarisch, gibt jedoch Anlass, so manches Klischee, das das, europäische Amerikabild formt, zu überdenken. Gedreht hat Beckermann nicht an den Küsten, sondern im Inneren des Landes, um jene Orte, „Nicht-Orte" nennt sie diese, zu finden, an denen sich das Leben abspielt. Dazu wählte sie auch zwei Punkte, die für sie „auf der symbolischen Ebene typisch" sind: New York und Las Vegas.

Filmausschnitt

Die Szenen in der Wahlnacht drehte sie in Harlem, wo, so Beckermann, die Rassentrennung tatsächlich aufgehoben scheint und sich die Menschen in allen Lebensbereichen mischen. Las Vegas ist für sie „ein Beton gewordener Hollywoodfilm". Im Interview mit Karin Schiefer von der Austrian Film Commission sagt die Regisseurin über Las Vegas:

Es zeigt die Einstellung der Amerikaner zum Leben, die der europäischen diametral entgegengesetzt ist: Sexuelle Prüderie und Hedonismus im Spiel. In Las Vegas ist Prostitution verboten, damit die Spieler nicht abgelenkt werden. Das Leben wird in Amerika weitaus stärker als Spiel empfunden: Man erfindet sich selbst, man präsentiert sich in einer Rolle, man versucht sein Glück und wenn man scheitert, zieht man weiter und fängt neu an. Misserfolg, Konkurs, Scheitern werden gesellschaftlich nicht sanktioniert wie in Europa, Mut zum Wagnis wird dagegen hoch bewertet. In den der Wüste abgerungenen Städten des Westens, diesen paranoiden Suburbias, zeigt sich die ganze Brutalität dieser Lebensweise, die nur eines anstrebt, den Sieg. Sieg über die Spielautomaten, Sieg über die Wüste.

Beckermann vergleicht Las Vegas mit der Stadt Mahagonny aus Bert Brechts Opernlibretto „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (Musik von Kurt Weill), in der man König ist solang man Geld hat. So erklingt auch während der Szene eines Castings in Las Vegas der Alabama Song. Im Interview erzählt Beckermann, dass sie sehr lange gebraucht habe, um die Menschen soweit zu verstehen, um Zugang zu ihnen zu finden. Das fiel ihr mit den afroamerikanischen GesprächspartnerInnen leichter als mit Weißen.

Bald musste sie den Gedanken aufgeben, dass Amerikaner sind wie Europäer und so konzentrierte sie sich dann auf die Verschiedenheiten. Was ihr gefiel ist, dass die Menschen in Amerika sich gerne präsentieren und sich auch ausdrücken können. Neben den Einzelgesprächen, in denen Frauen und Männer aller Altersstufen von ihren Erfolgen und ihrem Scheitern, ihren Hoffnungen und Träumen erzählen, sind viele Szenen zu sehen, in denen gemeinsam gesungen oder gebetet wird. Der Film vermittelt den nahezu beruhigenden Eindruck, dass in den Vereinigten Bundesstaaten ein viel innigeres Gemeinschaftsgefühl herrscht als in Europa, dass die Menschen Verantwortung für die Gesellschaft um sie herum übernehmen und für einander da sind. Aus vielen Gesprächen klingt der amerikanische Optimismus durch, die Zukunft ist wichtiger als die Vergangenheit, alles ist möglich. Beckermann entdeckte aber auch negative Seiten, Rassismus zum Beispiel, der schnell hervorkommt, wenn am Lack gekratzt wird.

Der melancholische Grundton deressayistischen Dokumentation ist unüberhörbar, auch wenn der American Dream noch immer lebendig ist. Ruth Beckermann war möglicherweise mit der Kamera (Antoine Patouty, Lisa Rinzler) zu einem Zeitpunkt in Amerika, da die Ära des Träumens sich ihrem Ende
zuneigt. Ditta Rudle

(Interviewzitate aus afc-News von Karin Schiefer, 24. Februar 2011)

Ruth Beckermann, geboren 1952 in Wien, studierte in Wien und Tel Aviv Publizistik und Kunstgeschichte und promovierte 1977 zum Dr. phil. in New York. Danach studierte sie Fotografie an der School of Visual Arts. 1977 entstand, in Zusammenarbeit mit der Videogruppe Arena, ihr erster Film.
Dokumentarfilme (Auswahl).
1983 Wien retour (mit Josef Aichholzer).
1990 Nach Jerusalem
1996 Jenseits des Krieges
1999 Ein flüchtiger Zug nach dem Orient (mit Josef Aichholzer)
2006 Zorros Bar Mizwa
2011 American Passage

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Ein Rundgang mit Folgen

Robert Streibel beweist Mut

Eigentlich bin ich noch in Bewährung, drei Jahre sollte ich mich ruhig verhalten, hatte der Beamte der Stadtgemeinde Krems, zuständig für Verwaltungsstrafen, gemeint, drei Jahre hätte die Stadt Zeit sich zu überlegen, ob sie die Strafe wegen unerlaubten Aufstellens von Gedenktafeln im öffentlichen Raum aussprechen würde. Die drei Jahre seit der illegalen Denkmalsetzung für die vergessenen Deserteure in Krems sind noch nicht vorbei. Im September 2009 hatten Gerhard Pazderka und ich zu einer illegalen Denkmalsetzung aufgerufen.

Eibl-Denkmal mit Gedenk-Tafeln

Die Deserteure waren gerade vom Nationalrat rehabilitiert worden, doch sie wa ren keineswegs in der Öffentlichkeit angekommen, das könnte dauern, so ist das eben in Österreich, wenn die Opfer nicht selbst für ihre gute Nachrede sorgen, wer sollte es tun, es gibt vereinzelt Institutionen, Einzelpersonen, Schulen, aber das sind und bleiben Einzelfälle, Gedenken gehört eben nicht zum Alltagsgeschäft von Gemeinden und Körperschaften. Was ist das für eine Gesellschaft in der das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus bis vor kurzem noch subversiven Charakter hatte und ohne lange suchen zu müssen gibt es bis heute noch Landstriche, wo das so ist. Was steckt tatsächlich hinter dem Lob: Sie sind mutig, dass Sie sich dafür einsetzen. Braucht es Mut, um Selbstverständliches zu tun? Weil das Gedenken an Deserteure, wie jenes an Widerstandskämpfer/innen und Jüdinnen und Juden eine Selbstverständlichkeit sein sollte, hatten wir um keine Genehmigung für die Aufstellung der Tafeln angesucht. Die Tafeln standen nur 72 Stunden und die Stadt drohte mit einer Strafe, aber wir sind in Österreich und daher gab es die erwähnte Bewährung. Doch was passiert jetzt? Im August standen plötzlich vor dem Denkmal des Generals der Deutschen Wehrmacht Karl Eibl auf dem Südtirolerplatz in Krems abermals Gedenktafeln, fein säuberlich in die Erde gesteckt, die Blumen nicht beschädigend, aber schön sichtbar. Werde ich für Nachahmungstäter haftbar gemacht? Um die Nachforschungen für die Verantwortlichen leichter zu machen ist ein Geständnis angebracht.

Bei jeder Stadtführung zur Geschichte der Stadt Krems, in der die Zeit des Nationalsozialismus, die Geschichte der Juden von Krems und der Umgang mit dem gerne als „dunkles" Kapitel umschriebenen Abschnittes, so als wäre alles bloß eine Gewitterfront gewesen, die über das Land hin- weggezogen sei. Im Mittelpunkt steht das Denkmal für Karl Eibl. Wo gibt es sonst noch ein Denkmal für einen General der Deutschen Wehrmacht? Gesetzt wurde es im Jahre 1959 und im Untertitel ist zu lesen, dass es auch den Kameraden der 44. Infanteriedivision zugeeignet ist; Stalin- grad war eine der Stationen. Auf dem Weg dorthin hatte die Division den Boden bereitet für die Vernichtung des Judentums, nicht aktiv, aber hinter der Front kamen die Einsatzgruppen, die mit der Vernichtung im Akkord begannen. Dieses Denkmal darf auf einem Rundgang durch die Stadt nicht fehlen und so zynisch es klingt, ich bin froh, dass es diesen Stein gibt, wo sonst würde sich österreichische Geschichtspolitik materialisieren.

Im August 2011 hatte ich das Glück, einen Tag im Programm der WOZ-Leserreise zu gestalten. Seit einigen Jahren organisiert das schweizerische Wochenmagazin historische Reisen, in Österreich war das Programm vom Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte organisiert worden. Eine Führung durch Krems beginnt am Bahnhof. Warum? Der Bahnhof war das letzte, was die Jüdinnen und Juden gesehen haben, als sie im September gezwungen waren, die Stadt zu verlassen. Der Bahnhof wurde bei einem Fliegerangriff am 2. April 1945 völlig zerstört und bis weit in die 90er Jahre hieß es in der Chronik der Stadt: Im Jahr 1939 wurde der Hafen von Krems eröffnet und am 2. April 1945 der Bahnhof dem Erdboden gleichgemacht. Davor war nichts und dazwischen auch nicht. Die Ankündigung über den Wiederaufbau wurde in der selben Nummer der Lokalzeitung angekündigt als auch der Prozess gegen die Verantwortlichen am Massaker im Zuchthaus Stein am 6. April 1945 begann. Die Gedenktafel zur 50. Wiederkehr der Zerstörung des Bahnhofes war eine Selbstverständlichkeit, nicht so selbstverständlich waren andere Gedenktafeln und Erinnerungszeichen.

Auf alten Fotos vom Bahnhof sieht man in der Dinstlstrasse, die direkt in die Stadt führt, die Synagoge, die erst 1978 abgerissen wurde, eine weitere Besonderheit. Der Weg durch die Stadt ist gepflastert mit Geschichten über jüdische Familien und Geschäfte, mit Hinweisen auf versteckte und sichtbare Erinnerungszeichen wie jenes im Wahrzeichen der Stadt im Steinertor, das vom Künstler Leo Zogmayer gestaltet worden ist. Der Antisemitismus und Rassismus sitzt so tief, das auch das „Gegengift“, eine von hundert Personen unterschiebene Petition, in die Grundmauer eingemauert wurde.
Das Ende des Rundganges bildete der Besuch beim Denkmal für den General der deutschen Wehrmacht Karl Eibl und zeigte auch, wie schnell Bürgerinnen und Bürger aktiv werden können. Innerhalb weniger Minuten war das Denkmal auch ein Erinnerungszeichen für die Deserteure von Krems, derer, mit in den Boden gesteckten Tafeln gedacht wurde. Um es den Verantwortlichen in der Stadt leicht zu machen, die Denkmalsetzer zu identifizieren, wurde an die Bürgermeisterin und die VertreterInnen des Stadtsenates am 24. August 2011 nachstehender Brief gerichtet.

Sehr geehrte Frau Rinke, sehr geehrte Mitglieder des Stadtsenats,
die heurige LeserInnenreise der Schweizer Wochenzeitung WOZ, organisiert vom Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, führte ins Rote Wien, doch auch ein Abstecher nach Krems stand am 17. August auf dem Programm: Das ehemalige Jüdische Krems, die Aufarbeitung der Verbrechen im Nationalsozialismus, der beginnende Dialog zwischen PolitikerInnen und jüdischen Über- lebenden und nicht zuletzt die im Stadtbild beeindruckend sichtbare Vielstimmigkeit der Erinnerungen führten uns nach Krems.
Um einen – wenn auch nur vorläufigen – öffentlichen Ort der Erinnerung an die Krem- ser Wehrmachtsdeserteure Franz Schweiger, Kilian Zelenka, Richard Ott, Ignaz Sinek, Karl Mörwald und Rudolf Redlinghofer zu schaffen, haben wir Täfelchen mit ihren Namen und Geschichten an einem Platz aufgestellt, an dem eine Vielstimmigkeit des Erinnerns fehlt: Beim Denkmal für den Wehrmachtsgeneral Karl Eibl, dem hier recht unkritisch gedacht wird.
Die Tafeln haben wir sehr behutsam und so angebracht, dass keinerlei Schäden entstanden sind. Wir hoffen, dass diese unsere Intervention auch in Ihrem Sinne stattgefunden hat und würden uns über die Einrichtung eines dauerhaften Gedenkorts für die Wehrmachtsdeserteure sowie über eine kritische Form des Erinnerns an den Wehrmachtsgeneral freuen.
Mit freundlichen Grüßen, Heidrun Aigner und Patricia Hladschik, Ludwig Boltzmann Institut für Menschen- rechte, Pit Wuhrer, Schweizer Wochenzeitung WOZ, Herbert Scholz, Josiane Aepli, Rose Bader, Margrit Blum, Irina Bühler, Urs Büttiker, Anne Gurzeler, Rolf Huter, Eva Jelmini, Brigitte Matern, René Meyrat, Max Salm, Sonya Schmidt, Herman Schmidt, Eugène Suter, TeilnehmerInnen der LeserInnenreise.

 

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Das Weiterleben der Ruth Klüger
Ditta Rudle über den Film von Renata Schmidtkunz

An ihrem 80. Geburtstag kam Ruth Klüger in ihre Geburtsstadt (die sie nicht gern Heimatstadt nennt, denn Heimat ist ihr Wien nicht), um als Gast der Viennale 2011 an der Uraufführung des von Renata Schmidtkunz gedrehten Films mit ihr teilzunehmen. Stehend brachte ihr das Publikum im Gartenbaukino seine Ovationen entgegen, während Viennale-Chef Hans Hurch einen Riesenstrauß roter Rosen überreichte. Die 80-jährige Dame strahlte, Bekanntheit und Verehrung tun ihr wohl,  „beleben" sie, wie sie sagt und freuen sie diesmal besonders, ist doch ihr erstgeborener Sohn, Percy, mitgekommen, und der soll stolz auf seine Mutter sein.

Ruth Klueger

Vor drei Jahren, als Wien ihr erstes Buch,  „Weiter leben. Eine Jugend" in der Stadt verteilen ließ und Ruth Klüger zu einem Galadiner im Rathaus eingeladen war, hatte ihr zweiter Sohn, Dan, mit seiner Frau und den beiden Kindern Wien besucht und auch damals freute sich die Mutter über die öffentliche Ehrung, damit die amerikanischen Verwandten sehen konnten, dass sie  „etwas gilt“.

Doch diese Szene ist bereits Teil des Porträts, das die Journalistin und Filmemacherin Renata Schmidtkunz von Ruth Klüger in mehrjähriger Arbeit gedreht hat. Der Applaus nach den 70 Minuten gilt nicht nur der Hauptperson, der renommierten Germanistin, Autorin und gestrengen Lehrerin, sondern auch der Drehbuchautorin und Regisseurin für den einfühlsamen und aussagekräftigen Film, mit der gewiss nicht einfachen alten Dame. „Landschaften der Erinnerung – Das Weiterleben der Ruth Klüger" nennt Schmidtkunz die Dokumentation, in der die Kamera die mehrfach geehrte Autorin nicht nur zu Hause in Kalifornien zeigt, sondern auch bei Besuchen in Wien, wo sie geboren ist, Göttingen, wo sie einen Lehrauftrag hatte, Bergen-Belsen, das ihr erspart geblieben ist und Israel, das sie gerne als ihr Land bezeichnen würde, doch dieser Wunsch muss im Konjunktiv bleiben.

Ruth Klüger, geboren 1931, ist ein Wiener Kind, aufgewachsen im 7. Bezirk, und doch hat sie ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Stadt, die sie als „kinderfeindlich, judenkinderfeindlich" erlebt hat.
1938 floh der Vater, ein Gynäkologe, nach Frankreich. Ruth hat ihn nie wieder gesehen, er wurde, wie die Mutter, von den Nationalsozialisten umgebracht. Auch die kleine Ruth wurde ins KZ gesteckt, doch auf einem sogenannten „Todesmarsch", als sie nach Bergen-Belsen verlegt werden sollte, konnte sie knapp vor Kriegsende fliehen. „Zufall" nennt sie ihre Rettung, „Schicksal", meint sie, „ist, dass ich eine österreichische Jüdin bin". Gerne wäre sie in Israel zu Hause, doch als sie in den späten 1940er Jahren immigrieren wollte, bedeutete man ihr, dass sie nicht willkommen sei:  „Sie brauchten Soldaten für ihren Krieg." So ging Ruth mit ihrer Mutter nach Amerika, studierte Literaturwissenschaft und auch Germanistik. Ihre Dissertation schrieb sie über das „barocke Epigramm". 1952 heiratete sie den in Berlin geborenen späteren Historiker Werner Angress  (gest. 2010), bekam zwei Kinder und ließ sich wieder scheiden:  „Werner war auch danach ein guter Freund, aber ein schrecklicher Ehemann." Ruth Klüger hat weder mit ihrem Mann noch mit ihren Kindern deutsch gesprochen. Anfangs konnte und wollte sie nicht, später wollten die Buben, „wie Buben halt so sind", nicht. Jetzt tut es den erwachsenen Söhnen Leid, dass sie die Sprache ihrer Mutter nicht sprechen können.

Renata Schmidtkunz gelingt es, Ruth Klüger nicht nur als hoch geehrte Wissenschaftlerin, viel gelesene Autorin und engagierte Feministin zu zeigen, sondern auch als private Person. Als eine Persönlichkeit, die weiß was sie sagt und dazu steht, die unsentimental und realistisch trotz ihres Alters nach vorn blickt und dennoch die Vergangenheit nicht verleugnet.

Doch sie hat einen eigenen Blick auf diese, hält nichts von frommen Sprüchen  („die nur die Lebenden beruhigen und den Toten nicht helfen") und unterscheidet (nicht nur als Sprachwissenschaftlerin) „zwischen verdrängen, vergessen und überwinden." Als sie sich ihre Tätowierung mit der KZ-Nummer wieder entfernen ließ, ist ihr mehrfach Kopfschütteln und Unverständnis begegnet.  „Doch mir ging es auf die Nerven, dass die Leute in Deutschland und Österreich immer auf die Nummer gestarrt haben und manchmal auch aggressiv reagiert haben, als ob ich das absichtlich zur Schau stellte."
Obwohl Ruth Klüger niemals klagt und an ihrem Geburtstag in Wien sagt, dass sie sich freute, dürft sie noch ein wenig länger leben, nennt sie ihr Leben nicht „schön", die Jugend in Wien und die Jahre der Gefangenschaft sitzen zu tief. Wenn sie im Film ihren Gedanken freien Lauf lässt, wird deutlich, dass sie von Wien, ihrer Geburtsstadt, und der europäischen Kultur nicht los kommt. Immer wieder fällt ihr ein, dass sie eine Zerrissene ist, „dazwischen" lebt, zwischen Europa und Amerika, zwischen Traumatisierung und Kindheitstraum, zwischen den Sprachen und Kulturen, zwischen Misstrauen und Vertrauen, in der Zwiespältigkeit der Gefühle.

Zu schreiben hat sie erst begonnen, als sie wegen einer Herzkrankheit im Spital lag und ihr die Ärzte nur noch ein kurzes Leben gaben. „Dank des Herzschrittmachers habe ich jetzt auch die Ärzte überlebt", setzt Ruth Klüger, wie so oft, eine Pointe. Damals jedenfalls dachte sie, dass sie sich erinnern müsste, mitteilen, wie es war. „Zu meiner allergrößten Verblüffung wurde ,Weiter leben’ ein Bestseller." Der Bann aber war gebrochen, inzwischen hat Ruth Klüger ein zweite Erinnerungsbuch, „unterwegs verloren", veröffentlicht und zahlreiche literaturwissenschaftliche und feministische Werke („Frauen lesen anders",  „Was Frauen schreiben", beide bei Zsolnay erschienen).

Klüger ist eine eigenwillige Frau, die auch in der Frage der Naziverbrechen oder des Feminismus nicht dem Mainstream folgt und mit ihrer Meinung niemals hinter dem Berg hält. So sagt sie, dass sie nicht der eigentliche Unterschied zwischen Opfern und Tätern interessiert, sondern „zwischen Opfersein und Freisein“. An die Möglichkeit, vergeben zu können, glaubt sie nicht. „Wem soll ich anonym dafür vergeben, dass mein Vater ermordet wurde?"

An ein „Nie wieder" glaubt die Realistin Ruth Klüger ebenso wenig. Für sie persönlich, sagt sie vor dem Holocaust Memorial in Yad Vashem, geht es „um die Bewältigung der Gegenwart und nicht um die  der Vergangenheit." Und doch bleibt Wien eine Wunde:  „Wiens Wunde, die ich bin und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar." Diesen Satz stellt Schmidtkunz ihrem Film voran.

Nicht der unverhoffte Besuch in Bergen-Belsen, wo sie als Teenager hätte sterben sollen, und nicht der Besuch ihres Elternhauses mit dem Sohn, hätte sie an dem Porträt-Film am meisten berührt, sagt sie, sondern eine kleine Szene am Gedenkstein für Anne Frank. Als Besucherin suchte sie auf dem Gelände des KZs von Bergen-Belsen einen Stein, um ihn nach jüdischem Brauch auf den Grabstein zu legen. Weit und breit war keiner zu finden, da hebt Renata Schmidtkunz einen kleinen Kiesel auf und reicht ihn ihr:  „Das hat mich angerührt. Renata könnte ja meine Tochter sein. Das zeigt mir, dass es eine Verbindung gibt zwischen den Generationen, ein Verstehen." Im aufschlussreichen Gespräch nach der Premiere des Films im Rahmen der Viennale zieht sie ein Resümee: „Es war ein volles Leben. Es war wie's war. Man sollte in meinem Alter einen Punkt setzen und sich nicht dauernd Gedanken machen, wie es anders hätte sein können. Es war nicht immer gut, aber es war viel."

Renata Schmidtkunz hat Ruth Klügers Vertrauen erworben und von ihren Erinnerungen und Gedanken mehr erfahren, als die Mutter  ihren Söhnen je erzählt hat.

Im Frühjahr soll der Film über die unkonventionelle Frau, Autorin, Germanistin und Lehrerin, die so sensibel wie unerbittlich ist, im Kino gezeigt werden. Ditta Rudle

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Ein architektonischer Blickfang

Der Anbau des Tel Aviv Museum of Art begeistert Joanna Nittenberg

Das „Herta and Paul Amir Building“, der spektakuläre Anbau des Tel Aviv Museum of Art, der von dem US-Architekten Preston Scott Cohen entworfen und am 2. November eröffnet wurde, weckt viele Assoziationen. Manche sehen darin einen ungeschliffenen Diamanten, einen Zauberwürfel oder einen gestrandeten Wal. Die Eröffnung gestaltete sich zu einem Kunstspektakel ganz besonderer Art. Das Gebäude selbst  wurde zur Projektionsfläche von Kunst. Ein Monat lang stand dieses für 55 Millionen Dollar errichtete Museum dem Publikum zum freien Eintritt offen. Lichtdurchflutete Innenhöfe bestimmen das Ambiente. Drei der fünf Stockwerke sind unterirdisch, werden aber dennoch mit Tageslicht ausgeleuchtet. Dafür sorgt der mit einem gleißenden Glasdach bedeckte „Lichtfall" im Kern, der die Sonne in die entferntesten Ecken des Gebäudes einlässt.  Eingebettet in der Kulturmeile der Stadt, zwischen dem alten Flügel des Museums, einer Bibliothek und dem Gerichtsgebäude, die als Vertreter des betonverliebten israelischen Brutalismus der siebziger Jahre das Baumaterial stolz zur Schau stellen, und einem post-modernistischen Opern- und Theaterbau im Westen, sticht das Schauobjekt aus Beton, Stahl und Holz sofort ins Auge.

Architektur

Allen Kritikern und Skeptikern zum Trotz ist der 18500 Quadratmeter große „Herta und Paul Amir Flügel" nur wenige Wochen nach seiner Eröffnung nicht bloß zu einer beliebten lokalen Attraktion geworden, manche Architekten beschreiben den Bau bereits als „richtungsweisendes Werk".
Nachdem das Haupthaus des Museums aus allen Nähten platzte, entschloss man sich für den Anbau. Das Tel Aviv Museum of Art wurde 1932 im Haus des ersten Bürgermeisters von Tel Aviv, Meir Dizengoff, gegründet. 1971 zog es an seinen heutigen Standort in der Shaul-Hamelekh-Straße. Das Museum beherbergt eine Sammlung klassischer und zeitgenössischer Kunst, speziell von israelischen Künstlern, einen Skulpturgarten und einen Jugendflügel. Ausgestellt werden Werke der wichtigsten Stilrichtungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Fauvismus, deutscher Expressionismus, Kubismus, Futurismus, russischer Konstruktivismus, De Stijl und Surrealismus mit Werken von Joan Miró, französische Kunst vom Impressionismus und Spätimpressionismus bis zur Pariser Schule mit Werken von Chaim Soutine. Unter den ausgestellten Künstlern sind Claude Monet, Camille Pissarro, Pierre-Auguste Renoir, Paul Cézanne, Alfred Sisley, Henri Edmond Cross, Pierre Bonnard, Tsuguharu Foujita, Henri Matisse, Amedeo Modigliani, Gustav Klimt, Wassily Kandinsky, Marc Chagall und Reuven Rubin. Ebenso zu sehen sind Werke von Pablo Picasso aus der Blauen Periode, der Neoklassischen Periode und aus seinem Spätwerk. Die Peggy Guggenheim-Sammlung des Museums, eine Spende aus dem Jahr 1950, umfasst 36 Werke, unter anderem von Jackson Pollock, William Baziotes, Richard Pousette-Dart, Yves Tanguy, Roberto Matta und André Masson.

Die Idee für das eigenwillige Bauwerk wurde 2003 bei einem informellen Mittagessen in der Museumscafeteria geboren. „Ich erinnere mich noch sehr gut an das Essen und das Gespräch mit  Omer", sagt  Architekt Cohen, der Israel damals zum ersten Mal besuchte: „Er wusste, wie groß die Herausforderung war, direkt neben dem alten Flügel einen neuen zu errichten." Die Arbeit des Museums, dessen Auftrag es ist, israelische Kunst zu fördern, war im alten Gebäude unmöglich geworden. Die ständig wachsende Sammlung stapelte sich unausgepackt in den Kellergewölben, während Kuratoren ihre Ideen für neue Ausstellungen wegen Platzmangel immer weiter in die Zukunft verschieben mussten. „Allen Schwierigkeiten zum Trotz forderte Omer von uns einfach, ein Wunder zu vollbringen." Cohen, der sich bis dahin als Dekan der Architekturschule an der Harvard Universität nur mit den theoretischen Aspekten seines Berufes befasste, nahm die Herausforderung bereitwillig an. „Ich schätze das tiefe Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde. Wir haben das nur geschafft, weil die Israelis so erfrischend unbürokratisch und experimentierfreudig sind.“

„So ein Gebäude konnte nur in Tel Aviv entstehen", sagt Scott Cohen so enthusiastisch, dass seine Stimme vor lauter Erregung immer wieder zu versagen droht, wenn er von seinem Design spricht. „Wo sonst wären Menschen bereit, so ein großes Risiko einzugehen, ohne im Vorfeld zu wissen was dabei rauskommen wird? Das passt zu einer Stadt, die immer nach vorne schaut, obwohl ihre Zukunft so ungewiss ist."

Das neue Museum soll in Zukunft breiteren Raum für zeitgenössische israelische Kunst bieten, umso erstaunlicher  auch die Wahl des im Sommer verstorbenen Direktor des Museums, Prof. Mordechai Omer, den deutschen, international renommierten Künstler Anselm Kiefer für die Eröffnungsausstellung zu präsentieren. Die Absicht lag darin, dem Museum eine internationale Perspektive zu geben. Kiefer ein Künstler mit Weltrang, beschäftigt sich schon seit Jahren mit jüdischen Themen, insbesondere mit jüdischer Mystik. Er ist einer, dessen mutige Konfrontation mit der Geschichte und den Mythen seines Heimatlandes Deutschland durch seine profunde Auseinandersetzung mit der hebräischen Bibel und jüdischen Traditionen, die Kunstwelt bereichert habe. „Bruch der Gefäße – Shevirat Ha Kelim“, ist der Titel der Ausstellung, die Geschichten von biblischen Gestalten wie Kain und Abel, Noah und Samson,  Gemälden, seinen „West-Öst-lichen Diwan"; historische Figuren wie Isaac Abrabanel, einem Staatsmann des 15. Jahrhunderts, aber auch den Dichter und Holocaust-Überlebenden Paul Celan zeigen und auf die kabbalistischen Ideen der „Baum des Sephirot” und die Zerstörung einer ehemals einheitlichen Welt hinweisen.

Anselm Kiefer wurde 1945 in Donaueschingen (Baden-Württemberg, Deutschland) geboren. Ab 1993 lebte und arbeitete er in der Nähe der Cevennen (Gard) in Barjac, Frankreich, seit 2007 lebt er in Paris. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Romanistik widmete er sich ganz der Malerei. 2008 wurde ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Der Preis gehe an „einen weltweit anerkannten Künstler, der seine Zeit mit der störenden moralischen Botschaft vom Ruinösen und Vergänglichen konfrontiert", heißt es in der Begründung der Jury. „Im Mittelpunkt steht eine von Vergangenheit zerfressene, zerstörte Gegenwart, die mit äußerst verknappter Rhetorik, mit Sprachlosigkeit präsentiert wird.

Die beeindruckende und sehenswerte Ausstellung ist bis 12. April im neuen Museum  in Tel Aviv zu sehen.          

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Letzte Änderung: 28.06.2012
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