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Aus dem Inhalt der Ausgabe 4/5– 2003

Bild von Griffit
Joshua Griffit, Acryl auf Sperrholz, 1997

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Sind Juden Kriegstreiber?

Da habt’s jetzt euren Krieg.

Bei Diskussionen zwischen Juden und Nichtjuden über den neuerlichen Waffengang im Mittleren Osten war während der vergangenen Wochen immer wieder dieser Satz zu hören.

„Euren“ Krieg?

Das offizielle Israel schweigt, ebenso wie übrigens die offizielle Vertretung der Palästinenser. Offene Sympathie für Saddam würde auf palästinensischer Seite eine ganz schlechte Ausgangsposition für die „Nachkriegsordnung“ im Nahen Osten schaffen. Und vor dieser Nachkriegsordnung graut jenen politischen Kräften in Israel, die einen Palästinenserstaat verhindern möchten, jetzt schon. Nach einem Sieg über des Saddam-Regime würde die USA als Geste gegenüber der islamischen Welt den Druck auf Israel erhöhen, einem Palästinenserstaat zuzustimmen. Der Untergang Saddams wäre damit ein Sieg für Yassir Arafat und eine Niederlage für die Falken unter den israelischen Politikern. Andererseits bildete der unberechenbare und gefürchtete Saddam in gewisser Weise einen Teil des labilen Gleichgewichts in der Region. Er hielt Iran und Syrien unter ständiger Spannung und neutralisierte damit Kräfte, die sich sonst anderweitig entladen hätten. Wie das künftig aussehen könnte, ist noch nicht klar. Der bewaffnete Konflikt zwischen den Alliierten und (Teile der) irakischen Armee schafft so manche überraschende Front. Juden befinden sich hier eher auf dem Rückzug.

Die Auseinandersetzung findet aber auch auf zahlreichen Nebenschauplätzen als Propagandaschlacht ihren Widerhall, und das beliebte Gesellschaftsspiel Sind Sie für oder gegen den Krieg? involviert quasi jeden beliebigen Passanten in die Bombenangriffe.

Für oder gegen Krieg? Wohl kein halbwegs zivilisierter Mensch kann auf diese Frage mit „für“ antworten. Natürlich muss jeder, der auch nur über ein Mindestmaß an Vernunft verfügt, gegen Krieg sein, ob Jude oder Nichtjude macht da keinen Unterschied (wie ja auch die Vernunft keinen signifikanten Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden macht). Also: Gegen den Krieg, Amis raus aus

Vietnam – pardon: Irak.

Und dann?

Es mag ja ein recht kurzweiliges Freizeitvergnügen sein, über die moralischen Implikationen des Mordens zwischen Euphrat und Tigris zu räsonieren. Möglicherweise sind aber die Schanigärten der Wiener Ringstraßenkaffeehäuser gar nicht der richtige Platz für Diskussionen zum Thema „Tyrannenmord oder Kolonialkrieg“. Vielleicht sollte diese Diskussion in den Folterkammern des Saddam-Regimes stattfinden. Oder unter den Verwandten jener Kurden, die vom irakischen Diktator mit Hilfe seiner „Republikanischen Garden“ vergast wurden. Oder unter den Müttern, Frauen, Kindern jener Regimetreuen, die aus einer Laune Saddams heraus erschossen oder zu Tode gefoltert wurden. Deren Kommentare wären möglicherweise weniger geschliffen als die in gemütlichen Redaktionen oder gespielter „embedded“-Authentizität entstandenen Kolumnen kluger Redakteurinnen und Redakteure, aber wahrscheinlich sind die Stimmen der gequälten und halbverhungerten Iraker authentischer als die mehr oder weniger begnadeten Fingerübungen halbgebildeter Lohnschreiber.

Eine moralische Rechtfertigung dafür, Menschen umzubringen, kann es nicht geben. Der einzige grundlegende und weltweit gültige Basiskonsens lautet: Ein Mensch darf einen anderen nie und unter keinen Umständen vorsätzlich töten.

Dieser Basiskonsens wird übrigens sowohl in den USA als auch von den Menschenrechtsexperten in Moskau und Peking, die beide zu den emsigsten Kriegsgegnern zählen, beharrlich ignoriert. (Woher ausgerechnet Russland und China ihre moralische Kompetenz ableiten, gegen die Alliierte Invasion zu argumentieren, bleibt ein Rätsel.)

Doch eine Beurteilung dieses Krieges – wie wahrscheinlich aller anderen davor – kann nicht aus der Position der Moral heraus erfolgen, sondern auf der Basis eines Kalküls: Wenn schon Krieg – sind dann die Opfer und Gefahren durch den Krieg größer als jene ohne diesen? Ist der Diktator eine Gefahr für die Region oder die Welt? Übersteigt das Leid, das er im eigenen Land und bei den Nachbarstaaten verursacht, schon verursacht hat und noch verursachen wird, das Leid der Kriegstoten und deren Angehörigen?

Ob Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfügt ist bis dato noch nicht exakt geklärt. Bewiesen ist allerdings, dass Lieferungen aus Deutschland und Frankreich – beides übrigens stramme Kriegsgegner – das Regime in die Lage versetzten, solche Waffen zu produzieren. Bewiesen ist, dass Zehntausende Kurden vergast wurden. Bewiesen ist, dass Saddam als Angehöriger der tonangebenden sunnitischen Minderheit unter der schiitischen Mehrheit des südlichen Irak mehrere Gemetzel durchführen ließ. Bewiesen ist, dass (übrigens auch westliche) Medien sehr oft über das embargo-geschüttelte verhungernde Volk berichteten, sehr selten aber über die mindestens 50 Paläste des Diktators, in denen Milliarden Dollar für unermessliche Pracht und unvergleichlichen Luxus versickerten.

Rechtfertigt das alles einen Krieg?

Diese Frage können wohl in erster Linie die Betroffenen beantworten – einschließlich jener verkrüppelten iranischen Kinder, die nach dem Überfall Saddams auf den persischen Nachbarn zum Minenräumen eingesetzt wurden und deren kleine Körper von irakischen Sprengmitteln zerfetzt wurden.

Nur eines ist aus der Geschichte zu lernen: Verhandeln, internationaler Druck und Appelle an die Moral, haben noch nie einen Diktator zum Aufgeben gezwungen, und ein Embargo lässt das Volk verhungern, doch in den Herrscherpalästen gibt es kein Elend. Das Ende der Tyrannis kann immer nur gewaltsam herbeigeführt werden. Wer gegen den Krieg ist, unterstützt damit Saddam Hussein.

David Landtmann

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Im Auge des Zyklons

Israel geniesst eine trügerische Ruhepause

Während im Irak die Kriegsmaschine donnert, sitzt Israel im Auge des Zyklons. Israel genießt eine trügerische Ruhephase. Keine Raketen sind eingeschlagen und nur gelegentlich erschüttert ein Anschlag die Stille. Die meisten ausländischen Reporter sind enttäuscht abgereist und selten unterbricht ein Bericht aus dem Heiligen Land die Kanonade der Meldungen aus Mesopotamien. Doch ist dies lediglich eine Verschnaufpause und nur Blinde sehen nicht schon den Sturm am Horizont.

Ende März ereigneten sich zwei wichtige Ereignisse, die in der Weltpresse keinen Anklang fanden: Erstens verurteilte ein israelisches Gericht zwei israelische Araber wegen Kollaboration mit einem Selbstmordattentäter zu je 300 Jahren Haft. Die zwei Brüder, welche den Attentäter beherbergt, informiert und ausgerüstet hatten, erklärten sich stolz grinsend schuldig. Selbst ihre Familien ließen sich keinerlei Scham anmerken; sie protestierten gegen das scharfe Urteil gegen die zwei Täter, welche aktiv geholfen hatten, neun Menschen zu töten und 51 andere zu verletzen.

Am selben Tag deckte der Shin Bet, der interne Sicherheitsdienst, eine Terroristenzelle samt Bombenlabor in dem arabischen Dorf Jaljulia innerhalb der grünen Linie auf. Der Islamische Jihad hatte die Männer rekrutiert, die schon 20 Kilogramm Sprengstoff hergestellt hatten bevor sie festgenommen wurden. Auch sie wollten eingeschmuggelte Selbstmordattentäter beherbergen und zu ihren Zielen bringen. Der Islamische Jihad hatte sich am Tag zuvor zu einem Attentat in Netanyah bekannt und es als „Geschenk für das Volk in Irak“ bezeichnet. Es steht zu bezweifeln, dass dieses Attentat wegen des fernen Krieges stattgefunden hat, aber die breite Akzeptanz für solche Taten unter Palästinensern kann man nicht bezweifeln.

Der Anfang der Intifada im September 2000 wurde noch von breiten Unruhen seitens der israelischen Araber begleitet. Tausende gingen auf die Straßen, sperrten Autobahnen und schlossen effektiv den Norden gänzlich vom Rest des Landes für mehrere Tage ab. Die Polizei ging damals hart gegen die Massen vor. Dabei kamen 13 Demonstranten ums Leben. Die Anführer der israelischen Araber selbst wurden vielleicht von der Intensität dieser Welle überrascht. Doch um von ihr nicht überrollt zu werden setzten sie sich schnell an ihre Spitze. Politiker wie der Knessetabgeordnete Tibi z. B. nannten Steinschleudern und das Werfen von Molotowcocktails eine legitime Form der demokratischen Meinungsäußerung.

Seither stand es nach außen ruhig um die Araber Israels. Von den Juden aus Angst aber auch aus Revanche boykottiert, litt die Kleinindustrie in den arabischen Dörfern schwer. Die einst lautstarken Vertreter einer militanten Emanzipation wie Tibi und Baracke, nach gescheiterten Versuchen, sie wegen Aufruf zum Terror vor Gericht zu stellen, wählen heute ihre Worte und Taten mit größerer Vorsicht. Doch hinter dem eitlen Sonnenschein braut sich ein Unwetter zusammen, für das die oben genannten Taten lediglich die Vorboten sind.

In den letzten zwei Jahren fand in der arabisch sprechenden Welt eine völlige Delegitimation des israelischen Staates statt. In allen Sendern des Nahen Ostens, inklusive Ägypten, welches einen Friedensvertrag mit Israel hat, wird ein offenkundiger Antisemitismus betrieben, der eine Dehumanisierung des jüdischen Israeli zum Mittelpunkt hat. Die ägyptische „Dokumentationsreihe“: „Ein Pferd ohne Reiter“ ist nur ein Beispiel von vielen. Neueste Umfragen zeigen, dass das Konzept des Staates Israel unter den israelischen Arabern nicht mehr akzeptiert wird. Von hier ist es nur ein kurzer Weg zur Insubordination und von hier zum Terror. Während die offizielle Linie in Israel noch beschwichtigt und von vereinzeltem „Unkraut“ spricht, ist klar eine steigende Tendenz zu erkennen. Wurden im Jahr 2000 nur acht Terrorgruppen israelischer Araber aufgedeckt, so waren es im Jahr 2002 schon 32.

Hier kommt der jetzige Krieg ins Spiel. Saddam Hussein ist einer der spendenfreudigsten Unterstützer der Selbstmordattentäter. Jede Familie eines solchen wurde mit Tausenden von Dollars von ihm unterstützt. Die Invasion der Amerikaner ist in den Augen vieler eine Parallele zu der israelischen Präsenz in Palästina. Die Palästinenser schöpfen Hoff nung von dem scheinbar langsamen Hergang des Krieges im Irak und den Verlusten der Koalition. So wie Hussein versuchte, von der palästinensischen Erfahrung in Jenin zu lernen, werden immer mehr hier versuchen, Taten im Irak zu kopieren. Die amerikanische Invasion im Irak hat die dunklen Elemente der arabischen Welt vereint, wie schon der Premier Ägyptens, Mubarak, bemerkte. Freiwillige strömen über Syrien nach Irak, um dort Selbstmordattentate zu begehen.

Für Israel erwachsen aus diesen Entwicklungen positive wie negative Folgen. Eine potentiell positive Entwicklung könnte eine noch stärkere Bindung zu der westlichen Welt sein, vor allem den USA und Großbritannien. In eine Schicksalsgemeinschaft eingebunden, wird Israel jetzt eher bei ihren Verbündeten Verständnis finden. Es könnte so zu der Entstehung einer geschlossenen Front gegen reaktionäre Islamisten zwischen den jetzigen Verbündeten der USA kommen, in der Israel fest mit eingebunden sein wird. Die kurze Leine, die die USA Israel bisher im Libanon gegen die Hisbollah gewährte, könnte daher gelockert werden. Der immerwährende Kontrahent Syrien hat sich in diesem Sinne ins falsche Lager begeben. Es ist zweifelhaft, dass Amerika Israel zu großen Konzessionen gegenüber einem Staat zwingen wird, der Saddam aktiv in diesem Krieg unterstützt.

Die möglichen negativen Entwicklungen sind jedoch sehr besorgniserregend: Erstens wird es zu einer immer größeren Bereitschaft unter israelischen Arabern kommen, den Terroristen tatkräftig zu helfen. Diejenigen, die in den Arabern schon immer eine fünfte Kolonne sahen, werden nun deutlich hörbarer. Es wird schwer für Israel sein, unter solchen Bedingungen weiterhin eine egalitäre Demokratie zu bleiben. Zweitens werden die antisemitischen/antiisraelischen Stimmen immer lauter werden, die mit derselben Schlussfolgerung der Palästinenser den Judenstaat für jeden toten amerikanischen Soldaten im Irak verantwortlich machen werden. Drittens werden die USA irgendwann die Araber beschwichtigen wollen, und was wäre da einfacher als Druck auf Israel. Schon sprechen Bush und Blair bei jedem ihrer Treffen von ihrer Karte für den Frieden. Viertens könnte ein in die Länge gezogener Verlauf des Krieges und seine Folgen im Irak den militanten Elementen unter den Palästinensern Mut und Inspiration einflößen. Dies würde das Einleiten eines echten und dauerhaften Friedensprozesses maßgebend erschweren.

Gil Yaron

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Marionette oder Gesprächspartner?

Machmud Abbas, der neue palästinensische Ministerpräsident

Abbas

Die Forderung Israels, des palästinensischen Volkes, wie des im nahöstlichen Friedensprozess engagierten „Quartetts“ – bestehend aus den USA, der EU, Russlands und der UNO – war nicht länger zu umgehen: der diskreditierte, von Jerusalem und Washington als irrelevant boykottierte, Palästinenserführer Yassir Arafat müsse seine bislang uneingeschränkte Macht mit einem Ministerpräsidenten teilen, um den „Fahrplan“ zum Nahostfrieden in Gang zu bringen.

Obwohl Arafat von der Idee des Verzichts auf die absolute Kontrolle über Politik und Finanzen nicht besonders begeistert war, musste er weichen. Sein Stellvertreter im Vorsitz der PLO, Machmud Abbas, auch als Abu Mazen bekannt, galt als der bevorzugte Kandidat der USA und Israels. Seine Ernennung wurde unvermeidlich und in aller Welt mit einem Aufatmen der Erleichterung begrüßt. Nur die Frage blieb unbeantwortet: wird Machmud Abbas über die notwendigen Vollmachten verfügen, ein ernster Gesprächspartner für einen nahöstlichen Frieden, oder aber eine Marionette Arafats sein, der auf das entscheidende Wort in Fragen von Sicherheit und der Beilegung des Konflikts mit Israel nicht zu verzichten bereit war?

Als Israels Premier Scharon, Verteidigungsminister Mofaz und Kommunikationsminister Paritzky Abu Mazens Ernennung zum palästinensischen Regierungschef eine „positive Entwicklung“ bezeichnet hatten, horchte man auf der israelischen Rechten auf. In den Tagen des Osloer Prozesses hatten sowohl das israelische Außenministerium als auch das State Department das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles ersucht, die Veröffentlichung einer Übersetzung der Schriften Abu Mazens zu unterbinden, in denen er eindeutig den Holocaust verleugnete und von „geheimen Beziehungen zwischen den Nazis und den Zionisten“ die Rede ist, mit dem Zweck, „den Nazimord an Juden zu intensivieren, um auf diese Weise Sympathien für die Idee der Schaffung eines jüdischen Staates zu gewinnen“. Wieso wurde der Mann, der noch vor wenig mehr als einem Jahr den Terror als „legitime Waffe des palästinensischen Volkes“ feierte und die „Zionistische Bewegung als die schwerste Bedrohung nicht nur der nationalen Sicherheit Palästinas, sondern auch der Sicherheit der arabischen Welt“ bezeichnet hatte, plötzlich zu einem akzeptablen Gesprächspartner, der demnächst von Präsident Bush im Weißen Hause empfangen und mit Premier Scharon verhandeln wird?

Bis zu welchem Maße Abu Mazen seine Ansichten über Israel, Zionismus und Terror geändert hat, ist schwer zu sagen. In der Tat war er aber einer der ersten palästinensischen Funktionäre, der den Mut aufbrachte offen die Militarisierung der Intifada zu verurteilen und als eine Katastrophe für die Palästinenser darzustellen. Seine Konfrontation mit Arafat, dem er das optimale Maß an Machtbefugnissen abgerungen hatte und bei der Wahl der Mitglieder seiner neuen Regierung auf Männer zurückgegriffen hatte, die – wie der wahrscheinliche Innenminister Dahlan in Gaza oder Jibril Rajoub auf der Westbank – nicht gerade zu den Lieblingen Arafats gehören, lassen Hoffnungen zu, dass er es mit den Reformen in der palästinensischen Behörde und mit der Aufräumung der Arafat’schen Korruption ernst meint. Gewiss, ohne massivem internationalen Druck hätte Arafat nicht klein beigegeben. Aber es wurde zugleich klar, dass die palästinensische Öffentlichkeit der katastrophalen Situation in den Gebieten überdrüssig wurde und einen echten Ministerpräsidenten mit klaren Vollmachten und konstitutioneller Autorität im Amt sehen will.

Abu Mazen wird allerdings um die wirklichen Befugnisse gegen einen nach wie vor machtvollen Arafat Tag um Tag zu ringen haben. Bis zu welchem Maße Arafat als „Präsident“ von seiner Autorität Gebrauch machen wird, Ministerpräsidenten zu ernennen und zu entlassen,wird sich weisen. Den Kampf um das Recht, Veto gegen die Ernennung von Ministern einlegen zu dürfen, hat Arafat verloren. Aber Abu Mazen weiß nur zu gut, dass er einen Weg finden muss mit Arafat auszukommen und Kompetenzen zu teilen, denn nach wie vor hat Arafat das letzte Wort in Friedensverhandlungen mit Israel und die alleinige Vollmacht, einen etwaigen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Israels Politwissenschaftler Hillel Frisch von der Bar Ilan-Universität meint dennoch, Abu Mazens Amtsübernahme werde den ersten Schritt der Verdrängung Arafats symbolisieren.

Derzeit gilt Abu Mazen als der namhafteste Repräsentant einer gemäßigten politischen Linie innerhalb der palästinensischen Führung, was noch unlängst nicht gerade zur Förderung seiner Popularität unter der palästinensischen Bevölkerung gedient hatte. Aber letztens macht sich eine deutliche Kampfmüdigkeit unter den Palästinensern bemerkbar, die erkannt haben, dass sie die Widerstandskraft Israels gegen Terror und Blutvergießen unterschätzt haben, ihre Freunde auf der israelischen Linken eingebüßt und politisch in die Wüste verdrängt, ihre eigene Wirtschaft und die seit dem Osloer Vertrag aufgebaute Infrastruktur eigenhändig zerstört haben. Ob es Abu Mazen allerdings gelingt auch die Unterstützung der Hamas, des Islamischen Jihad und sonstiger militanten Kräfte zu gewinnen, ist ungewiss. Abu Mazens enge Beziehungen mit den früheren Sicherheitschefs Jibril Rajoub und Mohammed Dahlan dürften es ihm vielleicht doch ermöglichen, diese Kräfte unter Kontrolle zu behalten und ihnen im Notfalle sogar mit Gewalt Einhalt zu gebieten.

Vom diesbezüglichen Erfolg hängt jeder Fortschritt im Friedensprozess ab. Denn selbst der in Israel nicht besonders populäre Friedensfahrplan des Quartetts sieht im Ende jeglicher Gewalt die Voraussetzung für jeden Fortschritt. Abu Mazens Erfolg oder Misserfolg wird natürlich auch von der Bereitschaft Israels abhängen, die totale Wiederherstellung der Waffenruhe durch Lockerung der Okkupation, der bei den Palästinensern verhassten „Checkpoints“ und Erleichterung des Alltags der palästinensischen Bevölkerung zu honorieren. Das sollte auch die Sympathien für militante Bewegungen wie Hamas und Jihad verringern und der Opposition gegen Abu Mazen entgegenwirken.

Ben Zakan

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Historikerkommission: Ende der Arbeit

Als die Historikerkommission 1998 in Reaktion auf die auch Österreich drohenden Sammelklagen und einer Anregung von IKG-Präsident Dr. Ariel Muzicant folgend eingesetzt wurde, standen die Mitglieder vor einer beträchtlichen Herausforderung. Das Mandat der Kommission – die Erforschung des Vermögensentzugs während der NS-Zeit auf dem Gebiet der Republik Österreich und der Rückstellung und Entschädigung nach 1945 – umfasste ein breites, in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung bis dahin nur wenig beachtetes Arbeitsfeld. Zusätzlich rankten sich um die Thematik zahlreiche Mythen und Legenden, deren Bandbreite zwischen der Behauptung „es ist alles zurückgegeben worden“ und jener anderen „es ist nichts zurückgegeben worden“ schwankte. Entsprechend unterschiedliche Erwartungen wurden an die Kommission und deren Arbeit geknüpft. Gemeinsam war diesen der Wunsch nach einer möglichst zahlenmäßigen Bilanz in Form der Gegenüberstellung des geraubten Eigentums auf der einen und des zurückgestellten/entschädigten Eigentums auf der anderen Seite. Eben diese Forderung jedoch konnte die Kommission nicht erfüllen. Schwierigkeiten der Geldwertumrechnungen angesichts von politischen statt wirtschaftlichen Wechselkursfestsetzungen oder Währungsschutzmaßnahmen nach 1945, Probleme in der Bezifferung beispielsweise des Wertes einer Immobilie zu verschiedenen Zeitpunkten und vor allem große Lücken in der Aktenüberlieferung aus der Zeit nach 1945 verunmöglichen eine quantifizierende Bewertung auf seriös wissenschaftlicher Basis. In dieser Hinsicht mussten also Erwartungshaltungen unvermeidlicherweise enttäuscht werden.

Bereits zu Beginn wurde die Historikerkommission aber auch mit dem Vorwurf konfrontiert, sie diene der Republik Österreich nur dazu, allfällige politische Entscheidungen über Entschädigungsmaßnahmen wie in der Vergangenheit nun wieder auf die lange Bank zu schieben. Den Mitgliedern der Historikerkommission war es jedoch ein wichtiges Anliegen, nicht als Vorwand für weitere Verzögerungen allenfalls instrumentalisiert zu werden. Daher legte die Kommission so rasch wie möglich Zwischenberichte zu zentralen Entschädigungsfragen vor: zur Zahl der noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, um eine Grundlage für die Festlegung der erforderlichen Gesamtentschädigung zu liefern, und einen Bericht zur offensichtlichsten Lücke der Rückstellungsgesetzgebung, des nicht verabschiedeten Gesetzes zur Rückstellung von Mietwohnungen bzw. gemieteten Geschäftslokalen. Beide Berichte trugen dazu bei, die Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter durch den Entschädigungsfonds und eine Pauschalentschädigung für entzogene Mietwohnungen durch eine Novelle zum Nationalfondsgesetz zu beschleunigen.

Insgesamt arbeiteten rund 160 Forscher und Forscherinnen für die Historikerkommission, die Ergebnisse ihrer Forschungen liefern erschreckende Einblicke in den Zynismus und die Rücksichtslosigkeit pseudolegaler Beraubungen, das Ausnützen existenzieller Probleme vor allem der Jüdinnen und Juden, aber auch die Bereicherungsstrategien Einzelner ebenso wie von NS-Institutionen oder Gebietskörperschaften. Sie benennen „Arisierungsspezialisten“, die vor allem auf regionaler Ebene ihr neu erworbenes „Expertenwissen“ in den Dienst des NS-Regimes, der „Ariseure“ aber auch in die Füllung ihrer eigenen Taschen stellten. Sie benennen auch städtische und dörfliche Gemeinden, die jüdische Liegenschaften unter Ausnützung der Zwangslage der Eigentümer weit unter dem Wert erwarben und sie wenig später zum tatsächlichen Wert an Kaufinteressenten weitergaben oder deren Liegenschaftsbesitz infolge der Auflösung von Stiftungen und Vereinen durch den Stillhaltekommissar deutlich wurde.

Wenn der nun vorliegende Schlussbericht auch keine buchhalterische Bilanz liefert, verdeutlicht er doch die ungeheuren Dimensionen des nationalsozialistischen Vermögensentzugs an Jüdinnen und Juden, aber auch zahlreichen anderen Gruppen und Institutionen. Dabei meint Vermögen aber mehr als Großgrundbesitz oder Ähnliches. Entzogen wurden auch die ganz alltäglichen Dinge ebenso wie die Nähmaschine der Flickschneiderin oder die Wohnwägen der fahrenden Roma und Sinti. Dem gegenüber stehen die – meist nur auf außenpolitischen, d. h. alliierten Druck zustande gekommenen – Rückstellungs- und Entschädigungsmaßnahmen, die über die Jahrzehnte nach und nach gesetzt wurden und damit ein auch für heutige Interessierte nur schwer zu durchschauendes Geflecht bilden und damit jedenfalls den Folgen der vorangegangenen Ereignisse nicht gerecht werden konnten. Selbst der – in der Realität kaum mögliche – Idealfall einer vollständigen Restitution aller entzogenen Güter bis hin zur vollständigen monetären Entschädigung der Konsequenzen von Berufsverboten hätte nicht ausreichen können, die Folgen von Existenz-, Heimat-, Sprach- und Statusverlust aufzuheben, den die Verfolgten hatten erleiden müssen. Der „Knick in der Lebenslinie“, wie es deutsche Autoren genannt haben, kann nicht wieder gerade gerichtet werden.

Vermögensentzug ist damit nur ein Teilaspekt – wenn auch ein bedeutender – der Verfolgungsgeschichte, deren Gesamtheit nicht aus dem Blick gelassen werden darf. Auf diese Weise konnte die Historikerkommission auch nur Teile dieser Verfolgungen aufzeigen und in ihrer Komplexität darstellen. Die Historikerkommission war kein Gericht, keine Schiedsinstanz, nicht aufgerufen, abschließende Urteile zu fällen. Die historische Realität war vielschichtig, sie kann nicht auf einfache Bewertungen reduziert werden. Es bleibt weiteren Forschungen überlassen, auf der Basis der Arbeiten der Historikerkommission weitere Untersuchungen durchzuführen, zusätzliche Aspekte zu beleuchten, tiefer in die Analyse der Enteignungsstrukturen vorzudringen. Die Berichte der Kommission sind aber jedenfalls eine Grundlage, jenseits von Legenden und Mythen sich der österreichischen Geschichte der letzten Jahrzehnte mit all ihren Schattenseiten zu stellen. Und damit wäre ein wesentlicher Zweck der Arbeit der Historikerkommission erfüllt.

Brigitte Bailer Galanda

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Schabbat-Kerzen wieder in Schanghai

Chinas jüdische Gemeinde feiert ihre Wiedergeburt

Kerzen

An jedem Freitag Abend versammeln sich einige Dutzende Juden und ihr Rabbiner im Konferenzraum eines luxuriösen Hotelturms in Schanghai zu einem uralten Ritual, das für etwa ein halbes Jahrhundert in China verschwunden war: dem Schabbat-Gottesdienst. Nach 50 Jahren gibt es auf dem chinesischen Festland wiederum jüdisches Leben.

Etwa 300–400 amerikanische und europäische Juden haben in Schanghai Fuß gefasst, um an der dramatischen Reform der chinesischen Wirtschaft mitzuwirken.

Ihren Höhepunkt hatte die jüdische Gemeinde von Schanghai während des Zweiten Weltkrieges erlebt, als rund 80.000 Juden hier Zuflucht vor den Nazis gefunden hatten. So gut wie alle verließen 1949, kurz nach der maoistischen Revolution, das Land.

Rabbi Shalom Greenberg, ein Repräsentant der orthodoxen Lubawitscher Bewegung aus New York, wurde zum geistigen Oberhaupt der langsam wachsenden Gemeinde. Er hatte sich 1998 in Schanghai niedergelassen, um den mit Dauervisen ausgestatteten ausländischen Juden ein religiöses Leben zu ermöglichen. Das Ergebnis ist klar sichtbar: eine koschere Bäckerei verringert die Abhängigkeit der auf Kaschrut bedachten Juden von importierten Lebensmitteln. Ein jüdischer Kindergarten, ein Jugendclub, ein Frauenverein stellen Bestandteile dessen dar, was man als jüdische Gemeinde von Schanghai bezeichnen kann.

Die meisten Mitglieder der Gemeinde sind Unternehmer oder hochrangige Angestellte multinationaler Konzerne. Sie repräsentieren das Judentum in einem Riesenland, in dem man noch vor kurzer Zeit an dessen Existenz nur durch Karl Marx oder den israelisch-arabischen Konflikt erinnert wurde. Die Gemeindeführer führen einen diplomatisch sensitiven Kampf um die Anerkennung des Judentums als einer der wenigen, offiziell zugelassenen Religionsgemeinschaften und wollen nun den Zugang zu Schanghais zwei noch bestehenden historischen Synagogen erreichen. Zunächst sind die Ergebnisse dieses Ringens eher bescheiden geblieben: nur zu Rosch Haschana und Chanukka war die Nutzung der 80jährigen Ohel Rachel-Synagoge zu religiösen Zwecken gestattet. Das Gebäude wird derzeit vom chinesischen Erziehungsministerium benutzt und die Judengemeinde muss sich vorderhand mit gemieteten Sälen ausländischer Hotelketten oder Privathäusern begnügen, wo ganz besonders zu den Hohen Feiertagen, aber auch an regulären Shabbatot Gottesdienste stattfinden, Bar- und Batmitzvas gefeiert werden.

Rabbi Greenberg ist schon für die Tolerierung organisierter jüdischer Aktivitäten durch eine Regierung dankbar, die jede organisierte religiöse Tätigkeit suspekt findet, insbesondere wenn sie Chinesen zur Konversion zu verleiten versucht. Offiziell werden zwar Buddhismus, Islam und Christentum anerkannt, aber auch deren Praxis wird in einer Weise beschränkt, die wiederholt zu internationaler Kritik Anlass gab. Wir haben ein Abkommen mit der chinesischen Regierung, keine lokalen Chinesen zu unseren Gottesdiensten zuzulassen, sagt Rabbi Greenberg.

Die Ohel Rachel-Synagoge wurde vom jüdischen Unternehmer Victor Sassoon im Jahre 1921 erbaut und bleibt eines der wenigen noch bestehenden Denkmäler einst strahlender jüdischer Präsenz in wenigen chinesischen Städten. In Schanghai hatte es schon in den 50-er Jahren des 19. Jahrhunderts ein aktives jüdisches Leben gegeben, mit einer multinationalen Mitgliedschaft von Amerikanern, Englän- dern und Franzosen. Zu jener Zeit hatten Juden einen erheblichen Beitrag zum kommerziellen Erfolg der berühmten Hafenstadt und deren kultureller Vielfalt beigetragen.

Während der japanischen Okkupation in den 30-er und 40-er Jahren war Schanghai einer der wenigen Orte, die jüdischen Flüchtlingen aus dem von Nazis okkupierten Europa Zuflucht boten. Die Japaner gestatteten etwa 30.000 dieser jüdischen Flüchtlinge im Getto Hongkew zu leben und ihre Religion zu praktizieren und zwar trotz massiven nazistischen Drucks, diese Juden zu liquidieren. Die meisten Juden überlebten und emigrierten nach dem Krieg, ohne jedoch ihre freundlichen Gefühle der Dankbarkeit gegenüber den chinesischen Gastgebern vergessen zu haben. Manche kamen in den letzten Jahren als Touristen nach Schanghai und trugen sich im Gästebuch der im Getto Hongkew restaurierten, 75jährigen Ohel Moshe-Synagoge ein.

Diese Synagoge wurde nach der kommunistischen Revolution in eine psychiatrische Klinik verwandelt. Gegenwärtig ist es ein nur gelegentlich geöffnetes und keinerlei religiösen Zwecken dienendes historisches Monument. Es ist ein emotionelles Erlebnis, in das alte Heim zurückzukehren, in dem ich die Kriegsjahre überlebte , schrieb der frühere US-Finanzminister W. Michael Blumenthal ins Gästebuch, als er das alte Getto besuchte. Dem Distrikt Hongkow und den Menschen von Schanghai sei für ihre Freundlichkeit gedankt und für ihre Hilfe, die Erinnerung lebendig zu erhalten.

Flora Menahamiya, deren Vater aus Österreich geflüchtet war, dankte den Menschen von Schanghai in dem Gästebuch, ebenso wie Herbert Broh aus Kalifornien, der in Hongkew seine Jugendjahre verbracht hatte.

Viele der heutigen Schanghaier Juden sind sich der großen jüdischen Geschichte dieser Stadt bewusst.Ich bin stolz darauf ein Schanghaier Jude zu sein, erklärt der aus dem texanischen Houston stammende 29-jährige Matt Trusch. Wir alle sind Bestandteil der neuen Geschichte von China und ich glaube, dass es ein wichtiges Geschichtskapitel sein wird.

Im Bemühen um die Modernisierung der Wirtschaft hat China die Tore des Landes vor Ausländern aller Nationalitäten und Religionen geöffnet und sah sich deshalb zu mehr religiöser Toleranz und kultureller Diversität verpflichtet. Nirgendwo kam dies mehr zum Ausdruck als in Schanghai, in das die chinesische Regierung und ausländische Konzerne Hunderte Milliarden Dollar pumpten. Viele China-Beobachter sehen darin ein Signal des Wunsches der Regierung, Hongkong als eines der Finanzmetropolen der Welt durch Schanghai zu ersetzen. Doch mit der eindeutigen Unterdrückung der Falun Gong–Sekte hat die chinesische Regierung zugleich signalisiert, dass sie entschlossen bleibt jeder organisierten Religionsströmung Einhalt zu gebieten, die eines Tages das herrschende Regime herausfordern könnte.

Judaismus wird in Schanghai Wurzeln schlagen und toleriert bleiben, weil es weder eine Gefahr für das Regime darstellt, noch Chinesen zum Judentum zu bekehren wünscht. Das Wachstum der Gemeinde hängt ausschließlich vom Wirtschaftswachstum in China ab.

Karin Gil

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Fotografie in der Emigration

Der Arzt und Fotograf Max Wolf

In der Galerie „Westlicht“ sind noch bis zum 20. April Fotografien von Max Wolf (1892–1990) zu sehen.

Bei den ausgestellten Bildern handelt es sich um eine Auswahl aus dem Nachlass, den die Ehefrau Grete Wolf dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek 1998 schenkte. Insgesamt umfasst diese Schenkung ca. 2.200 Schwarzweiß-Abzüge, ebenso viele Farbdias und zahlreiche Fotoalben. Einerseits zeigt die Ausstellung, zu der auch ein Buch erschien, einen Einblick in die historische Fotografie, andererseits erzählt sie ein spezifisch jüdisches Schicksal.

Max Wolf wurde 1892 in Wiener Neustadt geboren und folgte als einziger seiner Geschwister beruflich dem Vater und studierte Medizin in Wien. Damals prägten Größen der Wiener Medizinischen Schule wie Julius Tandler, Julius Wagner-Jauregg oder Karl Landsteiner den Ruf der Medizinischen Fakultät der Wiener Universität. Dem Studenten bot Wien ein anregendes Kulturleben – er zeigte großes Interesse für Literatur und Kunst, besuchte Lesungen, Konzerte, Theater und Oper. Das Studentenleben wurde aber vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs jäh unterbrochen. Wolf leistete Hilfsdienste in der Kranken- und Verwundetenstation Sternberg in Leipnik und promovierte 1916 zum Doktor. Kurz danach wurde er an der italienischen Front im Militärspital als Chefarzt der Infektionsabteilung und einer internen Abteilung eingesetzt. Durch die überwiegende Tätigkeit als Dermatologe während des Krieges hatte er reichlich Praxis und Erfahrung auf diesem Gebiet erworben, sodass er sich zur Ausübung dieses Faches berufen fühlte. Nach vier Jahren Tätigkeit im Krankenhaus auf der Wieden wechselte er auf eigenen Wunsch in die Allgemeine Poliklinik – Abteilung für Hautkrankheiten und Syphilis. Der junge Arzt beschloss früh, neben der Arbeit im Krankenhaus, auch privat zu ordinieren. Neben internationalen PatientInnen behandelte er unter anderen Zita und Otto von Habsburg, Kurt Schuschnigg oder Oskar Pilzer (Chef der Tobis-Sascha-Filmgesellschaft).

Stsrassenszenewolf

1927 heiratete er Margareta Langer im Tempel in der Seitenstettengasse. Es war dies die einzige Gelegenheit, zu der sie eine Synagoge aufsuchten, denn sie waren beide nicht religiös. Damals fingen sie bereits an zu reisen und Max Wolf begann, sich in seiner Freizeit der Fotografie zu widmen. Mit dieser Kunst kam er an der Poliklinik zum ersten Mal aktiv in Berührung, als er aufgefordert wurde, die Hautzustände von PatientInnen fotografisch festzuhalten, um den Heilungsfortschritt zu dokumentieren. Als erfolgreicher Arzt mit Privatpraxis konnte er es sich leisten, 1934 eine Kreuzfahrt im Mittelmeer zu unternehmen. Ein Foto, das während dieser Reise entstand, wurde zehn Jahre später in Amerika mit einer Goldmedaille prämiert.

Interessant sind auch die Lebensgeschichten seiner Brüder: Hugo war als Anwalt tätig und widmete sich neben seinem Beruf intensiv der Literatur. Als Schriftsteller wurde er von Karl Kraus gefördert. Alfred hatte sein Jusstudium abgeschlossen und wurde Komponist und Kapellmeister. Als Dirigent war er eng mit Wilhelm Furtwängler befreundet. Otto, ebenfalls Jurist, war Bankbeamter und heiratete in erster Ehe in die Familie Heller („Heller-Zuckerl“). Er floh 1939 nach Buenos Aires und lebte dort als Schriftsteller und Übersetzer spanischer Literatur. Julius, auch Jurist, entwarf lieber Mode und war Inhaber der Boutique „Elegance“ in der Kärntner Straße. Neben einer fundierten Ausbildung waren somit auch seine Brüder in irgend einer Weise künstlerisch tätig.

Nach der Machtergreifung Hitlers ließen sich die Wolfs in der Anglikanischen Kirche taufen. Sie glaubten, dass es genügte, sich mit einem Taufschein abzusichern. Nach dem Anschluss wurde aber die Lage für Österreichs Juden schlagartig lebensgefährlich. Vorerst gelang es Albert Göring, dem jüngeren Bruder von Hermann Göring, die Wolfs abzuschirmen. Albert Göring, der den Nationalsozialismus entschieden ablehnte, zog nach einem Zerwürfnis mit seinem Bruder nach Wien und nahm die österreichische Staatsbürgerschaft an. Von Zeit zu Zeit musste er für seinen mächtigen Bruder diverse Dienste erledigen, wofür er im Gegenzug freie Hand für seine eigenen Handlungen, die u. a. darin bestanden, bedrängten Juden zu helfen, sie mit wichtigen Informationen zu versorgen und vor Willkürakten zu schützen, erhielt. Göring sorgte dafür, dass die Wolfs an keiner der Straßenwaschungen teilnehmen mussten. Um drohender Deportation und Vernichtung zu entkommen, blieben aber schlussendlich nur Flucht und Emigration. Albert Göring kümmerte sich darum, dass Max und Margarete Wolf in kurzer Zeit die nötigen Papiere beschaffen konnten, dass sie wertvolle Möbel und Hausrat als Übersiedlungsgut mitnehmen durften und verhalf ihnen somit zur rechtzeitigen Organisation der Flucht über Jugoslawien in die USA.

Ende 1940 konnte Max Wolf in New York seine Arztzulassung erreichen und ein Jahr später eine eigene Privatpraxis eröffnen. Als Absolvent der einst berühmten Wiener Medizinischen Schule konnte er seine Karriere, die in Wien 1919 so vielversprechend begann, fortsetzen. Er praktizierte bis in hohe Alter von 97 Jahren, bis 1989, ein Jahr vor seinem Tod. Daneben erfüllte er ab 1941 zahlreiche Berufungen als Konsulararzt an verschiedenen New Yorker Krankenhäusern und als Vortragender der Post-Graduate Medical School - Skin & Cancer Unit an der New York University. Wenige Monate vor Kriegsende wurden Max und Grete Wolf amerikanische Staatsbürger.

Den notwendigen Ausgleich zu seiner ärztlichen Tätigkeit holte er sich beim Fotografieren. Max Wolf fand rasch zu der Erkenntnis, dass er mit dem Fotoapparat sowohl sein technisches als auch sein ausgeprägtes künstlerisches Verständnis verbinden konnte. Schon 1929 wurde seine Leistung bei einem Fotowettbewerb gewürdigt und im Wiener Photoklub, dem er von 1932 bis 1937 angehörte, erwarb er sich weitere nötige Kenntnisse. Dieser 1898 gegründete Klub gehörte zu den renommiertesten fotografischen Klubs Wiens, der einst prominente Mitglieder, wie Erzherzogin Maria Josefa (Mutter des späteren Kaisers Karl), Dora Kallmus (Madame d'Ora) oder Alfred Löwy, hatte.

Seine Motive fand Wolf nicht nur beim Wandern in den Bergen Österreichs, Südtirols und der Schweiz oder auf Urlaubsreisen am Mittelmeer, sondern auch unmittelbar vor seiner Wohnung am Stephansplatz. Von seinen Fenstern aus fotografierte er Ereignisse vor dem Stephansdom. Max Wolf lernte den Architekten und Fotografen Leo Haus kennen, der seine Filme entwickelte bzw. Abzüge nach genauen Anweisungen ausarbeitete. Wolf sandte ihm die Filme per Post nach St. Anton am Arlberg – auch noch, nachdem er Österreich verlassen hatte.

In der Emigration – an seinem ersten Fluchtort Dubrovnik – fotografierte Wolf die BewohnerInnen seiner Umgebung in ihren Trachten und traditionellen Kleidern. Er nahm dort auch erfolgreich an einem Fotowettbewerb teil.

Der Großteil seines Werkes entstand jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen den Jahren 1946 und Mitte der 70er Jahre. Von den zahlreichen Kongress- und Urlaubsreisen brachte er Motive aus der ganzen Welt mit in seine neue Heimat, noch keine Selbstverständlichkeit in jenen Jahren.

In seiner Auswahl unterschied er sich von den zeitgenössischen amerikanischen Fotografen grundlegend, seinen Fotografien haftet auch nach vielen Jahren in der Emigration etwas traditionell Europäisches an. Der Großteil der amerikanischen Fotografen fand seine Motive in den Großstädten, besonders in New York – ausgenommen die FotografInnen des FSA-Projektes zur Dokumentation über die Lebensverhältnisse besonders der amerikanischen Bevölkerung während der Jahre der Depression (Dorothea Lange, Ben Shahn, Walker Evans…). Wolf schien sich bewusst von dieser Bewegung abzusetzen, in seinem Werk sind keine New Yorker Straßenszenen zu finden, obwohl er dort gelebt hat. Nur wenige Bilder, Landschaftsaufnahmen und Alltagsszenen entstanden überhaupt in Amerika. Auffällig ist, dass Max Wolf immer wieder christliche Motive wählte: Kreuzigungen, Christusstatuen oder Kirchen. Zeichen moderner Errungenschaften, welche die Landschaften des 20. Jahrhunderts prägten, wie Strommasten, Silos oder Fabriken, sind in seinen Fotografien nicht zu finden. Neben eindrucksvollen Landschaften fotografierte er Menschen. Teilweise lässt sich in seinen Bildern ein gewisser Hang zur Ironie spüren. Wolf galt als humorvoller Mensch, was sich auch in seinen Bildern widerspiegelt. Seine Bilder zeichnen sich durch eine klare, sicher aufgebaute Komposition aus. Er beobachtete aufmerksam die ihn umgebende Welt und fing das Motiv mit sicherem Blick durch die Kamera ein. Obwohl er auch in Farbe fotografierte, blieb Schwarz-Weiß das Mittel seiner Wahl, um die vielen Facetten eines Motivs auszudrücken. In Reisevorträgen zeigte er ausschließlich Farbdias, Prints entstanden aber nur in Schwarz-Weiß. Er reiste stets mit zwei Fotoapparaten und nahm die Motive zweimal auf, einmal Schwarz-Weiß und einmal in Farbe für seine Diavorträge. Seine Dias brachten ein Stück von der Welt nach New York, da Reisen nach Europa, Afrika oder Südamerika damals für den Durchschnittsamerikaner unüblich waren.

Max Wolf war in erster Linie Arzt, die Fotografie betrieb er zum Ausgleich, wenngleich sehr intensiv. Während er als Arzt verpflichtet war, alle Behandlungen genau zu dokumentieren, nahm er sich bei seiner künstlerischen Beschäftigung die Freiheit, nichts zu beschreiben oder zu ordnen, sondern spontan abzubilden. Trotz der Spontaneität zeigen die Bilder ein Feingefühl für das Motiv und Sinn für Geometrie. Von den zahlreichen Hautzustandsbildern sind nur noch zwei bis drei Dutzend übrig geblieben. Alle anderen hat er weitergegeben an seine ehemaligen Hörer, die heute selbst erfahrene Ärzte sind, bzw. bereits ihre Kenntnisse an die nächste Generation weitergeben.

Dieses Schicksal ist ein weiterer Mosaikstein in der Geschichte der Fotografie ebenso wie in jener der jüdischen Emigranten aus Österreich.

Petra M. Springe

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Von Menschen und Ihren Trieben

Zum 70. Geburtstag von Philip Roth

Mein Leben als Sohn überschrieb Philip Roth Anfang der 90er Jahre Eine wahre Geschichte über sich und seinen Vater. Der damals 85-jährige Mann wurde, an einem Gehirntumor leidend, zum Kind des Sohnes. Von Vaterliebe und Liebesterror ist da die Rede und von Erinnerungen und Tod. Die Toten sind fort, und wir sind es noch nicht. Das ist eine fundamentale Tatsache und wie unannehmbar auch immer, leicht genug zu begreifen…

Seine zwei Jahre zuvor entstandene Autobiographie eines Schriftstellers trägt dann auch den Titel Tatsachen. Und um diese ging es Philip Roth immer, so authentisch er dem Lebensgefühl seiner Romanhelden auch immer nachspürte: Ob den spätpubertären Kapriolen in Portnoys Beschwerde“, dem amerikanisch-kleinbürgerlichen Vorstellungen von Idylle, die an der Realität des israelischen Alltags zerschellen in Gegenleben bis hin zu Obsessionen älter werdender Männer, die Roth so gnadenlos zu charakterisieren versteht.

Nun ist er am 19. März selbst siebzig Jahre alt geworden und sein rund 25 Titel umfassendes Werkverzeichnis bringt den 1933 in New Jersey Geborenen alle Jahre wieder für den Literatur-Nobelpreis ins Gespräch. Man kann sich ausrechnen, dass er ihn im Schwange der antisemitischen Dunstwolke in diesem Jahr wohl wieder nicht bekommen wird. Dabei hat er mit seiner Trilogie Amerikanische Idylle, Mein Mann, der Kommunist und Der menschliche Makel”, die Geschichte Amerikas im zwanzigsten Jahrhundert unbestechlich dargelegt. Das Thema einer unglaublichen Selbstverleugnung, die gelungene Grenzüberschreitung eines Schwarzen von seiner benachteiligten Minorität in die vermeintlich privilegierte der Juden, hat er literarisch wie psychologisch – allseits gelobt – gemeistert. Und sein jüngstes Werk Das sterbende Tier, das von der Leidenschaft eines alten Literaturprofessors zu einer Jahrzehnte jüngeren Studentin erzählt, steht dem in nichts nach. Wo das Triebhafte seine Macht im Alter zu verlieren beginnt, greifen Verlustängste und Verzweiflung um sich, aber auch die Erkenntnis anderer Werte. Der alte Mann wendet sich seiner einstigen Geliebten fürsorglich zu, als er von ihrer Krebserkrankung und dem Ende ihrer Makellosigkeit erfährt.

Das Bedürfnis, einen Autor in seinen Büchern widerzuspiegeln, ist groß, zumal Philip Roth sich seit Jahrzehnten fast allen Interviews und in jedem Falle jeglicher Leserkreise verweigert. Auch tragen seine Helden Kepesh, Portnoy, Tarnopol und Zuckerman, die immer wieder mal ihr Leben in Philip Roth-Büchern aufnehmen, Züge, die wohl ihrem Schöpfer zu eigen sind. Doch ihm geht es in Wahrheit immer um die „Suche nach Befreiung vom Selbst”.

Roth versteht es meisterhaft, die Beziehung der Geschlechter, die Veränderungen des menschlichen männlichen Körpers, seiner Psyche, Konflikte zwischen den Generationen und die vordergründigen Werte der Gesellschaft (hier eben der amerikanischen) zu thematisieren. Eine große Rolle spielt das Moment des Verrats an den politischen Überzeugungen, den Geliebten, Eltern wie Freunden. In der Begegnung von Kepesh mit seiner Exfreundin Consuela findet Roth in Das sterbende Tier für den Verrat an Consuela Worte wie diese: Der traumatische Augenblick ist da, wenn diese Verwandlung des Bildes vom anderen eintritt, wenn man erkennt, dass die Perspektiven des anderen keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den eigenen haben und er oder sie, ganz gleich, wie angemessen man reagiert und fortfährt zu reagieren, sterben wird, bevor man selbst sterben muss – wenn man Glück hat, lange bevor man selbst sterben muss.

Ellen Presser

Das Gesamtwerk von Philip Roth erscheint im Hardcover im Carl Hanser-Verlag, München, zuletzt:
Philip Roth: Das sterbende Tier. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, 165 S., Euro 17.40.

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Bücher

Der Ruf aus Wien

Die zionistische Bewegung Theodor Herzls

 

Der Autor Gennadi Kagan ist eigentlich Germanist und Übersetzer der deutschen Jahrhundertwendeliteratur beziehungsweise der Literatur des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts – er übertrug große jüdische Schriftsteller ins Russische – wie Franz Werfel, Hermann Broch, Josef Roth und vor allem seinen Lieblingsautor Stefan Zweig. An Stefan Zweig angelehnt ist auch der Titel seiner Biographie „Die Welt von gestern – Heute“. Judentum und Zionismus sind Themen, die ihn seit jeher faszinierten. In seinem Buch, der „Prophet im Frack“, setzt sich Kagan mit der Persönlichkeit Herzls und dem Wandel des Begriffes Zionismus auseinander. In dem vorliegenden Werk „Der Ruf aus Wien –Die zionistische Bewegung Theodor Herzls unter dem Zarenadler“ untersucht Kagan die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geöffneten Archive der zaristischen und sowjetischen Machthaber. In monatelanger Kleinarbeit hat Kagan in den Archiven zahllose Aktenbündel und Tausende von Seiten gesichtet. Das Resultat ist beachtlich. Unter anderem geht es um den Besuch Herzls in Petersburg und der nicht zustande gekommenen Audienz bei Zar Nikolaus II. Wie der Autor in seinem ausführlicher Vorwort vermerkt – empfand er bei Durchsicht dieses Materials ganz intensiv den Diebstahl, den sowohl die zaristische als auch die kommunistische Geheimpolizei an ihm und seinen russischen Landsleuten durch die Unterdrückung der Wahrheit beziehungsweise einer verzerrten Darstellung der Tatsachen begangen hat. Einen unverhältnismäßig großen Raum in den nun zugänglichen Dokumenten beanspruchte die „Jüdische Frage“, die ausführlich bis ins kleinste Detail erörtert wurde. Erstaunlich wie zaristische Kommissäre detaillierte Berichte über die Ereignisse bei den Zionistenkongressen lieferten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob Scharen von Geheimpolizisten angesetzt wurden, um jüdischen und zionistischen Tätigkeiten innerhalb und außerhalb Russlands nachzuspionieren. So gibt es genaue Aufzeichnungen des Treffens Herzls mit dem damaligen Innenminister Plehwe, der das grausame Pogrom in Kischenew im Jahre 1903 sanktioniert und teilweise organisiert hat. Plehwe erkannte nach den Reaktionen auf dieses Morden im In- und Ausland, dass eine Lösung des Judenproblems erstrebenswert war, da diese antijüdischen Aktivitäten die breite Masse der Juden den revolutionären Bewegungen in die Arme treiben könnte. Bei seinem neuntägigen Besuch in Russland traf Herzl die führenden Persönlichkeiten des Landes, eine Audienz beim Zaren blieb ihm jedoch versagt. Es fand während seines Aufenthaltes eine lückenlose Bewachung all seiner Aktivitäten statt. Kagan zitiert minutiös die teilweise sehr schwer zu findenden Dokumente und entwirft ein lebendiges und spannendes Bild der Situation der Juden im zaristischen Russland, der Sowjetunion bis in die späten neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Im Anhang kann man den Wandel der Definition des Begriffes Zionismus am Beispiel Enzyklopädien aus verschiedenen Jahrgängen deutlich ersehen. In der Sowjetunion der 80-er Jahre gab es nur das Problem des Zionismus, das die Stelle des jüdischen einnahm. Dieses informative Werk, das sich eingehend mit der Geschichte Russlands, des Judentums und Israels auseinandersetzt, ist jedem zu empfehlen, der Interesse an diesem Themenkreis hat – er findet darin sehr viele neue Erkenntnisse und wissenswerte Details.

Joanna Nittenberg

Gennadi E. Kagan. Der Ruf aus Wien. Die Zionistische Bewegung Theodor Herzls unter dem Zarenadler. Böhlau, 2002, 412 S., Euro 49,–.

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Liebe im 3. Reich

Zur Geschichte von "Aimée & Jaguar"

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Bereits vor Jahren hat die Autorin Erica Fischer die Liebesgeschichte zwischen Felice Schragenheim und Lilly Wust veröffentlicht. Unter dem gleichnamigen Titel „Aimée & Jaguar“ wurde diese Geschichte, wie in der Illustrierten Neuen Welt berichtet, verfilmt. Nun haben Erica Fischer und Christel Becker-Rau einen Band zu der von ihnen konzipierten Ausstellung „Das kurze Leben der Jüdin Felice Schragenheim“ veröffentlicht, der mit Bildern, Texten, Dokumenten (von Schulzeugnissen über Ausweise bis hin zu Behördenkorrespondenz), Fotos, Berichten, Liebesbriefen und Gedichten sehr aufschlussreich die Hintergründe dieser mutigen Liebesgeschichte anschaulich macht. Ein Einzelschicksal im Meer der Millionen Opfer und Toten der Nazidiktatur, das somit aus der Anonymität heraussticht. Das Material stammt überwiegend aus dem Besitz der vierfachen arischen Mutter Lilly Wust und dokumentiert ihre Liebe zu einer Jüdin, die unter falschem Namen als Journalistin und Sekretärin bei einer Nazi-Zeitung in Berlin arbeitete. Die Liebe zueinander veränderte das Leben beider Frauen grundlegend. Lilly ließ sich scheiden, Felice gab ihre Tarnung auf und lieferte sich dadurch ihrer großen Liebe aus. Das Glück der beiden währte aber nur kurze Zeit. Felice Schragenheim wurde im Sommer 1944 in Berlin von der Gestapo gefasst, deportiert und vermutlich fünf Monate vor Ende der Nazi-Herrschaft in Bergen-Belsen ermordet.

Petra M. Springer

Erica Fischer: Das kurze Leben der Jüdin Felice Schragenheim „Jaguar“, Berlin 1922 – Bergen-Belsen 1945.
Mit Reproduktionen und Fotos von Christel Becker-Rau, dtv, 2002. 199 S., Sonderformat. Euro 25,70.

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Fritz Muliar

Seit Jahrzehnten gilt er als ‚Urgestein‘ der österreichischen Theater-, Schauspiel- und Literaturszene: Mit Engagement, Witz und voller Liebe zu Österreich weiß Fritz Muliar wie kaum ein anderer die bunte, lebendige Vielfalt unseres Landes zu vermitteln.

Fritz Muliar kam am 12.12.1919 in Wien zur Welt. Im Elternhaus des kleinen „Fritz“ (Geburtsname Friedrich Ludwig Stand) lebten zwei Religionen in friedlicher Eintracht miteinander: Die Mutter war Christin, der Stiefvater (Muliar: „Ein großartiger und wunderbarer Mensch“) stammte aus einer streng gläubigen jüdischen Familie. Die Erinnerung an das friedliche Miteinander der Kulturen prägte ihn eben so sehr wie der jüdische Humor und der jiddische Dialekt.

Schon früh bemerkte die Familie das große schauspielerische Talent des Jungen und ermöglichte ihm – obwohl alles andere als wohlhabend – die Schauspielausbildung am Konservatorium. 1937 erhielt Fritz Muliar sein erstes Engagement im legendären „Lieben Augustin“. Die „große Dame des Theaters“ Stella Kadmon hatte dieses literarische Cabaret gegründet, wo die Wiener unter anderem kurze Stücke von Tucholsky und Erich Kästner sehen konnten. Am 10. März 1938, nur einige Monate nach Muliars Engagement, musste das beliebte Cabaret den Spielbetrieb einstellen.

Seine Liebe zu Österreich und den Glauben an die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes hatte Muliar nie aufgegeben – das sagte er auch deutlich, was ihm eine lange Haftstrafe mit mehrmonatiger Einzelhaft einbrachte. Kurz darauf wurde er eingezogen, an die Front geschickt und geriet in Kriegsgefangenschaft.

Nach dem Krieg blühte das Kulturleben in Österreich allmählich wieder auf, und Muliar war mitten drin: Bald nach seiner Rückkehr trat er in Graz und Innsbruck auf, bald auch am Volkstheater und Raimundtheater. Neben der „ernsthaften“ Schauspielerei widmete er sich seiner großen Liebe, dem Kabarett – ab 1951 im berühmten Kabarett Simpl, an der Seite von Bühnengrößen wie Karl Farkas, Ernst Waldbrunn, Maxi Böhm, Heinz Conrads und Ossy Kollmann.

Mit dem Theater in der Josefstadt ist Fritz Muliar tief verbunden, seit 1964 ist er dort immer wieder zu sehen. Zwar war Fritz Muliar von 1974 bis zu seiner Pensionierung 1990 festes Ensemblemitglied des Burgtheaters, doch danach kehrte er wieder an die Josefstadt zurück. „Den Othello muss ich nicht spielen“, meinte er schon damals, „ich bin ein Darsteller des kleinen Mannes“.

Tatsächlich feierte Muliar mit seinen perfekten Darstellungen von „kleinen“ Leuten einige seiner größten Erfolge: Sein „Peachum“, der proletarische Bettelunternehmer aus Brechts Dreigroschenoper, brachte ihm die Kainz-Medaille. Seine Interpretation des „Braven Soldaten Schweijk“ in der gleichnamigen Fernsehserie (Österreich 1972) fand im gesamten deutschen Sprachraum höchsten Anklang – bis heute zählt Fritz Muliar zu den in Deutschland bekanntesten Österreichern. Der „Schweijk“ war übrigens beileibe nicht seine einzige Film- und Fernsehrolle: In über 50 österreichischen Produktionen, von „Geheimnis einer Ärztin“ (1953) und „Lumpazivagabundus“ (1956) über „Liebe durch die Hintertür“ (1969) und die TV-Serie „Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk“ (1972) bis hin zu jüngeren Produktionen, wie etwa Felix Mitterers bestürzendem „Sibirien“ (1991), welches übrigens auch seit kurzem als Hörbuch bei Preiser vorliegt.

Mitverantwortlich für Muliars große Erfolge ist sicherlich sein nahezu perfektes Gefühl für Sprache und Dialekt: Von Fritz Muliar heißt es, er habe so etwas wie ein „fotografisches Gedächtnis für Sprache“: Besonders das wienerische Raunzen beherrscht Muliar perfekt – vermutlich eine Auswirkung von dreizehn Jahren Simpl an der Seite der Größen des heimischen Kabaretts. Auch im „Böhmakeln“ gilt er als unübertrefflich.

Internationalen Anklang fand er aber vor allem mit einem Dialekt, der in seinen jungen Erwachsenenjahren nahezu vollständig ausgerottet worden war – dem jiddischen Slang, Witz und Intellekt, den er in seiner Kindheit zu Hause erlebt hatte. Bereits seit den 1960ern – damals teils heftig umstritten – präsentierte Muliar auch jüdisch-europäische Witze und Anekdoten, aber auch Literatur. Und gab damit Österreich wenigstens einen Teil seiner vielfältigen kulturellen Identität wieder, die von den Nazis so gründlich zerstört worden war. Dazu zählen etwa erfolgreiche Sammlungen wie „Damit ich nicht vergess‘ Ihnen zu erzählen“ oder „Fritz Muliar erzählt jüdische Witze“, die aufgrund der stetig hohen Nachfrage immer wieder neu verlegt werden.

Ernsteren Hintergrund haben die „Mendel-Briefe“ von Sholem Alejchem: Der bekannte osteuropäische Autor (1859–1916) schilderte voller Humor, aber auch Mitleid und Anteilnahme die elende Situation der osteuropäischen Juden. Mit genial-kauziger Stimme liest Muliar die „Briefe des Menachem Mendel“, in deren Mittelpunkt ein unverbesserlicher Optimist, ja Phantast steht, der sich mit der Armut nicht abfinden will und trotz allen Unbills immer wieder neue Geschäfte zu machen versucht. Allerdings immer vergeblich – wie so viele von Muliars Bühnenfiguren ist auch Mendel eine „kleine“ Figur, ein – wie man heute wohl sagen würde – Loser.

Typischerweise war auch die letzte Bühnenrolle von Fritz Muliar – seit 1975 offiziell „Professor“, man ist ja schließlich in Österreich – einer der „kleinen“ Leute, die er so sehr schätzt und so oft perfekt verkörpert hat. 2002 spielte er in der Josefstadt den Hausknecht Muffl aus Nestroys „Frühere Verhältnisse“. Und zog sich anschließend für immer von der Bühne zurück.

Bis heute hat er sich Witz und Engagement bewahrt, tritt bei Benefizveranstaltungen für Bedürftige auf und gestaltet Soloabende mit Highlights aus Kabarett, Kleinkunst und Kaffeehausliteratur, etwa Egon Friedell, Roda Roda oder Anton Kuh – natürlich im Kaffeehaus.

David Skreiner

CD - Tipps:

Fritz Muliar erzählt jüdische Witze, Folge 1 und 2
Fritz Muliar, Jüdischer Geist, jüdischer Witz, live aus dem Wiener Burgtheater
Fritz Muliar liest Scholem Alejchems „Briefe des Menachem Mendel“
Fritz Muliar liest Polgar, Friedell, u.a.
Fritz Muliar in Felix Mitterers Sibirien
Alle CDs sind bei Preiser Records erschienen

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Das neue Paradies

Daniela Nittenberg, New-York-Korrespondentin der INW, sprach mit Ilana Lilienthal

Den INW-Leserinnen ist die israelische Künstlerin Ilana Lilienthal sicher von ihren viel beachteten INW-Titelbildern her bekannt. Am 1. Mai wird im Yeshiva Museum in New York ihre Ausstellung „The New Paradise“ (das Neue Paradies) eröffnet. Eine der ausgestellten Skulpturen, „Tree of Life“ (Baum des Lebens), war schon letztes Jahr im Yeshiva Museum zu sehen und vermittelte uns gewissermaßen einen ersten Vorgeschmack auf ihre Kunst. Lilienthals Werke, die sich stilistisch nur schwer einordnen lassen, wirken in ihrer Einzigartigkeit universell und zeitlos. Sie deuten auf eine außerordentlich originelle Künstlerin, die weder Modeströmungen noch einer bestimmten Kunstrichtung folgt.

leuchtkunst
Ilana Lilienthal: Adam und Ava

Ilana Lilienthals Leben und künstlerische Entwicklung sind jedoch – paradoxerweise? – stark in der Realität verankert. Sie wurde in Tel Aviv geboren, absolvierte zwei Jahre israelischen Militärdienst. An der Tel Aviv University studierte sie Kunstgeschichte und Religionswissenschaften, in Jerusalem erwarb sie einen Abschluss in Sozialarbeit an der Hebrew University. In New York besuchte sie die renommierte Parson’s School of Design.

In den letzten zwei Jahrzehnten stellte die israelische Künstlerin auf der ganzen Welt aus: im Deutschen Museum in München, im Metropolitan Museum in New York, in Galerien in Tel Aviv, München und New York. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie in Florida.

Formal gesehen tendiert Lilienthal zur Abstraktion – ihre Werke haben sich merklich vom Subjekt distanziert um uns Ideen und Bewusstseinszustände auf ungegenständliche Weise näherzubringen. Ihre späteren Arbeiten bestehen aus lichtreflektierenden Materialien, sprühen vor Farbe, Licht und Energie und ähneln in ihrer betonten Plastizität imaginären Mondlandschaften. Als wichtigstes formales und inhaltliches Element ihrer Bilder kann wohl das Licht selbst gelten, das sie in all seinen Formen und Erscheinungen einzufangen, wiederzugeben, zu modulieren sucht. Inhaltlich sollen Licht und Farbe uns eine neue, spirituelle oder transzendentale Dimension erschließen und uns auf diese Weise an einer universalen, kosmischen Energie teilhaben lassen.

Ilana Lilienthal kann legitim als Schöpferin eines neuen Idioms – einer Mischung aus Malerei und Skulptur – bezeichnet werden, das sie „Formalen“ oder „Sculpainting“ (eine Kombination von Malerei und Skulptur) nennt.

Zum ersten Mal fügt die Künstlerin ihren Werken auch Texte bei, welche zu integralen Bestandteilen ihrer Installationen werden.

Im Folgenden einige Auszüge aus einem Interview, das Ilana Lilienthal anlässlich ihrer Ausstellungseröffnung in New York gab:

INW: Ilana Lilienthal, was hat Sie zu Ihrer letzten Ausstellung inspiriert?

Ilana Lilienthal: Die gesamte Ausstellung basiert auf einem von Alexander und mir entwickelten Konzept. Seit wir uns kennen, unterhalten wir einen steten, unglaublich fruchtbaren Dialog. Wir kamen an einen Punkt – auch in unserer Beziehung – an dem dieses Thema uns einfach faszinierte. Die Ausstellung entstand aus einer intensiven Zusammenarbeit, in der Alexander für die Texte verantwortlich zeichnete und ich selbst für die Werke.

INW: Könnten Sie uns in einem kurzen Rundgang durch die Ausstellung geleiten?

I. L: Meine Ausstellung „The New Paradise“ (Das neue Paradies) besteht aus sieben aufeinander bezogene Installationen aus Plexiglas, faseroptischen und lichtreflektierenden Materialien, Kristallen und Licht. Ziel ist es, den Betrachter in eine andere, transformierende und gleichzeitig „transformative“ Dimension zu versetzen. Das neue Paradies enthält alle in der Bibel beschriebenen Elemente: Adam und Eva, die Schlange, Wasser, die Paradiespforte, den Baum der Erkenntnis… und dann gibt es noch Abstraktionen: Energieflüsse, Kristalle, Gold …

INW: Eva scheint hier eine besondere Bedeutung zuzukommen …

I. L: Eva soll in einem neuen Licht gezeigt werden – als Lebensstifterin und als jene Kraft, die Adam zu einem neuen Bewusstsein zu erheben suchte. Das hebräische Wort, das wir mit Erkenntnis übersetzen, beinhaltet die gleiche Wurzel im Hebräischen wie Wissen und Bewusstsein. Wenn Eva also Adam dazu auffordert, vom Baum der Erkenntnis zu essen, meint sie ihm – und damit der Menschheit – die Möglichkeit eines höheren Bewusstseins zu eröffnen, gottesähnlicher zu werden. All diese Elemente sollen den Betrachter "erheben", ihn verwandeln, ihn ein Teil des „Neuen Paradieses“ werden lassen …

INW: Ilana, vielen Dank für das Gespräch!

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Letzte Änderung: 03.01.2012
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