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Aus dem Inhalt der Ausgabe Nr. 12/1– 2001/2002


Freche Frage

Das Leben eines Politikers aus einer Regierungspartei könnte so schön sein: Erfreuliches Einkommen, mäßig anstrengendes Arbeitsumfeld und die Befriedigung, Macht über andere ausüben zu können. Ein wenig getrübt wird die Beschaulichkeit freilich durch unangenehme Ereignisse, beispielsweise Wahlen, die einen ziemlich rasch ins Nirwana befördern können.

Aber auch drei lästige Personengruppen stören die Beschaulichkeit:

– Politiker der anderen Parteien, die auch einen Zipfel der Macht (gegebenenfalls auch mehr) wollen. Da kommt es drauf an, wie gut es gelingt, mit Steuergeld eigene Propaganda zu betreiben, bevor die anderen am Ruder sind.

– Politiker der eigenen Partei, die am Sessel sägen, um selbst an den Futtertrog zu kommen. Da helfen entweder regelmässige Säuberungswellen oder Entsorgungsaktionen auf Abschiebeposten.

– Und – last, but not least – Journalisten, die mit unangenehmen Fragen und ebensolchen Berichten und Kommentaren das gern vermittelte rosarote Bild empfindlich stören.

Beispielsweise mit einer Frage an den Bundeskanzler, mit der Aufklärung über eine Veranstaltung der aus Steuermitteln geförderten, FPÖ-nahen Zeitung ZUR ZEIT gefordert wurde. "Ich verstehe überhaupt nicht, wo sie das moralische Recht hernehmen, jemanden als Antisemiten hier in Österreich zu bezeichnen", herrschte Wolfgang Schüssel den vorlauten Korrespondenten der israelischen Zeitung "Haaretz" an.

"Hier in Österreich" tut man so etwas also nicht. Man fragt besser nicht, ob und warum hier Steuergeld in eine Zeitung gepumpt wird, die nicht bloß im böswilligen Ausland als rechtsextrem empfunden wird. Man fragt besser nicht, welche Personen deren Herausgeber zum Feiern einlädt – das könnte ja die größere Regierungspartei stören und bringt den Chef der kleineren Regierungspartei, der gleichzeitig Bundeskanzler ist, offenbar aus der Fassung.

Meinungsfreiheit ist ein empfindliches Pflänzchen. Dass die jeweils Mächtigen so ihre Probleme damit haben, wundert wohl niemanden. Schon Bundeskanzler Bruno Kreisky verlor bisweilen die Contenance – man erinnert sich noch daran, wie der "Medienkanzler" auf eine unangenehme Frage mit einem überheblichen "Lernesn" erst einmal Geschichte, Herr Reporter" reagierte.

Doch der Umgang der derzeitigen Regierung mit der Meinungsfreiheit beschränkt sich keineswegs nur auf verbale Ausritte. Mit der Novellierung der Strafprozessordnung sollte eine Bestimmung eingeschleust werden, nach der Journalisten erstmals wieder eingesperrt werden, sofern sie aus Prozessakten berichten. Der entsprechende Paragraph wurde "abgemildert"; jetzt winken "nur" hohe Geldstrafen.

Und das neue Informationssicherheitsgesetz bedroht abermals Journalisten mit Gefängnis, wenn sie über Sachverhalte berichten, die zwar stimmen, die aber die jeweils Mächtigen (Minister, Landesregierungen etc.) als "Geheimnis" deklariert haben. Die entsprechenden Bestimmungen im Entwurf sind so schwammig formuliert, dass jeder Behörden- und Justizwillkür Tür und Tor geöffnet wären.

Ein Ende der kritischen Berichterstattung in Österreich? Medien dürfen nicht mehr berichten, wenn der Staat gegen seine Bürger vorgeht? Von AKH-Skandal bis Spitzelaffäre sind einige Themen denkbar, die den Regierender nicht ganz angenehmen sein dürften, und deren publizistische Aufarbeitung mit dem Informationssicherheitsgesetz verhindert werden kann. Graue Theorie? Die Reaktion des Bundeskanzlers auf eine berechtigte Journalistenfrage hat gezeigt, dass die Regierung so ihre Probleme mit der Meinungsfreiheit haben dürfte. Und wenn man schon die Macht hat – warum sollte man solche Probleme nicht beseitigen?

fcb

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Spätherbst am Semmering

Es ist eine malerische Kulisse. Bunte Blätter fallen auf sanfte Hänge, friedlich steigt der Rauch aus den Schornsteinen – Spätherbst am Semmering. In der idyllischen Umgebung, gerade 80 Kilometer von Wien entfernt, fand ein medial viel beachtetes Symposium der Zeitung ZUR ZEIT des Kulturberaters Jörg Haiders, Andreas Mölzer, statt. Führende europäische "Rechtsausleger" waren angekündigt. Etwa Bruno Megret, früher treuer Begleiter Le Pens und nunmehr sein Kontrahent, der radikale Antisemit Istvan Csurka aus Ungarn, Chef der MIEP sowie auch Heinrich Lummer, früherer CDU-Innensenator in Berlin und nun Gefährte des rechtskräftig verurteilten Rechtsradikalen Joachim Siegerist. Nicht zu vergessen den Chef des Vlaams Blok, Filip deWinter.

Die Veranstaltung beginnt mit festlichen Reden und Musik. Ein herbeigeholter Barde bietet Couplets von Nestroy mit aktualisierten Texten. Besonders viel Beifall gibt es beim Thema "Wiedergutmachung". Am Nachmittag findet eine Podiumsdiskussion statt – Medienvertreter vorsichtshalber ausgeschlossen.

Abends dann ein Essen im kleinen vertrauten Kreis. Der Autor dieser Zeilen reserviert einen Tisch und sitzt mit einer couragierten Kollegin der Wiener Stadtzeitung Falter im Nebenraum. Die festlich gestimmten Symposiumsteilnehmer werden leicht nervös, ein Teilnehmer ersucht uns höflich um frühere Beendigung von Essen und Trinken. Im Nebenraum erste Gesangsversuche, die freilich jäh im Keim erstickt werden.

Gegen Ende des Abends stellt sich Verlagsleiter Walter Tributsch einem Gespräch. Freundlich und verbindlich erklärt er den Zweck der Veranstaltung – mit dem resignierenden Nachsatz: "Sie werden sowieso schreiben was Sie wollen, wir kriegen mediale Aufmerksamkeit", gibt er sich professionell und realistisch.

Am Sonntag findet schließlich eine viel beachtete Pressekonferenz statt. Die Teilnehmer beklagten die "Political Correctness" der Medien, die gegen ihre Anliegen gerichtet sei. Welche der Teilnehmer am Podium nach Israel einreisen dürften? Heinrich Lummer erklärte umständlich einen Vorfall aus dem Jahre 1998, bei dem Joachim Siegerist eine Reise nach Israel in Istanbul zwangsunterbrechen musste, zum "Missverständnis". Istvan Czurka wiederum denkt gar nicht daran, nach Israel zu reisen, außerdem "weise ich diese provokante Frage zurück", sagt der bullige Rechtspopulist. Heinrich Lummer wird nach antisemitischen Aussagen Csurkas gefragt, und danach, ob diese zur Gemeinsamkeit dieses freundschaftlichen Treffens rechter Kräfte gehörten. "Quatschkopf" tönt es im Raum. Haiders Kulturberater Mölzer bezeichnet den Fragestil als "inquisitorisch". Eine Person im Publikum zeigt sich entrüstet, und hält dem Frager vor, honorige Herren zu Unrecht diskreditieren zu wollen.

Eine Frage nach dem Zitat eines rechtsradikalen kroatischen Schriftstellers, dessen Buch in der letzten Ausgabe von ZUR ZEIT zitiert wurde, wo Kroatiens Präsident Stipe Mesic als "Judas von Kroatien" eingestuft wird, droht die Pressekonferenz endgültig zu kippen. Stipe Mesic entschuldigte sich vor kurzem vor der Knesset für Verbrechen der Ustascha, die zwischen 1941 und 1944 in Kroatien an Juden verübt wurden.

Nach der etwas turbulenten Pressekonferenz gibt es noch die Gelegenheit, mit Filip deWinter zu sprechen. Der in Sprache und Auftreten durchaus verbindlich wirkende Chef des belgischen Vlaams Block legt Wert auf die Feststellung, seine Gruppierung würde ein gutes Einvernehmen mit Juden in Antwerpen und außerhalb pflegen. DeWinter besuchte das Washington Holocaust Museum und würde auch gerne demnächst Yad Vashem besuchen.

Am Dienstag nach dem Ministerrat wird Kanzler Wolfgang Schüssel zum Treffen befragt. Immerhin wird die einladende Zeitschrift ZUR ZEIT ja mit 800.000 Schilling Presseförderung bedacht. Auf die Frage ob er es akzeptiere, dass Österreich eine Art Walhalla-Gruft für Rechtsextreme werden könnte, geriet Österreichs Kanzler regelrecht in Rage – und verteidigte die Rechtsmäßigkeit des Treffens und die Teilnehmer.

Die Kommentatoren österreichischer Medien sehen das später etwas differenzierter. Die Sache hat ein Nachspiel: Das Bundeskanzleramt in Wien erkundigte sich später bei Journalistenorganisationen nach dem Fragesteller.

Die Causa hat ein weiteres politisches Nachspiel. SPÖ-Bundesgeschäftsführerin Andrea Kuntzl erklärt: "Wieder einmal sorgen FPÖ-Funktionäre und FPÖ-nahe Institutionen für einen Aufmarsch international bekannter Rechtsextremisten in Österreich. Damit bestätigt die FPÖ den Weisenbericht, in dem die Freiheitliche Partei als "populistische Partei mit radikalen Elementen" bezeichnet wird. Es sei "schockierend, dass sich international geächtete Rechtsextremisten in regelmäßigen Abständen auf Einladung der Regierungspartei FPÖ in Österreich zusammenrotten". Vizekanzlerin Riess-Passer solle sich von den Treffen "sofort und unmissverständlich distanzieren".

Zumindest bis Redaktionsschluss hat sie das nicht getan.

Samuel Laster

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Islamische Extremisten:
Ideologie des Widerstands gegen die moderne Welt

Als Andrew Sullivan kürzlich im New York Times Magazine den radikalen Islam als eine ernstere Bedrohung der westlichen Welt bezeichnete, als es der Nazismus war, wurde sein Vergleich als ungemeine Übertreibung abgelehnt.

Nazi-Deutschland, die größte wirtschaftliche, industrielle und militärische Macht des damaligen Europa, war in der Tat eine existentielle Bedrohung Europas und des Westens. Es besaß sowohl den Willen als auch die Mitteln die Weltherrschaft zu erringen. Der radikale Islam, der sich auf vorwiegend verarmte Länder der Dritten Welt stützt, kann zwar ernsten Schaden anrichten, wie es am 11. September in New York und Washington geschah, nicht aber die westliche Zivilisation gefährden.

Davon abgesehen haben Islamismus und Nazismus viel gemeinsam.

Beide entstanden als Ideologien des Widerstandes gegen die moderne Welt.

Der Nazismus entsprang der "völkischen" Bewegung des späten 19. Jahrhunderts, die Urbanisierung, Industrialisierung und Kapitalismus ablehnte, sich auf Blut, Boden und Rasse stützte. Etwa zur gleichen Zeit entstand auch der islamische Fundamentalismus als Reaktion auf die fortschreitende Säkularisierung der islamischen Welt. Der Mangel an wirtschaftlicher und politischer Stabilität in Deutschland nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Demütigung des Versailler Vertrages von 1918 stellten den Nährboden für den Nazismus dar, ebenso wie die militärischen Niederlagen der Araber gegen Israel, der Zusammenbruch des nasserististischen, säkularen Panarabismus, Korruption und das Elend der breiten Massen in den totalitären islamischen Ländern den islamischen Fundamentalismus schufen.

War es nur ein Zufall, dass beide Bewegungen denselben Sündenbock für die Missstände in ihrer Gesellschaft fanden? Für die Nazis war es das "internationale Judentum", für die Islamisten sind es die "Ungläubigen" und die "Zionisten". Die Juden waren nach der Schaffung Israels und dessen anfänglichen Erfolgen der Überzeugung, dass der im Holocaust kulminierende Antisemitismus der Naziära unwiederholbar ist. Jetzt beginnt man die Einsicht zu gewinnen, dass der arabisch-islamische Antisemitismus in gewisser Hinsicht erschreckender sei als der nazistische. Er mag zwar die militärische Macht der Nazis entbehren, aber die jüngsten Ereignisse sind ein Beweis dafür, dass islamische Fanatiker nicht nur selbstmörderische Aktionen durchführen, sondern auch chemische, biologische und unter Umständen nukleare Waffen als Ersatz für Gaskammern und Krematorien einzusetzen bereit sind.

Klingt übertrieben? Nicht, wenn man es mit einer Welt wie der islamischen zu tun hat, in der keine Lüge zu offensichtlich ist, wenn es sich um Juden handelt. So konnte der Kairoer Vater von Mohammed Atta, dem Anführer des Angriffs vom 11. September, dem NachrichtenmagazinNewsweek erzählen, sein Sohn sei von den Israelis entführt worden und in Wirklichkeit seien es die Israelis gewesen, die als arabische Muslims verkleidet das New Yorker Welthandelszentrum angegriffen hatten; dass Juden von ihren Rabbis vorgewarnt wurden und deshalb an jenem Tag zu Tausenden ihrem Arbeitsplatz in den Zwillingstürmen ferngeblieben waren.

Joseph Goebbels war ein armer Schlucker im Vergleich zu der Gehässigkeit arabisch-islamischer Propaganda, an der führende Persönlichkeiten bewusst mitwirken. Suha Arafat, die Gattin des Palästinenserführers, fand es angebracht, in der Präsenz der damaligen First Lady Amerikas, Hillary Clinton, die fantastische Lüge zu verbreiten, Israelis würden die Wasserquellen der Palästinenser vergiften. In Ägypten glaubt man dem Märchen von israelischen Mossad-Agentinnen, die sich arabischen Männern hingeben, nur um sie mit Geschlechtskrankheiten anzustecken, während andere Mossad-Agenten AIDS in der arabischen Welt verbreiten. Der König Saudiarabiens pflegte seinen Staatsgästen die "Protokolle der Weisen von Zion" zu schenken, Syriens Verteidigungsminister ist der stolze Verfasser eines Buches, in dem die uralte Rituallüge von moslemischem (in Europa war es einst christliches) Blut verbreitet wird, dessen sich die Juden zur Herstellung von Mazzot zum Pessachfest bedienen.

Das psychologische und politische Bedürfnis der westlichen Welt, zu glauben, dass die islamische Gesellschaft "mit Ausnahme von ein paar Extremisten" eine im Grunde tolerante Gesellschaft ist und auch der hässliche islamische Antisemitismus nur ein provisorisches Phänomen darstellt, das verschwinden wird, sobald Israelis und Palästinenser ihren Frieden geschlossen haben, ist erschreckend. Auch mitten in Amerikas Krieg gegen Osama bin Laden und die Taliban fand es Präsident Bush angebracht eine große Delegation amerikanischer Moslems zu einem Ramadan-Dinner einzuladen, um sie zu beschwichtigen, dass der Krieg gegen Terroristen und nicht den Islam geführt wird. Zweckdienlich ignoriert wird die Tatsache, dass der Mangel an Frieden nicht den Grund islamischen Antisemitismus bildet, sondern dessen Ursache ist. Es stimmt natürlich, dass nicht jeder Moslem ein Terrorist ist, aber jeder Terrorist ein Moslem ist.

Vielerseits wird die Notwendigkeit der Berücksichtigung islamischer Beschwerden gegen den Westen betont, wenn Terrorismus ausgemerzt werden soll. Aber auch Rücksichtnahme muss gewisse Grenzen haben. Sie darf nicht in Appeasement, in eine Beschwichtigungspolitik ausarten, wie sie in Europa in den 30er Jahren gegenüber den Nazis praktiziert wurde. In der nicht-islamischen Welt, vornehmlich in Europa, gibt es vielerorts Verständnis für Ben Ladens Terror: die israelische "Okkupation palästinensischer Gebiete", die andauernden Sanktionen gegen den Irak und die amerikanische Toleranz korrupter und unpopulärer Diktatoren in der arabischen Welt. Der Haken ist, dass, selbst wenn alle diese Missstände behoben werden, die Rebellion des Islamismus gegen den säkularen Modernismus andauern dürfte. Es gibt 57 Jahre nach Hitlers Tod immer noch deutliche Zeichen von Nazismus, und das Ende von Osama bin Laden und der Taliban wird nicht das Ende des radikalen Islamismus bedeuten.

Dennoch: die Erfahrung mit dem Nazismus lehrt, dass selbst berechtigte Beschwerden und Einwände nur behoben werden können und sollen, wenn die extremistische Ideologien ausgemerzt sind, die sie missbraucht, sich ihrer bedient haben. Nach 1945 konnte Deutschland in die westliche Völkergemeinschaft reintegriert werden. Nach der Niederlage des Islamismus wird wahrscheinlich eine Art nahöstlicher Marshall-Plan am Platze sein, um modernen und gemäßigten Moslems eine besseres Zukunft zu sichern. Bis dahin muss der Islamismus bekämpft werden, wie der Nazismus im 2. Weltkrieg bekämpft wurde.

Ben Zakan

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Neue Chancen

Der Widerstand gegen Arafat macht sich bemerkbar. Neue Kader plädieren für Mässigung.

Ein Israeli, der zum ersten Mal Jordanien besucht, reibt sich angesichts der Worte seines Fremdenführers ungläubig die Ohren. Viele der wichtigsten Stätten der jüdischen Geschichte, wie etwa das Grab Moses, befinden sich östlich des Jordanflusses. Jäh wird einem das Absurde daran deutlich, dass sich der heutige Staat Israel eigentlich auf einem Bruchteil des Gebietes befindet, in dem die Israeliten damals saßen. Die "Rückkehr" des jüdischen Volkes in seine Heimat ist in gewisser Hinsicht eine geographische Augenauswischerei, oder zumindest ein gewolltes Schielen. Wie konnte das alles aufgegeben werden? Antwort: die Aufgabe der Politik ist es, das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu vereinen. Das erste Ziel der pragmatischen zionistischen Führung war die Staatsgründung. Dafür nahm sie den Verlust vieler Träume und Ideale in Kauf. So wurden Generationen von Israelis im staatlichen Schulsystem im Sinne dieses Verzichtes erzogen. Eine rein ideologische Sicht und Erziehung hätte nur zu inneren Konflikten mit den existierenden Grenzen geführt.

Im Hinblick auf diese Entwicklung erscheint die palästinensische Pädagogik besonders problematisch. Heute ist schon den meisten klar, dass Arafat nicht derjenige sein wird, der die Palästinenser zu einem eigenen Staat in Koexistenz mit Israel führen wird. Doch was kommt nach ihm? In den Jahren nach dem Oslovertrag hat Arafat mit eigenen Händen den Ölzweig zwischen den Seiten seiner Lehrbücher mumifiziert. Zu Beginn der Intifada wurden Kinder nach der Schule organisiert zu Demonstrationen gefahren, trotz (oder eben wegen?) der Lebensgefahr. In Sommerlagern lernen 10-jährige den Gebrauch von Schusswaffen, üben das Töten und preisen den Tod. Im offiziellen Fernsehen der Autonomiebehörde wird täglich der Videoclip eines Liedes ausgestrahlt, in dem ein schnuckeliger Junge von Kugeln zum ersehnten Märtyrerstatus zerfetzt wird. In ihrer Freizeit lernen die Kinder über die palästinensischen Städte Akko und Jaffa, rezitieren verträumte nationale Poesie, in denen die Worte Blut, Land, Tod und Sehnsucht in allen Schattierungen gemalt werden. Das religiöse Oberhaupt der Muslime in Israel/Palästina, der Mufti von Jerusalem, machte die Ideologie hinter dieser Erziehung für alle verständlich. In einem Interview für die ägyptische Zeitung Al-Ahram al-Arabi sagte er: "Ich glaube, die Märtyrer sollten sich glücklich schätzen, denn die Engel eskortieren sie sofort ins Paradies. [...] Je jünger der Märtyrer ist, desto mehr habe ich Respekt vor ihm." Das Endziel sei die Befreiung gesamt Palästinas, und dafür müsse man noch viele Opfer bringen. Es gibt hier keinen Raum für einen Kompromiss. In einer solchen Gehirnwäsche verliert jede rosige Aussicht sofort ihre Farbe.

Doch gibt es zwischen Arafat und den Kindern der Intifada noch eine Generation. Wie absurd es auch klingen mag, in ihr liegt die Hoffnung für eine erträgliche Zukunft im Nahen Osten. Die arabischen Familienväter von heute verstehen den horrenden Preis, den Arafat ihnen ohne Gegenleistung abverlangt hat. 50% der Palästinenser leben heute unter der Armutsgrenze, welche mit rund 400 $ pro Monat für eine sechsköpfige Familie angegeben wird. Etwa ein Drittel aller arbeitsfähigen Männer sind ohne Arbeit, kein Mensch kauft heute mehr Fleisch, obwohl die Preise schon um die Hälfte gefallen sind. Diese Männer kennen Israel, seine hässlichen und seine angenehmen Seiten. Sie sehen täglich die Besatzungsmacht in Form der Soldaten an den Checkpoints, aber sie kennen auch ihre israelischen Kollegen von der Arbeit, ihren Boss, ihren Fahrer. Sie können vielleicht noch differenzieren zwischen ideo-unlogischer Phantasterei und Realpolitik. Und ihr Murren wird in letzter Zeit immer deutlicher hörbar.

Vertreten werden sie von zwielichtigen Figuren wie Jibril Rajub und Mohammed Dahlan, Kommandeure der "preventive security" in Westjordanland und Gaza. Rajub hat sein ausgezeichnetes Hebräisch in israelischen Gefängnissen gelernt. Sein Verständnis der israelischen Gesellschaft bestätigt er wiederholt in seinen Privatinterviews im staatlichen Fernsehen. Mit ihm unterzeichnete der Verteidigungsminister Ben-Eliezer den Rückzugsvertrag vor einem Monat aus Bethlehem. Nun herrscht dort Ruhe. Laut Berichten in den israelischen Medien gehören diese beiden zu einem wachsenden Kreis aufstrebender Rädelsführer, die versuchen, mäßigend auf Arafat einzuwirken. Sie fürchten die stete Erosion ihrer Macht zugunsten der Hamas, haben ihre Finger nahe am Puls der schmachtenden Zivilbevölkerung. Keiner von ihnen ist stark genug, um Arafat allein zu widersprechen oder gar zu stürzen, aber nach seinem Abdanken werden sie für kurze Zeit die Macht haben.

Daraus könnte Israels größte, und vielleicht letzte Chance erwachsen. Es ist schwer abzusehen, ob sie zum einen wirklich die Pragmatiker sind, die sie vorgeben zu sein, und ob sie zum anderen imstande sein werden, die schmerzvollen, notwendigen Kompromisse zu Hause durchzuboxen. Doch erheben sich aus ihren Reihen immer wieder journalistische Testballons in politische Höhen, in denen zum Beispiel der Verzicht auf das Rückkehrrecht theoretisch angenommen wird. Dies sind für Palästinenser unerhört revolutionäre Töne, die Grund zur Hoffnung geben. Sollten die neuen Kader einmal an die Macht kommen (und je eher desto besser) wird ein schnelles Einvernehmen erreicht werden müssen, um das gesellschaftliche Pulverfass sofort zu entschärfen. Denn lange werden die heutigen Kinder nicht warten wollen, um ihre Plastikpistolen gegen echte Gewehre einzutauschen. Wenn sie dann erst einmal mit der Gewalt auch die Macht übernehmen, werden sie ihr tödliches Wissen auch nutzen wollen. Die nächste Chance für bleibenden Frieden wäre dann erneut für Generationen verpasst.

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90 Jahre Universitätskinderklinik

Ein Festsymposium

Enormer Andrang herrschte im Museum für Moderne Kunst beim Festsymposium 90 Jahre Universitätsklinik für Kinder und Jugendheilkunde am Allgemeinen Krankenhaus Wien. Viele Vertreter aus Politik und Wissenschaft kamen, um dieses Jubiläum zu begehen, das vom Vorstand der Univ. Klinik für Kinderheilkunde, Univ.-Prof. Dr. Arnold Pollak, initiiert und organisiert worden ist. Stadträtin Elisabeth Pittermann betonte in ihrer Eröffnungsrede die Bedeutung der Kinder für die Zukunft einer Gesellschaft und wies mit Stolz auf das gut funktionierende Gesundheitswesen der Stadt Wien hin. Arnold Pollak gab einen sehr interessanten historischen Überblick, er spannte einen weiten Bogen von 1764, als in Wien das sogenannte "Findelhaus" gegründet wurde, bis in die Gegenwart. 1850 habilitierte sich der Regimentsarzt Ludwig Wilhelm Mauthner für das Fach Kinderheilkunde. Bereits 1837 errichte er aus eigenen Mitteln ein Kinderkrankenhaus mit 12 Betten. Zu Beginn dieses neuen Faches setzte man sich vor allem mit der Ernährung und den Infektionskrankheiten auseinander. Später wurde auch eine heilpädagogische Abteilung gegründet, der Erwin Lazar (1877–1932) vorstand. Die überragende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Kinderheilkunde war Clemens Freiherr von Pirquet (1874–1929) der bahnbrechend für seine Zeit Enormes für den Aufbau der Klinik leistete.

Pollak setzte sich mit dem Wandel der Pädiatrie in der Gegenwart auseinander. Vor allem in den Grundlagenforschungen haben sich bahnbrechende Änderungen vollzogen wie in der molekularen Biologie, Genetik und Biochemie.

Bemerkenswert der Umstand, dass sich dieses Symposium auch der dunklen Geschichte während der Nazizeit annahm und sie nicht wie hierzulande üblich einfach verschwieg. Univ.-Prof. Eduard Seidler, emeritierter Ordinarius für Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg, setzte sich vor allem mit der Persönlichkeit Prof. Franz Hamburgers (1874 –1954) und seiner frühen und stark ausgeprägten Neigung für den Nationalsozialismus auseinander. Bedrückend laut Seidler der Umstand, dass die Nationalsozialisten gerade in der Jugendpolitik die Bestätigung ihrer ideologischen Ansprüchen suchten – was zu einer "Ertüchtigung" führen sollte und in der Hitlerjugend verwirklicht wurde.

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Wechselspiel zwischen Erinnern und Vergessen

Der Essayband Credo und Credit von Doron RABINOVICI.
En Gespräch unserer Mitarbeiterin Angelika Montel mit dem Autor.

Schwarze Brille, schwarze Daunenjacke, schwarzes Sakko mit Polohemd, eine ebenso schwarze Jeans, mit einer ausgelöschten Zigarre in der Hand, entspannt betritt Doron RABINOVICI das Café Central – ein Bild, das scheinbar Teil des Establishments geworden ist. Vollends konsterniert ist man als er nach der, wie hätte man es anders erwartet, witzig pointierten Sprechprobe ins Diktaphon eine heiße Schokolade mit Schlag, keinen kleinen Braunen oder eine einfache Melange bestellt. Das Bild hat in dem Moment nichts gemein mit dem Foto seines literarischen Debütbands "Papirnik": ein junge Autor mit runder Hornbrille, weißem T-Shirt und leger getragener Lederjacke.

Wer jedoch die Debatte zu dem Chaos nach dem 11. September verfolgt, weiß, dass dem nicht so ist. Doron RABINOVICI erhebt immer und überall seine Stimme, wo es gilt gegen Formen von Rassismus und Diskriminierung aufzutreten, mahnt zur Wachsamkeit oder entreißt die österreichische Vergangenheit jenen, die sie dem Vergessen preisgeben wollen. Er lässt sich kein Statement verbieten, analysiert brillant mit intellektueller Klarheit. Mit seinem neuen Essayband Credo und Credit hat er sich mit Aufsätzen zu Elias Canetti und Leo Perutz, einer "kurzen Anleitung zum jüdischen Witz", Analysen zum Antisemitismus, dem Leben in einer multikulturellen Diaspora oder der Frage nach dem Bilderverbot im Umgang mit der Shoa wieder zu Wort gemeldet.

 

INW: Wieso haben Sie sich gerade für den Buchtitel "Credo und Credit" aus der Essaysammlung entschieden? Ist dieser Aufsatz mit Überlegungen zum Antisemitismus der gewichtigste Essay und gleichzeitig ein politisches Statement? Wie ist der Untertitel "Einmischungen" zu deuten, "credo – ich glaube" quasi als Gegensatz zum anderen Österreich, zu dem, was "er, sie glaubt"?

RABINOVICI: Ich glaube nicht, dass ein Titel schon ein Statement ist, aber es ist natürlich ein Spiel. Ich habe einerseits den Titel gewählt, weil er der Titel des für mich wichtigsten Essays ist. Andererseits weil er auf diese Interpretation verweist, auch Einmischungen, als das, was man glaubt. Aber natürlich ist er wenig aktuell und steht insofern nicht unbedingt im Zentrum eines jeden Lesenden. Die Geschichte mit Credo und Credit ist für mich aber auch deshalb nicht uninteressant, weil Credo eigentlich etwas ist, das die Christen haben. Juden haben solch ein Credo an sich nicht, denn im Judentum ist die Frage, ob man an Gott glaubt, nicht ganz so kardinal. Es gibt andere Fragen, die wichtiger sind. Insofern hat mich dieser Aspekt zusätzlich interessiert.

INW: Die Wahl des Titels ist die Wahl des Historikers in Ihnen. Die ersten beiden Essays in dem Buch beschäftigen sich wiederum mit Literatur, mit Elias Canetti und Leo Perutz. Spiegelt sich darin die Wahl des Schriftstellers wider? Wie gehen Sie mit dem Gleichzeitig-Sein von Historiker und Schriftsteller um? Schließen sie einander aus oder ergänzen sich beide, der Schriftsteller Doron Rabinovici, der Geschichte, den Historiker in ihm, in seinen Werken literarisch umsetzt?

RABINOVICI: Es wäre mein Ideal, am Vormittag zu schreiben und den Nachmittag für Recherche, Redigieren und ähnliches zu verwenden, aber der Tag hat zu wenig Stunden, für uns alle. Deshalb funktioniert es so nicht. Was aber funktioniert ist, dass ich im Affekt schreibe. Letztlich ist es immer Schreiben, ob ich historisch oder literarisch schreibe. Es wird aber immer mehr Schreiben an sich. Ich glaube, dass die historische Arbeit mit Instanzen der Ohnmacht für mich eine Zeit lang abgeschlossen ist. Das Schreiben aber nicht.

Die ersten beiden Essays über Canetti und Perutz haben aber auch etwas mit Credo zu tun. Sie haben insofern etwas damit zu tun, als ich auf die jüdischen Wurzeln der beiden Autoren eingehe und insofern als Perutz auch ein Credo im Zusammenhang mit meinem Roman "Suche" nach M. und meinem eigenen Schreiben darstellt. Mit Canetti habe ich mich im Zuge eines Arbeitsprozesses beschäftigt und mir die Frage gestellt, was im ersten Teil seiner Autobiographie mit seiner jüdischen Familie verwoben erscheint. In gewisser Weise sind beide Texte eine Hommage. An Perutz offen und deklariert eine Hommage, weil man bemerkt wie viel, das schlichtweg erstaunlich ist, an gedanklicher Kraft in "Nachts unter der steinernen Brücke" hineingeflossen ist.

INW: "Das Wiederaufrufen der Erinnerung" bezeichnen Sie als ein konstituierndes Moment im Schreiben von Perutz. Ein Credo in Ihrem eigenen Schreiben?

RABINOVICI: Es ist wichtig im Schreiben schlechthin. Meine größte Angst wäre die Erinnerung zu verlieren, ganz persönlich gesprochen. Es macht mich nervös, wenn mir etwas entfällt. An sich ist das Schreiben von Fiktion nicht das Festhalten von dem was wirklich gewesen ist, aber es bedeutet die Möglichkeit etwas festzuhalten, das der Wirklichkeit näher kommt, als das, was wirklich gewesen ist.

INW: In dem Essay zur Shoa "Das Verbot der Bilder" beschreiben Sie Ihre Arbeit in der Israelitischen Kultusgemeinde. In der Geschwindigkeit, mit der Sie die Daten zur Erfassung der Ermordeten und Vertriebenen eingeben, verbirgt sich ein gewisses Maß an Schamgefühl. Gleichzeitig machen Sie sich ein Bild von der Schönheit jener jungen Frau. Gerade dadurch hebt man die Opfer aber einen Augenblick aus der Anonymität der Bilder des Massenmordes, lässt sie für einen Bruchteil wieder aufleben und trauert gleichzeitig um sie.

RABINOVICI: Das ist sogar absolut notwendig. Das Problem ist folgendes. Es gibt ein Wechselspiel zwischen Erinnerung und Vergessen. Es gibt nur ein paar Leute, die nichts begriffen haben. Wer die Parole ausgibt, "Die Erinnerung bringt nichts, lasst uns vergessen", hat anscheinend überhaupt nicht verstanden, was Erinnerung ist und nicht was Vergessen ist. Die Opfer und die Ermordeten haben einerseits das Recht, in ihrem Leid nicht zur Schau gestellt zu werden, was wir aber durchaus tun. Andererseits haben sie das Recht nicht bloße Zahlen zu sein, sondern in ihrem menschlichen Leid wahrgenommen zu werden. Man kommt nicht darum herum, dass man sich hier immer in Fallen begeben wird.

Es gibt das Gedächtnis und es gibt das Vergessen. Um weiterleben zu können, kann nicht immer alles präsent sein, man muss ordnen. Dann gibt es die Erinnerung, die Sachen immer wieder aus dem Vergessen herausholt. Dieser Prozess ist absolute Arbeit, ein zum Teil bewusster Prozess. Es ist aber auf keinen Fall ein zufälliger, was erinnert wird.

INW: In dem Essay zur Bibliothek der Eltern erwähnen Sie die Prägung der frühen Phase des Lesens und Entdeckens. Heute wie damals sehen Sie sich als der "kleine Junge vor den Büchern der Eltern". Wie ist das zu verstehen?

RABINOVICI: Ich habe es so gesagt. Ich glaube, dass mich ein gutes Buch dort erreicht, wo ich ein Kind bin. Das ist nicht nur ein Mythos sondern eine Bloßlegung, weil ich bei einem guten Roman etwas von mir vergesse. Ich erinnere mich dann an meine Kindheitslektüren.

INW: Sie bezeichnen Ihre Sprache als "Adoptivdeutsch", ein Understatement oder Ausdruck für dieses zwischen den "Sprachen" sitzen, diese Distanz zu beiden, die einem als Schriftsteller einen klaren Blick von "außerhalb" ermöglicht?

RABINOVICI: Ich sage dazu bewusst Adoptivsprache, um diese Fremdheit und einen bestimmten Zugang zur Sprache zu schildern, wobei Muttersprache für Hebräisch auch nur bedingt richtig ist, denn die Muttersprache meiner Mutter ist eigentlich Jiddisch. Wenn ich mir in diesem Zusammenhang die Situation von Migrantenkindern anschaue, dann fällt Folgendes auf: Erstens, alles woher sie kamen, ist dort, wo sie jetzt sind, entwertet und alles aber, das sie in der Schule hier lernen, ist zu Hause entwertet. Das bedeutet, dass man tatsächlich in einer gewissen Ambivalenz lebt.

Ich habe einerseits eine große Hochachtung von meinen Eltern vor den deutschen Dichtern vermittelt bekommen. Mir erschien von Anfang an Deutsch so klar, ich weiß nicht ob das stimmt, aber so erschien es mir. In diesem Zusammenhang wird auch meine frühe Beziehung zu Brecht angesprochen. Er ist ja keiner, der damit spekuliert einem alles vergessen zu machen, sondern ganz im Gegenteil, der einen immer wieder eine Klarheit vorsetzt, der einen fordert und von den Zuschauern Entscheidungen abverlangt.

INW: Im Essay "Im Widerschein Israels" wird das Nachrichtenhören, das sich vor dem Radio versammeln, als eine Facette des Hellhörigseins, des auf der Hut seins in Israel wie in der Diaspora, festgehalten. Was sind anderen Facetten dieses Wachsambleibens?

RABINOVICI: Ein Punkt, für mich zumindest ist, dort wachsam zu sein, wo Ressentiments, wo Rassismus, wo Diskriminierung vorherrschen. Dies macht mich immer nervös. Schreiben ist in einem solchen Moment eine Notwendigkeit. Mit der Zeit ziehe ich das Schreiben aber immer mehr dem Reden vor. Es bietet die Möglichkeit der Konzentration und Verdichtung, wobei mir das fiktionale Schreiben viel wichtiger ist. Das historische Schreiben glaubt zu zeigen wie es gewesen ist. Das literarische Schreiben zeigt an, wie es gewesen sein könnte. Es gibt viel mehr wieder, weil zu dem wie es war gehört ja, dass es aus der Sicht der Damaligen auch anders hätte sein können.

INW: In Ihrem letzten Essay "Tracht und Zwietracht" bezeichnen Sie Antirassismus als "kein geschlossenes Weltbild [...] sondern allenfalls ein Bemühen um eine Haltung, eine tägliche Anstrengung." Das klingt wie ein "Pflichtprogramm", für eine Einstellung, die es eigentlich nicht sein sollte.

RABINOVICI: Antirassistisch zu sein bedeutet gegen Rassismus zu sein, das heißt noch nicht selber nicht rassistisch zu sein. Es bedeutet vielmehr, dass man gegen die Formen von Rassismus auftritt und die Formen wechseln. Das ist das Problem. Antirassismus ist deswegen so anstrengend, weil er situativ ist und nach immer neuen Gegenstrategien verlangt. Wir können nicht sagen, wir wissen immer wie die Koordinaten ausschlagen, sondern müssen jedes Mal von neuem überlegen, weil sich die Bedingungen der Diskriminierung immer wieder ändern.

Die heiße Schokolade an diesem trüben Novembernachmittag hat wahrscheinlich nur einem allgemein menschlichen Empfinden entsprochen, dem herannahenden Winter ein Schnippchen zu schlagen.

Doron RABINOVICI, Credo und Credit, Suhrkamp 2001, Taschenbuch EUR 9,27

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Literatur des Exils

Thomas B. Schumann und die Edition Memoria

Am Anfang stand die Begegnung mit Katia Mann. Der fünfzehnjährige Gymnasiast war von der Dichterwitwe empfangen worden und verließ das Kilchberger Domozil nach einer angeregten Plauderei mit einem persönlichen Widmungsexemplar des "Felix Krull". Diese Trophäe weckte bei dem Jungen eine wohl nicht alterstypische Leidenschaft. Mochten andere Autogramme von Filmstars oder Fußballern sammeln, Thomas B. Schumann suchte die literarische Prominenz auf und ließ sich deren Bücher signieren.

Irgendwann begann sich der junge Mann besonders für die von Hitler aus Deutschland vertriebenen Schriftsteller zu interessieren. Mit der Zeit wurde die frühere Leidenschaft für verschollene Bücher und verfemte Autoren, viele von ihnen deutsche und österreichische Juden, zu einer Lebensaufgabe. Thomas B. Schumann studierte Literatur und Geschichte, stellte als Rezensent vertriebene Autoren und ihre Bücher vor. Aus Deutschland vertriebene Autoren hat Schumann in zuweilen mühsamer Detektivarbeit in ganz Europa ausfindig gemacht und aufgesucht: in den Niederlanden zum Beispiel Konrad Merz und Hans Keilson, den Arzt und Psychoanalytiker, Schriftsteller und Mitbegründer einer niederländisch-jüdischen Hilfsorganisation. Schumann hat den verbitterten Walter Mehrig in Zürich aufgesucht und in Rom den damals schon totgesagten Armin T. Wegner getroffen. Bei manchen war der junge Mann aus Köln nach all den Jahren der erste Besucher aus Deutschland, der sich für sie interessierte. Sein in mehreren Sammelbänden mit Rezensionen und Portraits dokumentiertes Engagement verstand Schumann immer auch als ein Stück geistiger Wiedergutmachung.

Trotz manchen Erfolgs im Einzelfall empfand Schumann dabei ein zunehmendes Missvergnügen angesichts der von Max Horkheimer so genannten "Universalität des Vergessens". Jenseits der wissenschaftlichen Exilforschung, im Bewusstsein der LeserInnen fand eine kontinuierliche Repatriierung der verbannten und verbrannten Dichter nicht statt. Jedenfalls nicht, wenn man sich die tatsächliche Zahl der vertriebenen und mundtot gemachten Schriftsteller vor Augen hält. Über zweitausend Autoren waren nach seriösen Zählungen ins Exil gegangen, viele entkamen ihren Verfolgern nicht und gingen elend zugrunde. Auch interessierten LeserInnen sind davon in der Regel nur noch wenige bekannt; die Prominenten natürlich, vielleicht noch einige aus der zweiten Reihe. Das Heer der Namenlosen hat aus unterschiedlichen Gründen nach dem Ende der faschistischen Schreckensherrschaft keinen Anschluss mehr gefunden.

Um die Erinnerung an wenigstens einige dieser zu Unrecht vergessenen Schriftsteller wach zu halten, hat Schumann vor einigen Jahren seine Edition Memoria gegründet. Ein Verlag, der ausschließlich die Werke von Exilautoren veröffentlicht – vor allem jener aus der zweiten Reihe, deren sich bisher so gut wie niemand angenommen hat. Hans W. Cohn zum Beispiel: 1938 war der Breslauer Jude über Skandinavien nach England emigriert, wo er noch heute lebt. In den sechziger Jahren waren einige seiner Gedichte in den "Akzenten" und der "Rundschau" zu lesen. In biblischer Bilderwelt und einer aufs Notwendigste konzentrierten Lakonie der Ausdrucksmittel gestaltet Cohn Verfolgung und Exil als Erscheinungsform der conditio humana, im Erleben von Gewalt und Unzugehörigkeit wird das Schwinden des Subjekts erfahren. Irgendwann war dann Cohn aus dem Literaturbetrieb verschwunden, bis Schumann in seiner Edition Memoria 1994 Cohns Gedichtband "Mit allen fünf Sinnen" vorlegte.

Oder der Wiener Jude Alfred Grünewald, ein neuromantischer, später expressionistischer Lyriker, der als Homosexueller das Außenseitertum als exzentrische Lebensform kultivierte. Am Tag, als Hitler in Wien einmarschierte, unternahm er einen Selbstmordversuch. Grünewald wurde gerettet – nur um anschließend die ganze Härte der Verfolgung zu erleiden: Inhaftierung in Dachau, Entlassung, Flucht nach Frankreich, erneute Internierung und Auslieferung an die SS. In Auschwitz oder Trblinka hat man ihn ermordet. Aus Grünewalds umfangreichem literarischen Schaffen legte Schumann die 1921 erschienene und immer noch anregende Aphorismensammlung "Ergebnisse" vor, geschliffen im Stil und geprägt von der Außenseiterschaft des Autors, sind hier poetisch und bitter Lebensweisheiten formuliert, viele von bleibender Aktualität. Etwa die auch auf die moderne Mediengesellschaft zutreffende Bemerkung: "Sonderbar! Die sich niemals sammeln, brauchen am meisten Zerstreuung."

Andere Autoren der Edition Memoria sind Stephan Lackner, der Kunstschriftsteller und Freund Max Beckmanns, den man hier als allegorischen Erzähler kennenlernen kann. Oder Elisabeth Mann-Borgese, die letzte noch lebende Tochter Thomas Manns, vom Vater liebevoll verewigt im "Gesang vom Kindchen". Natürlich konnte auch dieses Kind des "Zauberers" das Schreiben nicht ganz lassen. Ihre lange vergriffenen Erzählungen aus den fünfziger Jahren hat Schumann zum achtzigsten Geburtstag der Autorin und bekannten Meeresökologin im Frühjahr 1998 unter dem Titel "Der unsterbliche Fisch" wieder aufgelegt. Auch Rudolf Arnheim, der einstige "Weltbühnen"-Redakteur, Filmtheoretiker und Kunstwissenschaftler, ist in dem kleinen Verlag mit seinem Exilroman "Eine verkehrte Welt", vertreten. Ein Roman übrigens, der ein typisches Exilschicksal hat. Zwischen 1936 und 1940 im italienischen, dann englischen Exil verfasst, sollte die utopisch-phantastische Geschichte 1949 im Kurt Weller-Verlag in Konstanz herauskommen. Der ging kurz vor dem Erscheinen des Romans in Konkurs. Später hat der Autor wegen anderer Projekte eine Veröffentlichung nicht mehr mit Nachdruck betrieben. Bis dann Schumann mit Arnheim in Kontakt trat und das Werk sechzig Jahre nach seiner Entstehung zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorlegte.

Solche Buchprojekte kosten Geld und die Finanzdecke des Ein-Mann-Verlages aus Hürth bei Köln ist knapp. Um langfristige Unterstützung für die Publikationen des Verlages zu organisieren, hat Schumann einen Verein gegründet: die "Gesellschaft zur Förderung vergessener und exilierter Literatur". Diese Gesellschaft unterstützt Publikationen, organisiert Tagungen und soll nach den Vorstellungen ihres Initiators in Zukunft ein Forum für die Begegnung mit der Exilliteratur schaffen – ehrgeizige Pläne gegen die (auch unter prominenten Autoren) verbreitete deutsche Neigung zum Vergessen. Unter den Überlebenden des Exils hat der Verein eine imponierende Liste von Ehrenmitgliedern: Ernst H. Gombrich gehört dazu, Hilde Domin, Jakov Lind, Michael Hamburger oder George Arthur Goldschmidt. Was noch fehlt, sind potente Mäzene.

Die könnten ihr Geld hier durchaus sinnvoll angelegt wissen, denn der rührige Memoria-Verleger stellt immer noch Entdeckungen und interessante Wiederauflagen in Aussicht. Wie etwa Walther Rodes brillantes "Lesebuch für Angeklagte" ein im Frühjahr 2000 erschienener Titel. Der österreichische Jude Rode, 1876 in Czernowitz geboren und 1934 im Schweizer Exil gestorben, hat ein von Kurt Tucholsky und anderen gepriesenes justizkritisches OEuvre hinterlassen. Sein Lesebuch "Knöpfe und Vögel", 1931 erstmals erschienen, als Rode noch in Wien als Anwalt praktizierte, demonstrierte die ganze Monströsität menschlicher Beziehungen, die irgendwann justitabel werden können. Es geht Schumann bei seinem verlegerischen Engagement für die exilierten Autoren nicht um ein museales Konservieren entlegener Texte. Er will ästhetisch anspruchsvolle Werke wieder bekannt machen, die ihre Epoche erhellen und nicht selten auch ein Licht werfen auf unsere gegenwärtige Diskussion um Vertreibung und Asyl, um Schuld und Vergessen. Fest in Leinen gebunden, ansprechend ausgestattet mit einheitlich gestalteten Umschlägen sollen die lange verbannten Werke in der Edition Memoria nun endlich eine Heimat finden. Jetzt liegt es an den Lesern, wenigstens in diesen Einzelfällen das Vergessensdiktat der Nazis zu revidieren und die Erinnerung wachzuhalten.

Holger Schlodder

Die bisher erschienenen Titel der Edition Memoria in der Edition Memoria, Hürth bei Köln:

Hans W. Cohn: "Mit allen fünf Sinnen", Gedichte. Mit einem Vorwort von Michael Hamburger, 1994. 76 Seiten, ca. EUR 15,60.
Alfred Grünewald: "Ergebnisse", Aphorismen. Mit einem Nachwort von Klaus Hansen, 1995. 100 Seiten, ca. EUR 15,60
Stephan Lackner: "Ein Mann mit blauen Haaren", Erzählungen, 1996. 223 Seiten, ca. EUR 18,85
Rudolf Arnheim: "Eine verkehrte Welt", Roman, 1997. 299 Seiten, ca. EUR 25,12
Elisabeth Mann-Borgese: "Der unsterbliche Fisch", Erzählungen, 1998. 216 Seiten, ca. EUR 20,41
Walter Rode: "Knöpfe und Vögel", Lesebuch für Angeklagte. Mit einem Vorwort von Anton Kuh und einem Nachwort von Gerd Baumgartner. 368 Seiten, ca. EUR 31,30.

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Joshua Sobol über seinen Roman Schweigen

 

Ein Glück, dass Joshua Sobol seinen Laptop dabei hatte. Sonst hätte es aus seinem Roman "Schweigen" bei der Buchpräsentation, zu der das IGK-Kulturzentrum und der Luchterhand-Verlag anlässlich der Münchner Bücherschau eingealden hatten, keine Leseprobe auf Hebräisch gegeben. Und das wäre angesichts seiner klangvollen Stimme sehr schade gewesen. Weltweit gilt Sobol als führender lebender Dramatiker Israels, bekannt vor allem durch seine Theaterstücke "Weiningers Nacht" und "Ghetto".

Der Roman "Schweigen", gewidmet der Geschichte eines achtzigjährigen Erzählers und der Entwicklung seines Dorfes, beschäftigte den Autor seit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Warum habe er das Ganze als Zukunftsroman mit Rückblenden vom Jahre 2019 ausgelegt? Sobol "brauchte einen imaginären Punkt, von dem aus ich die Vergangenheit betrachten konnte." Sein Blickpunkt sollte nicht von realen Zeiten ausgehen. Dabei könnte der Moment, auf den er sich zurückzieht, kaum herausragender sein. Es ist der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg ausbrachzugleich der Tag der Beschneidung des Erzählers. Unter dem Eindruck des physischen Eingriffs beschließt der Säugling für immer zu schweigen. Angesichts der Shoa und ihrer Folgen, die mit dem Kriegsausbruch näherrücken, wird dieses Schweigen zu einem Symbol ohnmächtigen Protestes. Den beiden Malen, da er noch den Mund aufmacht, folgten tödliche Ereignisse. Für Sobol hat eben "Sprache eine große Kraft".

Israel, wie er es darstellt, gebe es nicht mehr. In seinem Bemühen, die vergangenen, verlorenen Zeiten darzustellen, fühle er sich Proust nahe: "Ich wollte die stete Transformation der Menschen von den Vierziger Jahren bis ans Ende des 20. Jahrhunderts beschreiben". Der Verlust der alten Werte habe sich unaufhaltsam vollzogen.

Sobol versteht sich als "Außenseiter unter den israelischen Schriftstellern." Er meint, wie jeder von seiner Sache zutiefst überzeugter Autor, er liefere ein Narrativ, das so vorher noch nicht erzählt worden sei. Beim Schreiben hat der Stil der Bibel Sobol offenkundig inspiriert, Adjektive tunlichst zu vermeiden. Die biblische Sprache sei so präzise, sage immer die Sache selbst aus, ohne Stimmungen beschreiben zu müssen "Das Schweigen" ist in Israel im Jahr 2000 erscheinen undbereits bei der fünfter Auflage angelangt.

Bei den Fernsehbildern vom Krieg in Afghanistan drehe er den Ton ab. Ein hilfloser Versuch sich der Gefahr der Manipulation zu entziehen. In Zeiten wie diesen gebe es nichts Intelligentes mehr zu sagen. Aber zu einer Frage wurde Joshua Sobol dann doch sehr deutlich. Im Grunde gehe es bei dem vielzitierten "Clash of Civilizations" um einen Konflikt der Kulturen; nämlich der islamischen Welt versus westliche Zivilisation. Israel und der Palästina-Konflikt habe nichts mit dem Weltterror zu tun, wie hartnäckig man das auch zusammenbringen wolle. Bin Laden benutze den israelisch-palästinensischen Konflikt für ureigene Absichten. Die Palästinenser interessierten ihn im Grunde überhaupt nicht. Die Lösung für Israelis und Palästinenser sei ganz klar das Camp-David-Abkommen und die Ausarbeitung in Taba. Die beteiligten Parteien führten sich nur auf wie ein Patient, der die einzige erfolgreiche Behandlung fürchtet und darum verweigert: "In der Zwischenzeit geht die blutige Wirklichkeit weiter."

Ellen Presser, Joshua Sobol - Das Schweigen, Luchterhand, 332 Seiten, EUR 23.17

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Premiere: Der Jude von Malta von Christopher Marlowe

ein Kommentar des Regisseurs Peter Zadek
und Gedanken von Elfriede Jelinek

Peter Zadek – Feindbild: Jude

"Der Jude von Malta" ist ein Theaterstück über das Feindbild Jude. Das gibt es schon seit mehr als zwei Jahrtausenden, noch bevor die Juden ihren Christus mordeten, ist es entstanden. Die Juden, zerstreut in so viele Länder, haben wahrscheinlich nur deswegen als Gruppe überlebt, weil sie immer dasselbe Feindbild repräsentierten. Sie waren und sind "bogeyman" – der Sündenbock vieler Gesellschaften, immer wieder politisch ausgenützt, wenn ein Feindbild für die Herrscher vonnöten ist oder wenn ein Volk in seiner Misere einen Schuldigen sucht. Ihre Feindbild-Eigenschaften: Rachsucht, Geldgier, Übersextheit, Schmuddeligkeit, Zynismus, Sentimentalität und andere, haben sie manchmal akzeptiert, gegen sich selbst genutzt, in ihren Witzen untergebracht. Oft, fast immer, sahen sie sich als Opfer der Christen und meistens waren sie es auch.

"Der Jude von Malta" ist weder anti- noch prosemitisch. Das Stück beschreibt einen Zustand, der zu Katastrophen aber auch zu großen schöpferischen Spannungen geführt hat. Der schwule Atheist Christopher Marlowe, ein junges, halbkriminelles Genie des sechzehnten Jahrhunderts, hat sich in seinem Außenseitertum als Homosexueller und – noch schlimmer zu seiner Zeit – als Atheist, mit dem wutentbrannten Opfer-Täter Barabas (der Aufrührer und Mörder der Kreuzigungsgeschichte) identifiziert. Er beschreibt die schöpferische Wut, zu der der Träger des Feindbilds gepeitscht wird, die Schrecken, die daraus erfolgen, dass die Menschen Feindbilder haben.

Marlowes Stück ist das einzige, das mir über dieses Schicksal bekannt ist. Er hat in seinem Barabas einen tragischen Rächer erfunden – mit einer Spannbreite von Komik bis Horror. Barabas lebt in einer unsicheren Welt, ähnlich der unseren, er stirbt schuldig, in den Flammen, wie viele heute.

Elfriede Jelinek –Sieg der Kreuzritter

Natürlich ist es ein antisemitisches Stück, es kommen alle antisemitischen Stereotypen darin vor, mit einem Antisemitismus, der sozusagen seine Unschuld auch noch, in aller Unschuld, behauptet. Es ist sozusagen ein selbstverständlicher Antisemitismus. Aber gleichzeitig entlarvt es auch den Antisemitismus, und darin wird es interessant. Denn ausgelöst wird die Raserei des Barabas ja von den unerhörten Schandtaten von Christen. Und wie von einem Spiegel werden diese Untaten stets auf denjenigen zurückgeworfen, der sie auslöst und damit auch gleichzeitig eine neue "Runde" in der Eskalation von Gewalt auslöst (das ist natürlich paradigmatisch für die politische Situation derzeit). Bis sich das in einer aberwitzigen Spirale von Enteignung, Brutalität, Diebstahl und Mord so lange dreht, bis (und das ist fast schlimmer als wenn alle tot wären) der Status quo ante wieder erreicht ist und die Macht sozusagen wieder an ihrem Platz ist, bei den Kreuzrittern und beim siegreichen Gouverneur, während der Jude wie in einem Brennspiegel, in dem sich der Hass gegen ihn fokussiert hat, verbrennt (im siedenden Öl gekocht wird), man könnte auch sagen: sich in der Grube, die er andren gegraben hat, auflöst und verschwindet. Der Jude muss sozusagen verschwinden, damit er die Gemeinheit der Christen nicht mehr spiegeln kann. Damit die Christen nicht mehr sich selbst anschauen müssen, und die Christen sind hier ja Kreuzritter, Imperialisten, Völkermörder, das darf man nicht vergessen. Natürlich waren fast alle Christen Antisemiten, der christliche Antisemitismus wird gerade in so katholischen Ländern wie Österreich gern geleugnet und den "heidnischen" Nazis allein zugeschoben. Aber ohne die Heilsversprechen des Christentums unter der Stigmatisierung der Juden als "perfidi Judaei" und letztlich Christusmörder hätten die Nazis nicht so leichtes Spiel gehabt, gerade in einem so katholischen Land wie Österreich. Die Christen im Stück begehen ja als erstes völlig skrupellos Raubzüge, Diebstahl, sie schänden Frauen und treiben Unzucht (die Mönche mit den Nonnen, die jungen Männern mit der Tochter des Juden, zumindest wollen sie es, etc., einer benützt den andern, einer wohnt im andern und beutet ihn aus, die jungen Leute werden sowieso skrupellos geopfert von den Mächtigen und so weiter, denn diese ganze Kreuzrittergesellschaft basiert ja auf Raub an den "Ungläubigen"). Während aber diese Kreuzrittergesellschaft einfach ihre Verbrechen begeht, hat der Jude Barabas, und darin liegt, wie ich finde, die Modernität dieser Figur, das Geld als eine Art Vermenschlichungsmaschine entdeckt. Man könnte sagen: der abstrakte Tausch paradoxerweise als das einzige zivilisatorische Element einer Raubrittergesellschaft. Als Ersatz für die dunklen Primärtriebe und atavistischen Gräuel. Geld als Objektivierungsmechanismus. Ich finde Barabas darin als eine moderne Figur, indem er sich über das Geld definiert und nicht über Liebe, Eifersucht, Gier (dass die eine Rolle spielen und ihn auch mit zerstören, z. B. die Liebe zu seinem Sklaven, das steht auf einem anderen Blatt), das er für Waren bekommt und das er für Waren ausgibt, wobei er sich noch beklagt, dass Geld zuviel Raum einnimmt, Diamanten und Perlen wären besser. Die Macht im Stück verfährt völlig willkürlich. Wenn der Türke Tribut will, nimmt der Christ es sich vom Juden. Er borgt nicht, er zahlt keine Zinsen, er stiehlt es sozusagen direkt und sofort, ohne Umwege. Es wird eine Zivilisationsstufe übersprungen, und die Primärtriebe übernehmen die Macht, es wird einfach von dem genommen, der es hat, ohne Verträge, ohne Verrechtlichung. Insofern ist das Stück eins der anarchischsten und wildesten, die ich kenne, weil es nichts Rationales mehr gelten lässt, keine moralischen Überlegungen (auch die Religion dient nicht als ethisches Korsett). Das Recht gilt nicht, nicht einmal das Recht des Stärkeren, nur List und Tücke und das Ressentiment (übrigens auch gegen die Türken, also die Muslime), es wird in diesem Stück nicht geplant, es wird immer nur gemacht.

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Letzte Änderung: 03.01.2012
Webmeisterin+Redaktion: Mag. Ditta Rudle
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